Hamburg, November 1948
Der Begriff der Kultur – (eine der großen, dringenden Fragen, die mich immer wieder beschäftigt, obschon sie meine Denkkraft immer sehr bald übersteigt) – Kultur, Kunst, Politik … Eines geht sicher nicht: daß man Kultur reduziert auf Kunst, daß ein Volk sich einredet, es habe Kultur, weil es Sinfonien hat.
Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, daß Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person. Nennen wir es, was diese Menschenart auszeichnet, eine ästhetische Kultur. Ihr besonderes, immer sichtbares Kennzeichen ist die Unverbindlichkeit, die säuberliche Scheidung zwischen Kultur und Politik, oder: zwischen Talent und Charakter, zwischen Lesen und Leben, zwischen Konzert und Straße. Es ist eine Geistesart, die das Höchste denken kann (denn die irdische Schwere werfen sie einfach über Bord, damit der Ballon steigt) und die das Niederste nicht verhindert, eine Kultur, die sich strengstens über die Forderung des Tages erhebt, ganz und gar der Ewigkeit zu Diensten. Kultur in diesem Sinn begriffen als Götze, der sich mit unsrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistung begnügt und hintenherum das Blut unsrer Brüder leckt, Kultur als moralische Schizophrenie ist in unserem Jahrhundert eigentlich die landläufige. Wie oft, wenn wir einmal mehr von Deutschland sprechen, kommt einer mit Goethe, Stifter, Hölderlin und allen andern, die Deutschland hervorgebracht hat, und zwar in diesem Sinn: Genie als Alibi –.
Wenn Menschen, die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleiche Worte sprechen wie ich und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich – wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden und Dinge zu tun, die wir den Menschen unsrer Zeit, ausgenommen die pathologischen Einzelfälle, vorher nicht hätten zutrauen können, woher nehme ich die Zuversicht, daß ich davor gesichert sei?
In einer seiner jüngsten Reden hat Winston Churchill, in bezug auf den deutschen Eroberer von Rundstedt, den Rat erteilt, man solle jetzt das Geschehene endlich geschehen sein lassen. Das ist, wenn ich auch den Zweck dieser Amnestie leicht durchschaue, die kürzeste Formel für das, was mich bestürzt. Leider ist es ja so, daß das ’Geschehene‘, noch bevor es uns wirklich und fruchtbar entsetzt hat, bereits überdeckt wird von neuen Untaten, die uns in einer willkommenen, einer fieberhaften und mit verdächtigem Eifer geschürten Empörung vergessen lassen, was Ursache und Folge ist; nicht nur in Deutschland, auch bei uns reden wir gerne vom Heute, als stünde kein Gestern dahinter. Das Geschehene endlich geschehen sein lassen! Besonders obszön empfinde ich es, wenn man es mit Goethischem kleidet: mit dem schöpferischen Schlaf des Faust, mit dem heilenden Segen des Vergessens usw. Das alles darf der Erschütterte sagen, nur der Erschütterte. Zwar meinen wir, das ’Geschehene‘ zu wissen, und zwar, wie jedermann sagt, zur Genüge. Ich habe noch wenige Erschütterte getroffen, so erschüttert, daß der Chor der antiken Tragödie einschreiten würde mit seinem: Genug! Jeder sagt: Das weiß man nun. Wenn man an Ort und Stelle steht, weiß man, daß man es durchaus nicht weiß; das Unvorstellbare entzieht sich unserem Gedächtnis, und das ist gut so, aber einmal, glaube ich, muß das Entsetzen uns erreichen – sonst gibt es kein Weiter.
