26
Mittwoch, 23. 7., 20.54 Uhr
Mona saß mit ausgestreckten Beinen auf einem harten Bett und zappte sich durch die Kanäle des uralten Fernsehers. Sie war gerade noch rechtzeitig ins Hotel gekommen, bevor der Gewittersturm angefangen hatte. Jetzt schleuderten heftige Böen Milliarden Tropfen gegen die Schallschutzfenster, was sich anhörte wie gedämpftes Maschinengewehrfeuer. Es war neun Uhr abends, Mona hatte gerade bei Anton angerufen und erfahren, dass mit Lukas alles in Ordnung war, und jetzt war sie erschöpft. Von der Auseinandersetzung mit Berghammer am Vormittag, vom unruhigen Hubschrauberflug am Nachmittag, von der alten Frau, mit der sie mehrere Stunden verbracht hatte, ohne den Durchbruch zu erreichen, den sie dringend gebraucht hätte, um diese teure Reise nachträglich zu legitimieren. Trotzdem, hoffte sie wider besseres Wissen, war es nicht umsonst gewesen.
Sie machte den Fernseher aus, zündete sich eine Zigarette an, legte sich zurück und blies den Rauch zur Zimmerdecke, die von vergilbten Rissen durchzogen war. Stille, bis auf die anund abschwellenden Geräusche des Unwetters. Die Nachttischlampe flackerte. Es roch nach Staub und muffigen Stoffen. Die Einrichtung war unbeschreiblich scheußlich. Lucia, Berghammers Sekretärin, hatte ihr vermutlich das billigste Hotel gebucht, das in der ganzen Stadt zu haben war. Zur Strafe, weil sie ihren Kopf bei Berghammer durchgesetzt hatte.
Mona griff nach ihrer Tasche und holte das Tonbandgerät heraus. Sie legte es aufs Bett und suchte nach der ersten Kassette. Sie setzte die Kopfhörer auf und spulte das Band vor.
 
»Ihr Bruder. Was war er für ein Typ als Kind?«
»Wie soll er schon gewesen sein?« Eine blitzschnelle Antwort mit so unfreundlicher Stimme, dass Mona selbst jetzt noch zurückzuckte. Sie erinnerte sich wieder an das unbehagliche Gefühl, vielleicht auf dem völlig falschen Dampfer zu sein. Und dann an das schon bessere Gefühl, das ihr sagte: Frag weiter. Lass sie reden. Manche Zeugen liebten das: weit auszuholen. Und waren sie erst einmal dabei, war es nicht mehr so schwierig, sie in jede gewünschte Richtung zu lenken.
So weit die Theorie. In Helga Kaysers Fall funktionierte sie nur eingeschränkt. Helga Kaysers Geschichte – jedenfalls die, die sie im Moment erzählen wollte – begann in den Fünfzigerjahren. Da war sie um die dreißig gewesen. Der Krieg war vorbei, und sie lebte mit ihrer Mutter »im falschen Teil der Hauptstadt«.
»Was meinen Sie damit?«
Die alte Frau hatte sie mitleidig angesehen. »Na im Osten eben. Da wo die Rosinenbomber nicht hinkamen. Das war der falsche Teil. Und ich wollte in den richtigen.«
»Ja... Hatten Sie zu dem Zeitpunkt noch Kontakt zu Ihrem Bruder?«
»Nein. Er war ja schon drüben.«
»Im Westen?«
»Genau.«
»Na gut, aber das ist doch kein Grund. Die Mauer wurde erst später gebaut und...«
»Tja. Ich war hüben, er war drüben.«
»Frau Kayser...«
»Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Ich war auf der Suche nach ‘nem Mann, der mich da rausholt, um es mal salopp auszudrücken. Fabian war im Westen und machte sich ‘ne schöne Zeit, ohne an seine Schwester zu denken.«
»Ja... War er – Fabian – schon immer so gewesen?«
»Wie gewesen?«
»So, na ja, egoistisch.«
»Was soll das denn wieder heißen?«
Mona hörte ihren eigenen Atem durch den Kopfhörer. »Hören Sie Frau Kayser, Sie haben gerade angedeutet, dass Ihr Bruder Sie im Stich gelassen hat. Meine Frage ist jetzt, ob er das schon immer so gemacht hat. Ob er dazu geneigt hat, nur seine eigenen Bedürfnisse zu sehen.«
Ein kurzes, bellendes Lachen. Dann: »Tja, meine Liebe, das kann man wohl sagen.«
Schweigen, während Mona darauf gewartet hatte, dass jetzt noch etwas kam. Irgendeine Erläuterung dieser vernichtenden Beurteilung. Aber nichts kam. Frau Kayser hatte stattdessen ihre Lippen zusammengepresst, als wollte sie sich selbst daran hindern, mehr als das Notwendigste herauszulassen.
