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Mittwoch, 23. 7., ca. 6.05 Uhr
Auch Mona lag wach im Bett, aber aus ganz anderen
Gründen. Neben ihr schnarchte Anton, der Mann, der, zusammen mit
ihrem gemeinsamen Sohn, ihre Familie war, denn eine andere gab es
nicht. So einfach war das, wenn man keine Wahl hatte. Mona dachte
an Lin, ihre Schwester, die immer für sie da gewesen war, aber
Anton von Anfang an abgelehnt hatte. Kunststück, Lin war nicht bei
einer schwer kranken Mutter in einem Glasscherbenviertel
aufgewachsen, sondern beim gemeinsamen Vater in einer hübschen
Gegend ohne Jugendbanden. Sie konnte es sich leisten, jemanden wie
Anton abzulehnen. Anton hatte Mona damals beschützt. Er war einer
der Leader ihres Viertels gewesen und sie seine Freundin, und
deshalb durfte niemand anders sie anfassen, und das war gut
gewesen. So hatte Mona ihre Jugend ausgehalten, ihre Mutter, der es
immer schlechter ging, ihre eigenen Schuldgefühle, weil sie nicht
helfen konnte, sondern stattdessen weit, weit weg wollte. Lin
wusste nicht, wie das war. Sie hatte sich einen Mann wählen können,
ganz frei, ohne Druck von außen.
Mona und Anton würden nie frei voneinander
sein.
Gestern hatten Mona und Lin miteinander
telefoniert. Lin hatte sie auf dem Handy angerufen, obwohl sie
Monas und Antons Festnetznummer hatte. Das war Absicht
gewesen.
Wohnst du immer noch bei dem?
Hör schon auf, Lin. Du weißt genau, wie Anton
heißt. Du hast auch Antons Nummer.
Anton. Lin hatte den Namen geradezu
ausgespuckt. Der macht dich kaputt mit seinen
Geschäften.
Lukas braucht ihn. Und ich auch.
Lukas braucht was ganz anderes.
Stabilität.
Ach was, hatte Mona gesagt. Lukas braucht
Anton. Und perfekte Väter gibt’s eben nicht.
Daraufhin hatte sich Lin mit säuerlichem Unterton
verabschiedet, und zum ersten Mal hatte Mona kein schlechtes Gefühl
dabei gehabt. Sie und Anton waren bestimmt nicht perfekt, aber wer
war das schon? Lukas wurde jedenfalls von beiden geliebt, und das
war schon viel. Mehr als Mona je von ihren Eltern bekommen
hatte.
Mona reckte und streckte sich, während Anton sich
auf die andere Seite drehte und weiterschlief. Der Wecker zeigte
sechs Uhr zehn. Zu spät, um noch einmal einzuschlafen, zu früh um
aufzustehen.
Wir haben etwas übersehen.
Mona richtete sich auf, rieb sich die Augen. Im
Zimmer war es angenehm kühl und still. Den Verkehr der
Schleißheimer Straße hörte man hier nur als an- und abschwellendes
Grundrauschen, das man nach gewisser Zeit kaum noch wahrnahm. Mona
stellte ihre nackten Füße vorsichtig auf den Holzboden und stand
auf. Barfuß schlich sie in die Küche, machte sich einen Kaffee,
nahm sich ihre Jacke von einem der Stühle und ging hinaus auf die
Terrasse, die bereits von den ersten Sonnenstrahlen gewärmt wurde.
Mona setzte sich in eine windgeschützte Ecke und trank in kleinen
Schlucken den heißen schwarzen Kaffee.
Wir haben etwas übersehen.
Aber was? Sie war gestern Abend alle Protokolle
durchgegangen und hatte nichts gefunden. Sie hatten die richtigen
Fragen gestellt, an den richtigen Stellen nachgehakt, die wichtigen
Alibis überprüft. Und trotzdem etwas übersehen. Sie spürte das
einfach. Etwas stimmte nicht. Ein leiser Wind erhob sich, Mona
bekam eine Gänsehaut. Sie kuschelte sich in ihre Jacke. Es würde
wieder ein heißer Tag werden, aber für abends waren starke Gewitter
mit Abkühlung angesagt. Langsam stand sie auf und ging in die
Wohnung zurück. Sie duschte und richtete anschließend das Frühstück
für Anton, Lukas und sich selbst. Auch als alle am Tisch saßen,
grübelte und grübelte sie, sodass Anton und Lukas Witze über ihre
strenge, in sich gekehrte Miene machten.
»In einer Woche sitzen wir im Flugzeug«, sagte
Anton, und seine Stimme klang lauernd.
