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1986
Nach vielen ausgestandenen Ängsten begann es dem
Jungen zu gefallen, dass die Welt, die man sah, hörte und fühlte
nicht die einzige war, die es für ihn gab. Er lernte, auf
oberflächliche Weise zu funktionieren und alle Gefühle
abzuschalten, die dazu angetan waren, ihn zu frustrieren und zu
verunsichern.
Das war die dritte Stufe seiner Entwicklung. In der
ersten hatte er Menschen kaum wahrgenommen; sie schienen ohne jede
Bedeutung für ihn und sein Leben zu sein. In der zweiten Phase
wollte er Teil von ihnen werden – nicht aus Zuneigung oder
Erkenntnis, sondern aus purer Einsamkeit, die er in der Rückschau
als peinliche Schwäche brandmarkte. In der dritten wandte er sich
endgültig von ihnen ab, übernahm aber aus Selbstschutz
Verhaltensweisen, die er bei ihnen beobachtet hatte und von denen
er wusste, dass sie nicht nur gut ankamen, sondern ihm auch
Probleme vom Hals hielten. Schließlich war gerade jemand wie er
darauf angewiesen, nicht unangenehm aufzufallen. Ein Jahr lang
übernahm er als Agitator die Gestaltung der Wandzeitung, füllte das
Blatt anlässlich spezieller Feiertage der Republik mit Fotos und
Interviews, die er in seiner Freizeit erstellte. Es machte ihm
keinen besonderen Spaß, aber der Zweck war schnell erreicht. Es war
unfassbar leicht, Menschen zu täuschen. Sie sahen nur, was sie
sehen wollten, nämlich die pure Oberfläche. Man konnte ihnen alles
erzählen, solange es in ihr Bild passte. Sie dachten nie über ihre
jämmerlich engen Vorstellungen hinaus. Sie hatten keinerlei
Fantasie und waren unfähig, Visionen über diejenigen hinaus zu
entwickeln, die ihnen von der Partei vorgegeben wurden. Sie machten
sich darüber lustig, dass die Zustände im Land so sichtbar von dem
abwichen, was die Parolen verhießen, aber sie unternahmen nichts.
Der Junge verachtete sie.
Zu diesem Zeitpunkt begann er, Menschen vor sich
selbst als Schemen zu bezeichnen: Sie waren existent, spielten aber
in seiner Realität keine Rolle, in einer umfassenderen Wirklichkeit
allerdings sehr wohl. Er musste sich mit ihnen arrangieren und
griff zu einigen Tricks. Da er beispielsweise erkannt hatte, dass
die Schemen Widerspruch nicht zu schätzen wussten, gewöhnte er sich
bei Gesprächen ein ausdauerndes, scheinbar verständiges Nicken an
und vergaß dabei nicht, intensiven Blickkontakt zu halten. Er
sprach alle Schemen mit ihren Namen an, weil er merkte, dass sie
das mit individueller Wertschätzung verwechselten, und er gewöhnte
sich besänftigende Floskeln an, die nach dem Baukastenprinzip
beinahe auf jede Situation passten, in denen Misstrauen oder
Unstimmigkeiten drohten, die er nicht gebrauchen konnte (Wir
wollen doch alle dasselbe lautete eine, eine andere: Jede
Medaille hat ihre zwei Seiten). Er lobte viel und kritisierte
nichts. Diese Strategie einerseits und sein phänomenales Gedächtnis
andererseits halfen ihm, das elementare Gefühl der Fremdheit im
Beisein anderer zu vertuschen. An Mädchen, die ihm gefielen, kam er
auf diese Weise zwar nicht heran, aber immerhin machte ihn seine
Taktik des geringstmöglichen Widerstandes bei Lehrern und anderen
Autoritäten beliebt, und in der Folge ließen ihn selbst übel
wollende Klassenkameraden endlich in Ruhe.