Mona drückte auf die Pausentaste und dachte nach. Etwas später war Helga Kayser tatsächlich ins Erzählen gekommen und hatte dann gar nicht mehr aufhören wollen. Es ging leider an keiner Stelle um ihren Bruder, sondern ausschließlich um einen Mann, mit dem sie in den Fünzigerjahren unverheiratet zusammengelebt hatte, und um ihren gemeinsamen Sohn.
»Sie haben also doch Kinder?«
»Schon lange nicht mehr. Mein Sohn ist tot.«
»Oh. Seit wann?«
»Ich weiß nicht. Seit fünfzehn Jahren? Er war... krank.«
»Das tut mir Leid.«
Sie waren noch einmal in die Fünfzigerjahre zurückgekehrt. Helga Kayser, damals Helga Plessen, hatte zwar ihren Freund überreden können, mit ihr in den Westen zu gehen, aber er war eines Tages mit dem gemeinsamen Sohn einfach wieder in den Osten zurückgegangen. Hatte sie allein gelassen. War untergetaucht in der »Zone«, und »die Schweine dort«, sagte Helga Kayser, hätten ihr keine Auskunft über seinen Aufenthalt erteilt. Niemand habe ihr helfen wollen, und schließlich habe sie aufgegeben und einen anderen geheiratet. Erst viel, viel später, als die Mauer längst gebaut worden war, habe ihr Sohn sie von drüben angerufen. Damals sei er zehn Jahre alt gewesen, und sie habe ihn dann wenigstens mit einer gewissen Regelmäßigkeit besuchen können.
»Warum ist Ihr Sohn... Woran ist er gestorben?«
»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich…, ich musste selber ins Krankenhaus zu der Zeit. Ich hatte..., na egal. Ich habe ihn also gar nicht mehr gesehen. Vor seinem Tod.«
»Sie konnten ihn nicht mehr besuchen?«
»Nein. Wir haben ein paar Mal telefoniert. Er war selber Arzt, wissen Sie. Er hat gewusst, was ihn erwartete. Das macht es so... grausam.«
Die Miene der alten Frau war weicher geworden, zugänglicher und freundlicher. Mona, ganz kribbelig vor mühsam unterdrückter Nervosität, hatte nun beschlossen, sie noch einmal auf ihren Bruder anzusprechen. Vielleicht konnte sie diese veränderte Stimmung nutzen. Aber sie musste es klug anfangen.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Kindheit.« Das war nun der dritte Anlauf, und diesmal klappte es, wahrscheinlich, weil sie Plessen nicht erwähnt hatte.
»Was wollen Sie denn wissen?«, hatte Helga Kayser gefragt, als ob sie ein wenig begriffsstutzig sei – sie wusste doch, worum und vor allem um wen es ging -, aber Mona hatte nun beschlossen, die Dinge einfach laufen zu lassen und nichts mehr zu erzwingen.
