1949

Neujahrstag 1949

Das Klima der Sympathie – wie sehr wir darauf angewiesen sind! Es zeigt sich, sobald uns eine Sympathie, die lang vorhanden gewesen ist, entzogen wird. Da ist es, als habe man keine Luft unter den Flügeln.

Frage:

Ist die Sympathie, die uns das Gefühl gibt, fliegen zu können, nichts als eine freundliche Täuscherei, eine schonende Unterlassung der Kritik, so, daß das andere Klima – dieses Klima ohne Sympathie – als das gültigere anzusehen ist, das einzig gültige?

 

Das Ansteckende: es genügt eine einzige Sympathie im ganzen Kreis, und wenn diese gekündigt wird, kündigt der ganze Kreis, der nichts zu kündigen hat.

(Wie ihr Blick, musternd, dich verläßt.)

Gewiß, man kann die Achseln zucken, sich dorthin wenden, wo Sympathie uns erwartet, oder neue erobern – das alles ändert nichts an dem Schrecken, wie verloren man ist, wo uns die Sympathie entzogen wird.

Verloren: ohne Schutzengel.

 

Sympathie nicht als Unterlassung der Kritik. Aber: Sympathie hat Geduld, die Geduld der Hoffnung, sie behaftet uns nicht auf einer einzelnen Gebärde, die ungehörig ist, vorlaut, tappig, eitel, rücksichtslos, selbstgerecht; sie läßt uns stets eine weitere Chance … Anders der Partner, der keine Sympathie empfindet: er verbucht, was ist, und gibt keinen Vorschuß, er ist aufmerksam und gerecht, und das ist fürchterlich. Sieht er uns richtiger? Wir werden, wie Polonius es mit den fahrenden Schauspielern tut, nach unserem Verdienst behandelt. Hamlet sagt: Potz Wetter, Mann, behandelt sie besser, viel besser; behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?

Auch umgekehrt zu bedenken:

Wenn wir keine Sympathie haben, einem Menschen gegenübersitzen wie Geschworene, unvoreingenommen – wie verdächtig, wie anrüchig, wie unleidig jeder Mensch wird, wenn er fühlt, daß er unsere Gunst nicht hat, und also allein zu seinen Gunsten redet.

 

Das Gefühl, keine Luft zu haben, so, daß die Stimme nicht trägt, jedes Wort fällt auf den Boden und zerschellt, und wenn man sich verabschiedet, das Gefühl, daß man zuviel gesprochen habe, denn in der Tat ist jedes Wort zuviel gewesen, das Gefühl, in Scherben zu gehen, das Gefühl, zu bluten.

 

Die unbewußte, selbstverständliche Voraussetzung, ohne die man keinen Satz schreiben könnte, die Voraussetzung, daß man irgendwo, und wäre es noch so ferne, von einer Sympathie geschützt wird, ist das bereits Narzißmus?

 

Erinnerung an einen französischen Film, der schildert, wie einem Mann (Michel Simon) plötzlich die Sympathie entzogen wird, die er jahrelang im Quartier genossen hat; plötzlich, ohne daß er sich verändert hätte, fällt ein Verdacht auf ihn – oder man könnte auch sagen: plötzlich hat ihn der Schutzengel verlassen, und nun soll er sehen – er sieht: sein Gepäck, seine ganze Habe auf der Straße, er sieht die Nachbarn alle, die unter ihren Türen stehen oder aus den Fenstern gaffen, alle halten ihn für den Mörder, einer stellt ihm das Bein, er wehrt sich, keiner hilft ihm, andere spielen Fußball mit seiner Habe, plötzlich ist er wie ein Stier in der Arena, dessen Blut sie wollen, halb besessen und halb scherzhaft treiben sie ihn auf das Dach, bis er zu Tode stürzt –.

Das Mysterium des Hasses.

(Antisemitismus.)

Erzählung eines Bekannten, der schon mehrmals aus Versehen verhaftet worden ist, ein junger Arzt, ein empfindsamer und mit viel Gewissen belasteter Mensch, verhaftet und abgeführt von vier Gendarmen: durch eine Gasse von Menschen, die zwischen Neugier und Abscheu halb drängen, halb zurückweichen, und wie er versichert, daß er Doktor sei und von einem Kranken erwartet werde, fällt für die Gendarmen der letzte Zweifel, daß sie ihn endlich haben, den gesuchten Kindermörder –.

 

Der Schutzengel: die Sympathie, wir brauchen ihn immerzu. Wir haben ihn als Kind, sonst wären wir längst überfahren, wir wachsen damit auf, wir verlassen uns auf ihn – und dabei ist es nur ein Hauch, was uns schützt, was uns von dem Ungeheuerlichen trennt, von dem Rettungslosen, wo nichts mehr für dich zeugt, kein eignes Wort, keine eigne Tat …

Tagebuch 1946-1949
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