»Ja klar«, sagte Mona. Was würde in einer Woche
sein? Sie hatte keine Ahnung.
Im Auto, auf dem Weg ins Dezernat, klingelte ihr
Handy. Sie schaltete die Freisprechanlage ein. Es war Herzog, der
Chefpathologe.
»Was ist?«, fragte Mona zerstreut, während sie
versuchte, die Fahrspur zu wechseln.
»Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll«,
sagte Herzog. Er klang zögerlich und unsicher, gar nicht wie er
selbst. Mona war sofort alarmiert. »Was ist los?«, fragte
sie.
»Also, um es kurz zu machen: Plessen... Ich habe
seine DNS mit der seines angeblichen Sohnes verglichen.«
»Wie bitte?«
»Seine DNS. Ich habe sie verglichen.«
Mona glaubte immer noch, nicht richtig zu hören.
Aber Herzog gehörte nicht zu den Leuten, die Witze machten. »Sie
haben...«
»Ja.«
»Verdammt noch mal... Wie kommen Sie dazu? Und
warum weiß ich davon nichts?«
»Ja, es war... Ich war da etwas... eigenmächtig.
Ausnahmsweise. Wissen Sie noch, wie Sie mit den Plessens in der
Pathologie waren?«
»Ja. Sicher. Und?« Mona überholte einen Lastwagen,
der sich mit lang gezogenem Hupton rächte. Deshalb hörte sie Herzog
nur schlecht. »... dass er keinerlei Ähnlichkeit hat.«
»Was? Wer hat keine Ähnlichkeit mit wem?«
Sie hörte Herzog seufzen. »Der Vater mit seinem
Sohn. Wissen Sie, ich hatte schon mehrfach solche Fälle. Der Vater
denkt, er ist der Vater, aber er ist es nicht. Ich kann das
mittlerweile ganz gut sehen. Familienähnlichkeiten meine ich. Ich
kann das sehen, an den Knochen, an der Struktur des Gesichts. Und
da war keine. Nichts.«
»Das kann nicht wahr sein. Sie haben
einfach...«
»Ja. Es klappt ja schon mit ein paar Haaren.«
Mona war fassungslos. »Sie haben Plessen Haare
entnommen? Ohne seine Einwilligung? Ohne, dass wir davon
wussten?«
»Nun... ja. Und bevor Sie jetzt völlig ausrasten,
möchte ich Ihnen hiermit sagen, dass Fabian Plessen nicht der Vater
von Samuel Plessen ist.«
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Mona.
»Machen Sie mit dieser Info, was Sie wollen.
Aber...«
»Was wir wollen? Sie sind gut! Sollte das irgendwie
von Relevanz sein, können wir es vor Gericht nicht verwenden! Warum
haben Sie nicht vorher mit mir geredet? Wir hätten
Plessen...«
»Ja, ja, ja. Dieser Plessen war in Trauer. Da kann
man so was nicht fragen, finde ich. Also...«
»Haben Sie ihm ein paar Haare vom Sakko gezupft und
einfach so eine DNS-Analyse gemacht. Das ist... Das kostet doch
auch viel Geld!«
»Ja. Aber ich war mir sicher. Verstehen Sie, ich
war mir einfach sicher!«
»Warum haben Sie nicht mit mir geredet? Ich
verstehe das einfach nicht!«
Herzog wollte auch einmal Detektiv sein. Männer
waren so, dachte Mona. Manchmal hatten sie es satt zu
funktionieren, und fingen an zu spielen – auf Risiko natürlich,
sonst machte es ja keinen Spaß. Vielleicht war das manchmal gar
keine so schlechte Eigenschaft. Diesmal, immerhin, hatte sie
Bewegung in den Fall gebracht. Mona musste wegen einem Stau im
Paul-Heyse-Tunnel anhalten, Lärm überall, stickige Luft und
natürlich keine Klimaanlage in diesem alten gammeligen Dienstwagen.
Und jetzt Herzog, der einfach eine DNS-Analyse machte, die man
nicht verwenden konnte, es sei denn...
... man ging den offiziellen Weg und bat Plessen um
die Genehmigung. Die er nicht gut verweigern konnte, ohne sich
verdächtig zu machen. Die Sache war nicht koscher, aber auch nicht
wirklich – doch, sie war regelwidrig, aber …
Mona dachte fieberhaft nach, während sich Schweiß
auf Stirn und Nacken sammelte.
»Herzog? Sind Sie noch dran?«
»Ja«, krächzte es aus der Sprechanlage.
»Weiß das sonst noch jemand?«
»Nein, ich...«
»Okay, Sie behalten das für sich. Erst mal. Wir
checken, ob Samuel Plessen offiziell von Plessen adoptiert wurde.