»Alles«, hatte sie also geantwortet. »Wo und wie Sie gelebt haben. Wie Ihre Kindheit so war.«
»Und was nützt Ihnen das, wenn Sie das wissen?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Das erkenne ich dann, wenn ich’s höre.«
»Ich versteh das nicht. Sie machen die weite Reise hierher, damit ich Ihnen was aus dem Jahre Schnee erzähle?«
Glücklicherweise hatte Mona rechtzeitig erkannt, dass dieses Geplänkel schon Rückzugsgefechte waren. Dass die alte Frau in Wirklichkeit ganz wild darauf war, von sich zu reden. Sie lebte hier seit Jahren einsam vor sich hin, und nun kam endlich jemand und wollte etwas von ihr erfahren. Und nachdem Mona das gedacht hatte, hatte sie auch den Rest verstanden. Immer hatten sich alle nur für Fabian interessiert. Und niemand für die kleine Helga. Also mussten ein paar Umwege über das Thema Helga gemacht werden, damit man das Ziel Fabian erreichte. Umwege kosteten Zeit, aber das war nicht zu ändern.
»Wie ging es Ihnen so – als kleines Mädchen?«
Und Helga Kayser war tatsächlich auf die Frage angesprungen, hatte sich zurückgelehnt und angefangen zu berichten: über ein armes Dorf in Brandenburg namens Lestin, wo sie Gemüse anbauten und sich Hühner und zwei Kühe hielten und so mehr oder weniger gut über die Runden kamen. Über ihren Vater, der im Krieg eingezogen wurde, und ihre Mutter, die die Familie allein durchbringen musste.
»Zu wievielt – wie viele Kinder waren Sie?«
Kurzes Zögern. Dann: »Nur zwei. Fabian und ich.«
Nur zwei Kinder. Das waren vergleichsweise wenige in den Zwanziger-, Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Aber vielleicht hatte es Fehlgeburten gegeben, vielleicht waren einige Kinder in den ersten Lebensjahren an den typischen Krankheiten gestorben, die man nur mit Antibiotika heilen konnte – das alles, dachte Mona, war nicht relevant für den Fall.
»Wie lange haben Sie in diesem Dorf gelebt?«
»Bis ein paar Monate vor Kriegsende. Dann kam die Nachricht vom Tod meines Vaters.«
»Woran...?«
»Er war gefallen. In Russland. Kurz vor Kriegsende. Dann sind wir … Dann mussten wir alle weg.«
»Weg? Wohin?«
»Egal wohin.« Die alte Frau hatte sie spöttisch angesehen. »Die Russen kamen. Sie waren schon in Ostpreußen, und dort haben sie gehaust wie die Wilden. Es gab Dörfer, in denen sie jeden Einwohner erschlagen haben. Jeden Einzelnen, verstehen Sie? Manche haben sie auch aufgehängt oder an Scheunentore genagelt.«
»Woher wussten Sie das damals?«
»Jeder wusste das. Es gab die Flüchtlinge aus Ostpreußen, und solche Geschichten verbreiten sich automatisch. Jeder, der noch seinen Verstand beisammen hatte, hat sich damals auf den Weg gemacht.«
»Wohin?«
»Na, mit Panje-Wagen und allem, was man hatte, Richtung Westen. Haben Sie noch nie was von den Flüchtlingstrecks gehört?«
»Also Ihre ganze Familie machte sich auf...«
»Ja, sicher!« Helga Kayser hatte sie böse angesehen, und Mona war überrascht gewesen über den aggressiven Ton.
