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Der Keller schien heißer und heißer zu werden,
aber vielleicht lag das nur an Davids Fieber und an seinem Durst.
Sabine hatte ihm bereits die ganze Literflasche Wasser eingeflößt,
aber er fühlte sich immer noch ausgedörrt wie nach einem
Wüstentrip. Das Problem war, er durfte Sabine jetzt nicht zum
Wasserholen schicken. Verließ sie diesen Raum, war der Bann
gebrochen, und sie würde wieder wissen, was aus ihrer Sicht zu tun
war: David zu töten, damit er sie nicht ans Messer liefern
konnte.
Sabine hatte geredet und geredet, und David hatte
bislang nicht viel tun müssen, um den schier endlosen Strom an
Geständnissen nicht versiegen zu lassen. Jemand wie Sabine machte
Therapien, und zwar offenbar eine nach der anderen, doch nur aus
dem einen Grund: um wieder und wieder ihre Probleme den Leuten zu
beichten, die verpflichtet waren, ihr zuzuhören. Ihr das zu geben,
was sie von anderen nicht bekam: Liebe, Mitleid, Fürsorge. So bekam
sie wenigstens für kurze Zeit ein Gefühl für sich, ihre
Persönlichkeit, ihre Identität.
Und so waren sie in epischer Ausführlichkeit
Sabines Kindheit durchgegangen, die sie im Schatten eines älteren
Bruders verbracht hatte. Sabines Jugend, in der sie Pickel bekommen
hatte und dick geworden war und deshalb noch weniger geliebt wurde
als in ihrer Kindheit. Sabine als junge Erwachsene, die den Sex
entdeckt hatte und damit eine Möglichkeit, Männer zumindest für
kurze Zeit für sich einzunehmen. Sabine als Endzwanziger, als sie
feststellte, dass die Männer, die sie wollte, sie nicht liebten,
sondern ihre übertriebene Willigkeit nur ausnützten. Sabine als
Mittdreißigerin, als sie ihre sichere Beamtenposition im
Finanzministerium aufgab, weil ihr ein Therapeut eingeredet hatte,
sie sei zur Künstlerin berufen. Sabine als Enddreißigerin, als ihr
langsam schwante, dass dieser Tipp ein schlechter gewesen war:
Niemand hatte ihre künstlerischen Erzeugnisse ausstellen oder
kaufen wollen, und die Galerieszene erwies sich sowieso als total
korrupt. Sabine als Anfangvierzigerin, fast pleite, deren Eltern
ihr widerwillig Geld zum Überleben überwiesen, jeden Monat eine
Summe, die Sabine als viel zu klein für ihre Bedürfnisse erachtete.
Und nun, langsam aber sicher, kamen sie zur Gegenwart oder
vielmehr: der sehr nahen Vergangenheit.
Janosch. Wie sie ihn kennen gelernt hatte. Wie er
sie dazu gebracht hatte, seine Handlangerin zu werden – denn dass
sie nie mehr gewesen war, das verstand sich für David von selbst.
Sabine eine Serienmörderin, die jede Tat bis ins Kleinste plante
und keinerlei verwertbare Spuren hinterließ? Dafür war sie nicht
intelligent genug.
»Janosch«, sagte David. Seine Kehle fühlte sich an
wie Sandpapier. »Wie habt ihr euch...«
Sabine saß jetzt neben ihm, mit gekreuzten Beinen.
Er sah zu ihr hoch, obwohl das in seiner seitlich liegenden
Position anstrengend war (denn die Fesseln hatte sie ihm trotz
aller gewährten Vertraulichkeiten nicht einmal gelockert), damit
sie nur ja nicht glaubte, sein Interesse an ihrer Person ließe auch
nur für Sekunden nach. Sie antwortete nicht, dachte offenbar
darüber nach, wie viel sie ihm erzählen durfte. Dann fiel ihr wohl
ein, dass er diese Gefangenschaft ohnehin nicht überleben würde,
denn ein seltsam eitles Lächeln umspielte plötzlich ihren
Mund.
»Es war, als ich das erste Mal ein Seminar
besuchte«, begann sie und sah dabei wieder schmallippig vor sich
hin. »Er hat mich in Gersting in der S-Bahn angesprochen, als ich
am letzten Seminartag nach Hause fuhr. Warum willst du das
wissen?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
Dann, David konnte es sehen und atmete innerlich
erleichtert auf, entspannte sich ihr Gesicht, siegte der Wunsch,
über Janosch und sie zu sprechen.