Sollte das so sein, dann können wir uns das sparen. Die DNS-Sache
meine ich. Dann bleibt das unter Verschluss.«
»Gute Idee«, sagte Herzog, oder etwas Ähnliches,
denn sie stand noch immer im Tunnel und verstand ihn kaum.
»Ich melde mich bei Ihnen«, sagte Mona und
unterbrach die Verbindung. Ihr Gefühl, dass etwas nicht stimmte,
hatte sich bewahrheitet. Warum hatte Plessen nichts von der
Adoption gesagt? Oder wusste er gar nicht, dass Samuel nicht sein
Sohn war? Sie mussten Plessen noch einmal überprüfen, seine Person,
sein Umfeld, seine Vergangenheit. Plötzlich fiel ihr Forster ein.
Plessens Schwester ist tot, hatte Forster in der Konferenz
gesagt, aber dann nicht gewusst, ob Plessen Cousins, Cousinen,
Nichten oder Neffen hatte. Das konnte doch nur eins bedeuten:
Forster hatte diese Information über Plessens Schwester direkt von
Plessen erhalten, sie aber nicht über die offiziellen Kanäle
überprüft, weil er es für unwichtig hielt.
Plessen war auch kein zweites Mal befragt worden,
denn warum hätte er zu diesem Thema lügen sollen?
Ja, warum?
Sie hatten alles richtig gemacht, nichts
ausgelassen, Plessens direktes und indirektes Umfeld komplett
durchermittelt. Und dennoch verlief jede Spur im Nichts. Klar war
nur eins: Jemand, der Plessen so sehr hasste, dass er Menschen aus
seinem engeren Umkreis tötete, musste Plessen gut kennen. Und
Plessen musste ihn kennen. Alles andere war unlogisch. Plessen
hatte aber behauptet, keine Ahnung zu haben, wer der Täter sei. Das
war eigentlich unmöglich. Er musste etwas wissen, zumindest
aber etwas ahnen oder vermuten. Etwas, das er ihnen nicht
mitgeteilt hatte, obwohl ihm klar war, dass er damit Nahestehende
in Gefahr brachte.
Ja, das war es gewesen, was an der Sache nicht
stimmte, und Mona hätte sich ohrfeigen können, dass sie es nicht
früher durchschaut hatte. Plessen war so erstaunlich wenig
hilfsbereit gewesen, hatte so unglaublich wenig Engagement gezeigt.
Er hatte zum Beispiel kein einziges Mal von sich aus im Dezernat
angerufen, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen.
Alle Hinterbliebenen der Opfer von Gewaltverbrechen taten das,
manche auf entsetzlich penetrante Weise. Nur Plessen nicht. Plessen
hatte Trauer gezeigt, das schon, und die war, soweit man das
beurteilen konnte, auch echt gewesen. Was aber fehlte, war die Wut,
dachte Mona. Alle Hinterbliebenen wurden irgendwann von
ohnmächtiger, selbstzerstörerischer Wut gepackt. Zweifelten am Sinn
des Lebens, an der Gerechtigkeit der Welt, fühlten sich vom
Schicksal im Stich gelassen, begehrten auf, einsam und verzweifelt.
Mona dachte an die Vernehmung zurück. Plessens Frau Roswitha hatte
furchtbar geweint, ihr Mann war blass und still gewesen. Voller
Kummer. Aber nicht voller Zorn über den erlittenen Schmerz.
Das konnte damit zu tun haben, dass Plessen eben
doch wusste, dass er nicht Samuels Vater war. Ein Stiefsohn war
niemals dasselbe wie ein leiblicher Sohn, egal wie viel Mühe man
sich gab – der emotionale Unterschied existierte, vor allem, wenn
nicht beide Elternteile sich zu einer Adoption entschlossen hatten,
sondern einer das Kind mit in die Ehe gebracht hatte. Wenn Plessen
also Bescheid wusste – warum hatte er es ihnen nicht mitgeteilt? So
eine Information behielt man einfach nicht für sich, nicht in einem
Mordfall. Schließlich konnte man nicht ausschließen, dass Samuels
richtiger Vater eine Rolle in diesem Fall spielte. Mona fuhr in die
Tiefgarage und stellte ihr Auto auf dem Parkplatz ab. Im Lift
grüßte sie ein Kollege aus dem Dezernat 14, und sie nickte ihm
geistesabwesend zu. Sie musste das Protokoll über Forsters
Vernehmung checken. Und dann noch einmal mit ihm darüber
sprechen.
Plessen verschwieg ihnen etwas. Dessen war sich
Mona sicher.