»Aha. Und...«
»Sie haben doch keine Ahnung, wie das damals war! Es war Januar und der kälteste Winter aller Zeiten. Die Straßen waren voll, nichts ging voran. Die Wehrmacht hatte die Straßen blockiert, wir kamen tageweise nicht vor und nicht zurück. Überall halb verhungerte Soldaten. Und die Leichen am Straßenrand von den Tieffliegerangriffen! Die Babys, die erfroren sind in der Kälte und nicht begraben werden konnten und massenweise dalagen wie – Puppen! Der viele Schnee, in dem die Räder stecken blieben!«
»Ja. Das war sicher...«
»Ach, sparen Sie sich das. Sie können das gar nicht nachvollziehen. Da..., da galten ganz andere Gesetze, da...«
»Ja? Welche Gesetze galten denn da?«
Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. Die alte Frau hatte sich halb erhoben, mit flammendem Blick und einem so angespannten Gesicht, dass mit einem Mal all ihre Falten wie ausradiert schienen, und Mona eine Ahnung bekommen hatte von Helga Kayser, wie sie damals war: eine junge, willensstarke Frau mit breiter Stirn und kantiger Kinnpartie. Doch dann war weiter nichts gekommen als ein mattes: »Gesetze wie im Dschungel. Jeder gegen jeden. Das war normal.« Helga Kayser hatte sich wieder hingesetzt, war auf dem Sofa regelrecht in sich zusammengesunken und hatte plötzlich sehr alt und todkrank ausgesehen. Mona hatte nicht aufgegeben, noch nicht: »Und wie haben sich diese Gesetze ausgewirkt? Ich meine im konkreten Fall, bei Ihnen, Ihrer Familie.« Absichtlich sprach sie Fabians Namen nicht aus.
»Ach das... Das würden Sie nicht verstehen. Und es tut auch nichts zur Sache.«
»Vielleicht doch. Bitte sagen Sie es mir.«
»Das geht Sie nichts an. Das liegt so lange zurück. Und es geht Sie nichts an.«
»Bitte. Es kann wirklich wichtig sein.«
»Nein.« Mit müder, erloschener Stimme. »Lassen Sie mich jetzt in Ruhe.«
Da war etwas passiert, und es war vielleicht wichtig gewesen. Verdammt! Mona hatte ihre Vorsicht fahren lassen. »Ich lasse Sie in Ruhe, wenn Sie mir mehr über Ihren Bruder erzählen.«
»Mein Gott...«
»Frau Kayser! Hier sind zwei Morde passiert, und vielleicht passiert ein dritter, und das Opfer könnten Sie sein! Haben Sie mich verstanden? Sie sagen jetzt bitte sofort, was Sie wissen. Sonst können wir Sie nicht schützen!«
Ein paar lange Sekunden dachte Mona, dass sie die alte Frau nun hatte. Aber dann sah sie wieder das spöttische, distanzierte Lächeln. »Das schreckt mich nicht. Ich hänge nicht am Leben. Nicht mehr. Es lohnt sich einfach nicht.«
»Ja, das denken viele. Aber dann...«
»Wie, sagen Sie, sind die Opfer gestorben?«
Mona hatte es ihr zwar nicht gesagt, aber es war ja kein Geheimnis, es stand schließlich in allen Zeitungen. »Heroin. Eine Überdosis.«
»Heroin«, hatte die Frau nachdenklich geantwortet. »Ist das nicht ein schöner Tod? Sanft und angenehm?«
Mona hatte sie fassungslos angesehen und nicht geantwortet. Durch die geöffnete Terrassentür war der erste kühle Gewitterhauch eingedrungen.
»Immer noch besser als Krebs, finden Sie nicht auch?«
Blitzartiges Begreifen. »Sie sind krank?«
»Ja. Und ich habe eigentlich gar keine Lust, mein Leben in einem Klinikbett zu beenden.«
Und dann hatte die alte Frau doch noch einiges erzählt, aber über Fabian Plessen hatte Mona trotzdem nichts erfahren. Die Familie Plessen hatte den Westen nicht erreicht, sondern war nach langen Irrungen »im falschen Teil der Hauptstadt« bei entfernten Verwandten untergeschlüpft, weil sie im richtigen Teil niemanden kannten. Helga Kayser ließ sich lange über diese Verwandten aus, mit denen sie offenbar nicht zurechtgekommen war, und Mona hatte ein Gähnen kaum unterdrücken können. Ein letztes Mal erkundigte sie sich schließlich nach Fabians Schicksal.
Ach ja, Fabian. Der habe sich sehr schnell, lange vor dem Mauerbau, in den Westen abgesetzt, dort ein Philosophiestudium begonnen und den Kontakt zu seiner Familie weitgehend eingestellt.
»Sie meinen Psychologiestudium«
»Nein. Philosophie. Fabian ist kein Psychologe.«
»Nicht?«, fragte Mona verblüfft.