Nur seine Mutter glaubte nicht an den sich
plötzlich brav und fürsorglich gebärdenden Sohn. Zu abrupt war der
Wechsel von einem unzugänglichen Einzelgänger mit hartem,
verschlossenem Gesicht zu einem konzilianten Ja-Sager, biegsam wie
Gummi, aber letztlich genauso unberechenbar. Aber da sie selbst zu
viele Geheimnisse hatte, um ihm noch gefährlich werden zu können,
war das dem Jungen egal. Und ihr, wenn sie ehrlich war, irgendwann
auch. Sie achtete darauf, dass der Junge seinen schulischen und
gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam, und ignorierte ihn
ansonsten wie einen lästigen Untermieter, dessen Kündigung man sich
gleichwohl nicht leisten kann. Dazu gehörte auch, dass sie
aufhörte, abends zu kochen, und stattdessen die paar Lebensmittel,
die es gerade zu kaufen gab, auf den Tisch stellte und es ihrem
Sohn überließ, sich daraus eine Mahlzeit zuzubereiten. Sie selbst
hatte seit ihrer innigen Beziehung zu hochprozentigem Schnaps, den
es glücklicherweise immer und überall gab, fast überhaupt keinen
Hunger mehr. Oft verschwand sie schon gegen sechs Uhr mit ihrem
Freund, der Flasche, im Elternschlafzimmer, das ihr nun ganz allein
gehörte.
Auch das ließ den Jungen kalt. Aus Essen machte er
sich nichts; manchmal nahm er, neben den Kantinenmahlzeiten in der
Schule, wochenlang nichts anderes zu sich als trockenes Brot. Das
war kein Problem für ihn. Nichts betraf ihn wirklich. Wenn ihn
jemand gefragt hätte, wonach er sich sehnte, hätte er es nicht
sagen können. Er wollte nichts und vermisste nichts. Es gab
niemanden, den er liebte, und niemanden, den er hasste. Emotional
war er wie ausgehöhlt: Leerstellen in Kopf und Herz, die okkupiert
wurden von Visionen geheimnisvollen Ursprungs, die von Monat zu
Monat konkreter und gewalttätiger wurden. Er unternahm nichts mehr
gegen die faszinierenden bedrohlichen Bilder. Sie hatten sich immer
als stärker erwiesen als seine Bemühungen, sich ihrem Einfluss zu
entziehen.
Dann passierte das, was er später vor sich selbst
als »den Zwischenfall« abzutun versuchte. An einem verregneten
Nachmittag pirschte der Junge mit dem Gewehr des alten Mannes über
der Schulter durch den dichten Erlengürtel, der den See umgab und
ihn von weitem fast unsichtbar machte. Nach zwei erfolglosen
Stunden, in denen nicht einmal eine Maus seinen Weg gekreuzt hatte,
lehnte er sich an einen Baumstamm und ließ das Gewehr auf einen
Wurzelstrang gleiten. Im selben Moment legte ihm jemand von hinten
die Hand auf die Schulter.
Der Schock des Jungen hätte nicht größer sein
können. Hier in seinem Revier durfte ihm niemand begegnen, hier war
er eine ganz andere Gattung Mensch als in der Öffentlichkeit, und
das würde jeder sehen, der ihn unbemerkt beobachtete. Langsam,
schreckgelähmt versuchte er, sich umzudrehen, und erhielt sofort
einen heftigen Schlag ins Genick, der ihn auf die Knie zwang.
»Was...«, wollte er sagen, als er ein Seil um den Hals spürte, das
dick und fest war wie ein Bootstau. Er griff sich mit einer
reflexhaften Bewegung an den Hals und spürte die harten,
unnachgiebigen Hanf-Fasern. Das Seil war fest verzurrt, er bekam
die Finger nicht dazwischen. Er öffnete den Mund, um zu schreien,
doch die Schlinge zog sich weiter zu, und aus seinem Schrei wurde
ein müdes Krächzen.
»Halt’s Maul, Arschloch«, zischte eine heisere
männliche Stimme, die der Junge nicht erkannte. Er kämpfte weiter,
bis er keine Luft mehr bekam. Er hatte Todesangst und gleichzeitig
war etwas in ihm, das die Situation – die Schmerzen, die
wahnsinnige Furcht – bis zum Exzess genoss. Schließlich ließ er
sich fallen, hörte auf, sich zu wehren. Für Sekunden verlor er das
Bewusstsein, sein Schädel fühlte sich riesig an und wie mit Gas
gefüllt. Er dachte, dass er gleich davonschweben würde und dass ihm
das nicht unrecht wäre.
