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Mittwoch, 16. 7., 22.33 Uhr
Es war stockdunkel, als Mona und Bauer endlich
wieder ins Auto stiegen. Auch diesmal versuchten die Fernsehteams
und Zeitungsjournalisten ihnen den Weg zu versperren – erfolglos.
Mona fuhr vorsichtig den holprigen Weg entlang, die Scheinwerfer
tasteten sich durch das Wäldchen, das das Haus der Plessens von der
Landstraße abschirmte. Als wollten sie sich verstecken, dachte
Mona. Aber vor wem und warum?
»Was hat sie gesagt?«, fragte Mona.
»Ich weiß nicht«, sagte Bauer zögernd. Sie sah ihn
kurz von der Seite an; sein junges Gesicht wirkte zum ersten Mal
seit Wochen bei aller Müdigkeit relativ entspannt. Das Gespräch mit
Frau Plessen schien ihm gut getan zu haben. Was nicht ganz der
Zweck einer Vernehmung war, aber vielleicht in diesem Fall ein
positiver Nebeneffekt. Falls etwas dabei herausgekommen war.
»Ich weiß nicht«, wiederholte Bauer.
Also nicht, dachte Mona.
»Sie ist irgendwie...«
»Ja?«
»Unglücklich. Glaube ich.«
Unglücklich. Tja, das war kein Wunder. Wenn das das
ganze Ergebnis war. »Na ja«, sagte Mona vorsichtig, »das liegt ja
auf der Hand. Dass es ihr nicht gerade gut geht, meine ich.«
»Nein, nein. Sie ist generell unglücklich. Das war
sie schon, bevor das mit ihrem Sohn passiert ist.«
»Du meinst, die Ehe und all das?« Sie ließen das
Wäldchen hinter sich und hatten vor sich eine weite, flache,
mondbeschienene Landschaft. So weiß und starr wie Eis. Mona
bremste. Bauer sah erstaunt zu ihr herüber, als sie die Zündung
ausschaltete, die Wagentür öffnete und ausstieg. Schließlich machte
er es ihr nach und stieg ebenfalls aus.
Tiefe Stille lag über der Landschaft. Ganz entfernt
hörten sie das Röhren eines hochgetunten Autos, sonst gab es kein
Geräusch. »Wahnsinn«, sagte Bauer mit atemloser Stimme. Mona sah
zum Himmel hinauf, auf dem ein schartig aussehender Vollmond alles
überstrahlte, selbst das Licht der Sterne. Zu Hause warteten Anton
und Lukas, aber Mona machte sich keine Sorgen. Lukas schlief
wahrscheinlich längst. Er war vierzehn Jahre, er brauchte seine
Mutter nicht mehr so sehr, wie noch vor zwei Jahren. Und er hatte
einen guten Vater.
Auch wenn gewisse Behörden …
Sie hörte auf, daran zu denken. Einfach so, ganz
mühelos. Alles schien plötzlich sehr weit weg zu sein. Mona lehnte
sich an die warme Kühlerhaube, zündete sich eine Zigarette an und
hielt Bauer die Schachtel hin. Er lehnte sich neben sie und nahm
eine Zigarette. Schweigend rauchten sie nebeneinander in dieser
unwirklichen Atmosphäre, die dazu verführte, alles Gewohnte zu
vergessen. Scheinbar unverbrüchliche Überzeugungen mündeten in neue
Fragen, Wege schienen sich aufzutun, von deren Existenz sie nichts
geahnt hatte.
Ich bin wie auf Droge, dachte Mona plötzlich. Sie
warf die Zigarette auf den staubtrockenen Boden, und trat sie
sorgfältig aus.
»Lass uns weiterfahren«, sagte sie zu Bauer, der
nickte und gehorsam auf der Beifahrerseite einstieg. Langsam fuhren
sie auf die Landstraße zu, die sie zurückbringen würde in ihren
Alltag.
»Ihr habt euch ganz gut verstanden, oder?«, fragte
Mona in beiläufigem Ton.
»Ja«, sagte Bauer. Mona bog auf die Landstraße und
gab Gas.
»Du hast gesagt, sie ist unglücklich. Ganz
allgemein. Warum?«
»Sie hat gesagt, sie fühlt sich einsam hier
draußen.«
»Einsam?«
»Ja. Sam – also der Sohn -, der hatte sein eigenes
Auto und seine Freunde und war immer unterwegs.«
»Aber ihr Mann ist doch immer hier. Seine Seminare,
oder wie man das nennt, die finden doch hier statt.«
»Ja, die finden in einem anderen Trakt im Haus
statt. Aber davon ist er völlig in Anspruch genommen. Und sie hat
eben nichts zu tun. Für den Haushalt haben sie eine Putzfrau und
eine Köchin.«
»Sie langweilt sich.«
»Ja. Sie sagt, hier gibt’s ja auch nichts, um sich
abzulenken. Sie sagt, Gersting ist total, na ja, tot. Hübsch, aber
tot.«
»Patrick, hat sie irgendwas über den Mord gesagt?
Beziehungsweise über beide Morde? Irgendwas?«
Sie fuhren durch Gersting, diesen unheimlichen,
tatsächlich leblosen Ort. Mona sah nirgendwo ein Licht brennen,
dabei war es doch noch nicht spät. Vielleicht gingen Bauern
tatsächlich so früh ins Bett, wie es das Sprichwort von ihnen
behauptete.
»Sie weiß nicht mehr als das, was sie uns schon
gesagt hat. Sagt sie. Die Martinez kennt sie nicht mal vom Sehen.
Sie hat nichts zu tun mit seinen Patienten.«
»Verdammt«, sagte Mona. »Ich kann mir nur
vorstellen, dass es einer von denen war. Einer von seinen, na, den
Teilnehmern seiner Seminare. Aber da gibt’s so viele, da ermitteln
wir uns tot.«
»Einer wie Sonja Martinez? Einer der wegen
irgendwas sauer war, was Plessen gesagt hat?«
»Ja. Er hat ziemlich komische Ansichten. Da könnte
durchaus einer was falsch verstanden haben.«
»Und der rächt sich jetzt?«
»Scheint mir logisch zu sein. Und weißt du, was das
Schlimmste ist? Wir müssen richtig schnell sein. Denn der hat noch
einiges vor.«