»Nein.« Und schon wieder hatte Mona das Gefühl gehabt, dass Helga Kayser viel mehr wusste, als sie sagte. Aber alles Nachhaken ergab nichts.
»Warum, glauben Sie, hat er den Kontakt zu Ihnen eingestellt?«, hatte Mona noch wissen wollen.
»Das müssen Sie ihn selbst fragen. Ich hatte dann nicht mehr viel mit ihm zu tun.«
»Gab es Streit?«
»Fragen Sie ihn selber. Mir ist das alles egal.«
Mona nahm den Kopfhörer ab, der unangenehm auf ihren Scheitel drückte. Sie war für ein paar Sekunden vielleicht sehr, sehr nah dran gewesen an der Wahrheit. Sie musste morgen sofort zu Plessen, und diesmal würde sie ihn nicht davonkommen lassen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und verbarg ihren Kopf in beiden Händen. Sie brauchte eigentlich eine Überwachungseinheit der hiesigen Polizei für Helga Kayser, aber Berghammer würde sich nach diesem Vernehmungsergebnis wahrscheinlich nicht dafür einsetzen, und dann wäre ein Antrag ihrerseits sinnlos.
Und es stimmte ja: Immer noch gab es keine Beweise, dass Helga Kayser etwas wusste, das relevant war für den Fall. Bisher war da nur Monas Gefühl, dass zwei Menschen gestorben waren, weil etwas in Plessens Familie vorgefallen war. Etwas so Schlimmes, dass …
Ja – was?
Wenn da wirklich was war, würde Berghammer sagen und hätte Recht damit, dann liegt das fast sechzig Jahre lang zurück, und der Täter hat jetzt und hier zugeschlagen und der ist bestimmt kein alter Mann.
Warum denn eigentlich nicht? Es war doch keine kräftezehrende Leistung, jemandem eine Heroinspritze zu verpassen, wenn das Opfer sich nicht einmal wehrte. Das konnte doch jeder, selbst ein alter Mann, selbst ein kleines Mädchen.
Aber sechzig Jahre später? Wer tat das schon? Und warum gerade jetzt?
Vielleicht war etwas passiert, das den Mörder aus der Reserve gelockt hatte.
Aber was könnte das gewesen sein?
Mona griff nach ihrem Telefon und rief Berghammer an, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie ihm sagen sollte. Aber das machte nichts, denn Berghammer ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Tolle Neuigkeiten«, rief er in Monas Ohr.
»Was?«
»Wir haben ihn.«
»Was? Wen?«
»Mona. Den Täter. Wir haben ihn – also sagen wir, ziemlich sicher.«
Mona hätte am liebsten den Hörer in die Zimmerecke geworfen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie unternahm einen anstrengenden Trip ins Nirgendwo, ließ sich von einer alten Frau an der Nase herumführen (denn so empfand Mona es mittlerweile), und zu Hause passierten die wesentlichen Dinge.
»Wer ist es?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
»Ein Arzt. Klinikarzt. Er ist Schweizer und hatte Zugang zu Heroin als verschreibungspflichtigem Mittel für Schwerstabhängige.«
»Ja und?«
»Er war früher Patient – Klient – von Plessen. Er hat sich gestern mit Heroin umgebracht und sich vorher eine Message auf den Arm geritzt. Seine Exfrau hat ihn gefunden. In einer Pension hier in der Stadt. Sie hat uns benachrichtigt.«
»Also...«
»Kein Mensch weiß, was er hier wollte. Er war in der Pension eingecheckt, die ganze Zeit, während die Morde passierten. Die ganze Zeit. Er war immer hier. Alibis Fehlanzeige. Und: Der hat sich jeden Artikel zum Fall ausgeschnitten. Lagen alle in seinem Zimmer, abgeheftet in einem Ordner.«
»Was steht auf seinem Arm?«
»Kann nicht mehr. Fein säuberlich mit einem scharfen Messer eingeritzt.«
»Wie bei den Opfern?«
»Fast. Die Buchstaben auf den Opfern waren größer. Aber gut, bei sich selbst kann man das eben nicht so praktizieren.«
»Martin. Hast du nicht daran gedacht, dass er das Tatmuster nur nachgeahmt haben könnte? Ich meine, die ganzen Artikel...«
»Ja, ja. Theoretisch ist das möglich, und wir haben die Ermittlungen auch noch nicht eingestellt. Aber ich denke, er ist es.«
»Martin...«
»Ja?«
»Hast du… den Termin mit Plessen abgesagt? Den um neun?«
»Ja, sicher, Mona. Das hier ist jetzt wichtiger. Wir können diesen Plessen immer noch vorladen.«
»Sicher.«
»Komm nach Hause, Mona. Wann geht dein Flug?«
»Um acht.« Der Gedanke, wieder in den Helikopter zu steigen, verursachte ihr jetzt schon Übelkeit. Als sie aufgelegt hatte, klingelte ihr Handy in der Tasche. Sie sah auf das Display: eine unbekannte Mobilnummer
»Seiler«, sagte sie müde.