»Steh auf! Bück dich nach vorn«, befahl die Stimme
immer noch flüsternd. Der Junge tat benommen, was ihm geheißen
wurde. Unsicher schwankend starrte er nach unten, auf den feuchten,
nach Pilzen und modrigen Pflanzen duftenden Waldboden. Der Mann
packte ihn grob an den Hüften und drehte ihn so, dass er direkt vor
dem Baum stand. »Leg deine Hände auf die Rinde!«
Der Junge tat es. Ein Schwall Regentropfen fielen
auf seinen Nacken, als seine Hände den Stamm berührten. Der Mann
streifte ihm die Hose herunter. Dann hörte der Junge, wie sich
hinter ihm der Mann ebenfalls ungeduldig seine Hose samt Unterhose
herunterriss. Eine Sekunde lang ließ er den Jungen los, dann packte
er ihn erneut. Ein schrecklicher, schier endloser Schmerz
durchzuckte den Jungen, als der Mann etwas heißes, dickes in seinen
After stieß. Er heulte auf.
»Sei still, sonst bist du tot!«
Aber der Junge konnte nicht aufhören zu stöhnen.
Ihm war, als würde er gepfählt werden, mit immer neuen, immer
tieferen Stößen bis tief in seinen Körper hinein. Er glaubte zu
sterben. Übelkeit überflutete ihn, und er spürte eine heiße
Flüssigkeit die Beine herabrinnen, vielleicht Blut, vielleicht
Urin. Sein Kopf stieß rhythmisch an den Baum, seine Hände krampften
sich am Stamm fest, während sich der Unbekannte an ihm verging.
Nach endlosen Minuten oder Stunden wurde er losgelassen. Er fiel in
sich zusammen wie eine der Gliederpuppen des Marionettentheaters,
das er vor Urzeiten mit seinen Eltern und seiner Schwester besucht
hatte.
»Dreh dich nicht um! Wehe, du kleines Schwein
drehst dich um!«
Die flüsternde Stimme schien sich zu entfernen,
doch der Junge rührte sich nicht. Den Kopf in den Waldboden
gedrückt, den Holzgeruch der Baumrinde in der Nase hielt er die
Augen geschlossen, als könnte er auf diese Weise alles ungeschehen
machen, was ihm widerfahren war. Schließlich zwang ihn der Schmerz,
sich zu bewegen. Er drehte sich mühsam auf den Rücken; die ganze
Region um seinen After brannte, aber sterben, das wusste er nun,
würde er daran nicht. Er sah sich vorsichtig um, aber sein Peiniger
schien verschwunden zu sein.
Er zog sich die Schuhe und die Hose aus, die wie
ein Strick um seine Knöchel gewunden war. Seine Beine waren
blutverschmiert und stanken nach Urin und fremder Samenflüssigkeit.
Der Junge erhob sich langsam wie ein Automat und zog auch seinen
feuchten, schmutzigen Pullover aus. Langsam ging er durch den Regen
zum Wasser. Der Boden war matschig, die Luft war kalt, aber das
spürte er kaum. Er wusste nur eins: Niemand durfte davon erfahren.
Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich irgendeine Form von
Aufsehen leisten konnten. Er wiederholte sein Glaubensbekenntnis
wie ein Mantra, das ihn stark machen sollte.
Ich darf nicht auffallen.
Ich darf nicht auffallen.
Ich darf nicht auffallen.
Das Wasser trug ihn; er schwamm weit hinaus.
Tauchte unter, um alles abzuwaschen: den Ekel, die Furcht, die
Verwirrung. Regentropfen trommelten auf seinen nassen Kopf, Böen
fegten über den grauen See und kräuselten die Wasseroberfläche. Es
dämmerte bereits. Er sah auf seine Uhr, es war halb sieben. Seine
Mutter würde jetzt bereits in ihrem Zimmer verschwunden sein. Sie
würde nichts merken. Niemand würde etwas merken, wenn er es
geschickt anstellte. Er watete ans Ufer zurück, zog seine nassen
Schuhe, seine verschmierten Hosen, seinen vom Regen schweren
Pullover an und stolperte nach Hause.
Seine Mutter merkte nichts. Hätte sie etwas
gemerkt, hätte er so lange geschwiegen, bis sie es aufgegeben
hätte, weiterzufragen. Aber wahrscheinlich hätte sie ohnehin so
getan, als wäre alles ganz normal. Wie immer.
Es gab niemanden, mit dem er über den
»Zwischenfall« sprechen konnte.