Frankfurt, November 1948

Begegnung mit Thornton Wilder – also mit dem Mann, der meine jugendliche Theaterliebe, nachdem sie ein Jahrzehnt gänzlich begraben lag, dermaßen wieder erweckt hat, daß ich ihr wahrscheinlich für die restliche Dauer dieses Lebens verfallen bin … Peter Suhrkamp, der uns vorstellt, verschweigt nicht, daß ich aus Zürich stamme (wo Wilder übrigens Our Town geschrieben hat) und mich ebenfalls mit dem Schreiben von Stücken befasse.

»Oh«, sagt Wilder: »Bauernstücke?«

Probeschüsse sind dazu da, danebenzutreffen. Wir setzen uns zum Mittagessen. Ein jüngerer Hamburger ist auch dabei. Nun? Etwas befangen knabbere ich von dem Brot; der Langverehrte, was wird er zum besten geben? Gentleman, Güte, Witz, Kennerschaft nach vielen Seiten, Herzlichkeit, Grazie des Gesprächs, Offenheit, Weltmann mit Kinderaugenglanz, Humanist, das Geistreiche und Funkelnde als keusche Verkleidung reinen Ernstes, Amerikaner, also sehr unmittelbar, Puritaner, also sehr höflich – und was man sonst an Wilder rühmt, ich kann es mir denken. Vorläufig löffeln wir die Suppe. Ich bin zum Bersten bereit, einen unsrer Lehrmeister kennenzulernen, gierig schweigsam. Da, vielleicht hat man meine Befangenheit verspürt, sagt der Herr aus Hamburg zu mir:

»Was mich so erstaunt, wissen Sie, daß Sie als schöpferischer Mensch (brr!) in Ihrer spießigen Schweiz überhaupt schaffen können –.«

Was jetzt?

(Das Kind eines Nachtwächters verbraucht tausend Tage seines Erdenlebens, um seinen Nachbarn zu sagen, daß sein Vater, den man so selten bei Tage sieht, kein nächtlicher Hühnerdieb sei, wie sie immer wieder behaupten, sondern ein Nachtwächter. In der Tat werden immer wieder Hühner gestohlen, das Kind hat es nicht leicht. Wie löblich, sagen die Leute, daß du als Kind eines Hühnerdiebes selber kein Hühnerdieb bist! Nach tausend Tagen hat das Kind es satt, nimmt den Wanderstab, um andere Menschen kennenzulernen als diese leidigen Nachbarn, und pilgert zu einem Weisen, den es lange schon verehrt. O ja, es findet ihn, verneigt sich und schweiget, bis einer von eben jenen Nachbarn sagt: Wie löblich, daß du als Sohn eines Hühnerdiebes selber kein Hühnerdieb bist! Sagt das arme Kind: Mein Vater ist kein Hühnerdieb. Es muß das sagen; es muß, obschon es ihm, weiß der Teufel, zum Hals heraushängt. Sagt der höfliche Nachbar: Ich kenne deinen Vater nicht, allein man sagt, er sei ein Hühnerdieb. Sagt das Kind: Kümmere dich um eure eignen Hühnerdiebe. Denn es wird ärgerlich, da es doch den Weisen hören will. Was aber tut der Weise? Er wundert sich, zumal er den Anfang dieses unerquicklichen Gesprächs offensichtlich überhört hat, offensichtlich nicht erwartend, daß andere vor ihm das Wort ergreifen; er wundert sich über das Nachtwächterkind, daß es so unhöfliche Worte spricht: Kümmere dich um eure eignen Hühnerdiebe! Sagt der höfliche Nachbar: Ich anerkenne ja, daß du eine löbliche Ausnahme bist. Sagt das Kind: Ich pfeife auf deine Anerkennung. Gewiß, sagt der andere, auch wir haben Hühnerdiebe. Sagt das Kind: Das ist bekannt. Allein, sagt der andere, bei uns stellen die Hühnerdiebe stets eine Ausnahme dar. Sagt das Kind: Darüber haben wir schon tausend Tage lang gesprochen. Oh, sagt der andere, wie kannst du überhaupt sprechen, wo du den Hunger nicht erlebt hast? Sagt das Kind: Dein Hunger ist kein Grund, meinen Vater anzurempeln. Nur wer den Hunger kennt, sagt der andere, nur wer den Hunger kennt … Unterdessen, es ist eine kostbare Stunde vergangen, wischt der Weise seinen sprachlosen Mund, wahrlich nicht gewohnt, daß er eine ganze Szene lang keinen anderen Text hat als die puritanische Floskel: »Very interesting.«

Erst draußen, den Kopf schüttelnd, der in einer Stunde so viel Köstliches zu verschenken vermöchte, sagt er:

»This young man – no!…«

Damit meint er das Kind des Nachtwächters, das tausend Tage und diese Stunde verbraucht hat, sich am Ärgerlichen zu ärgern. Eine Rakete, die ins Wasser gefallen ist, läßt sich nicht mehr anzünden! das weiß das Kind … Wie recht du hast! sagt nun der andere und wischt sich plötzlich eine durchaus ungefragte Träne: Wir alle sind Hühnerdiebe, wir alle sind Hühnerdiebe! –)

Das war die Begegnung mit Thornton Wilder.

Tagebuch 1946-1949
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