Was hat, so sagt man, Kunst mit Politik zu tun? Und unter Politik versteht man nicht, was die Polis angeht, das Problem, wie die Menschen, da keiner doch allein bestehen kann, zusammen leben, das Problem der gesellschaftlichen Ordnungen, dessen Lösung immer den Anfang der Kultur darstellte, die Kultur gewährleistete, wenn nicht in wesentlichen Graden sogar ausmachte, oder den Untergang einer Kultur verursachte – unter Politik versteht man schlechterdings das Niedrige, das Ordinäre, das Alltägliche, womit sich der geistige Mensch, der glorreiche Kulturträger, nicht beschmutzen soll. Der Kulturträger, der Kulturschaffende. Es ist immer wieder auffällig, wieviel deutsche Menschen (besonders deutsche) unablässig besorgt sind, geistige Menschen zu sein; vor allem, wie sie besorgt sind: indem sie von Literatur, von Musik, von Philosophie sprechen. Und Schluß. Auffällig ist die Angst, ein Spießer zu sein; man wird kaum einem Deutschen begegnen, der dieses Wort nicht schon im ersten Gespräch braucht. Spießer, gemeint als Gegenstück zum geistigen Menschen. Wenn sie Gottfried Keller auf der Straße oder in seiner Staatskanzlei oder gar an einem Schützenfest gesehen hätten, ich bin überzeugt, daß die allermeisten, die dieses ominöse Wort in den Mund nehmen, ihn als Spießer klassifiziert hätten, als das Gegenteil eines geistigen Menschen, eines Kulturträgers, eines Kulturschaffenden, weitab von der Elite. In der Tat empfinden wir, was den Begriff der Kultur angeht, einen nicht unbedeutenden Unterschied zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Denken, das hier vielleicht am selbständigsten ist gegenüber dem deutschen. Das jedem Volk unerläßliche Gefühl, Kultur zu haben, beziehen wir kaum aus der Tatsache, daß wir Künstler haben; zumindest empfinden wir die Begabung eines Gotthelf (um es bei einem bewenden zu lassen) nicht als Entschuldigung dafür, daß es in seinem Lande auch Verdingbuben gibt, eine hanebüchene Einrichtung in bezug auf das Soziale. Unter Kultur verstehen wir wohl in erster Linie die staatsbürgerlichen Leistungen, die gemeinschaftliche Haltung mehr als das künstlerische oder wissenschaftliche Meisterwerk eines einzelnen Staatsbürgers. Auch wenn es für den schweizerischen Künstler oft eine trockene Luft ist, was ihn in seiner Heimat umgibt, so ist dieses Übel, wie sehr es uns persönlich trifft, doch nur die leidige Kehrseite einer Haltung, die, von den meisten Deutschen als spießig verachtet, als Ganzes unsere volle Bejahung hat – eben weil die gegenteilige Haltung, die ästhetische Kultur, zu einer tödlichen Katastrophe geführt hat, führen muß.
»Natürlich war er ein Schwein«, sagt jemand: »aber ein Mensch von seiner Begabung – seine Begabung geben Sie ja selber zu! – und überhaupt, ich bitte Sie, was hat Kunst mit Politik zu tun?«
Es gibt leider kein menschliches Wesen, das nur Kunst macht – und wenn er eines Tages, um seine Kunst machen zu können, beispielsweise eine Unterschrift gibt, die andere an den Galgen liefert, ehemalige Freunde vielleicht, zumindest Menschen, die ihn keineswegs bedroht haben, so interessiert mich seine Begabung nur teilweise, auch wenn er versichert, daß er sich ’grundsätzlich‘ nicht in Politik einmische und daß er ’nur‘ ein Künstler sei, ein ’Kulturschaffender‘.
Wer sich nicht mit Politik befaßt, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.
In diesen Zusammenhang gehörte auch der literarische Begriff der Tendenz, die, wie man allenthalben hört, mit Dichtung nichts zu tun hat – Tendenz als eine Deutung der Verhältnisse, die der Deutung, welche der Leser hat, nicht entspricht und somit eine ’Entstellung‘ genannt werden muß, somit nicht als reine Dichtung bezeichnet werden kann – denn von reiner Dichtung sprechen wir erst dort, wo die Tendenz uns als solche nicht mehr bewußt ist, wo die Deutung, die ja immer vorhanden ist, sich mit der unseren deckt, indem sie die unsere geworden ist, und wo wir zu jenem reinen Genuß kommen, der darin besteht, daß ich meine Ansicht als die einzigmögliche, die wahre, die absolute sehe …
Die Heidenangst, ein Spießer zu sein, und das Mißverständnis, das darin schon enthalten ist, die Bemühtheit, sich in den Sphären des Ewigen anzusiedeln, um auf der Erde nicht verantwortlich zu sein, die tausend Unarten voreiliger Metaphysik – ob das für die Kultur nicht gefährlicher ist als alle Spießer zusammen?