»David Gerulaitis. Störe ich Sie gerade?«
Etwas an seiner Stimme alarmierte sie. »Nein, nein gar nicht. Ich wollte Sie selber gerade anrufen.«
»Ja.«
»David – äh – Herr Gerulaitis. Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht.«
»Sie wissen was nicht?«
»Könnten Sie...«
»Ja?«
»Könnten wir uns vielleicht treffen? Jetzt gleich irgendwo? Ich bin etwas..., also...«
»Ich bin leider nicht in der Stadt. Können wir nicht jetzt reden, und Sie sagen mir einfach, was los ist?« Seine Stimme. Sie klang so... verwirrt. Als wäre er nicht mehr ganz bei sich. »Bitte, Herr Gerulaitis. Wir können jetzt reden, ich hab Zeit.«
»Ich habe... keine Neuigkeiten. In dem Sinn.«
»Aber etwas ist vorgefallen, das höre ich doch!«
»Fabian Plessen. Er ist – ein Magier. Schwarze Magie.«
»Was?«
»Er holt alles aus den Leuten raus. Und dann lässt er sie fallen. Wie leere Hüllen.«
Mona verstand. »Er hat Sie – äh – behandelt?«
»Wenn man so will.«
Mona schloss die Augen. Sie hatte Gerulaitis zwar gewarnt, aber letztlich war er ihr doch stabil und erfahren genug für diesen Job erschienen. Ein intelligenter junger Mann, der undercover bei der Drogenfahndung arbeitete und so cool und selbstbewusst auftrat, als könnte ihm niemand etwas anhaben: Was hatte Plessen mit ihm angestellt? Wut überkam sie. Dieser Mann war in einem Maße undurchsichtig, dass sie sich schon viel früher und viel intensiver mit seiner Person hätten beschäftigen müssen.
»Ganz ruhig, Herr Gerulaitis. Wo sind Sie jetzt?«
»Ich... In einem Lokal.«
»Warum fahren Sie nicht nach Hause? Zu ihrer Familie?«
»Nein! Ich kann da jetzt nicht hin! Ich bin ein Wrack.«
»Eben deswegen«, sagte Mona sanft. »Lassen Sie sich aufbauen. Von Ihrer Frau.« Er war doch verheiratet, oder nicht? Mona konnte sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit erinnern.
»Das ist doch Scheiße! Ich darf Sandy nicht mal erzählen, was los ist! Wie soll die mich aufbauen, wenn ich nicht sagen darf, was los ist?«
»Okay«, sagte Mona langsam, »dann sagen Sie es mir.«
»Hier? Am Telefon?«
»Sicher. Wo sonst? Sagen Sie mir, was los ist, und dann denken wir gemeinsam nach. Okay?«
Lange Pause. Dann: »Ich hatte Sex mit meiner Schwester. Fabian weiß das jetzt.«
»Oh!«
Sie hatte nicht geahnt, dass er derartige Probleme mit sich herumschleppte. Natürlich nicht. Hätte sie es geahnt, hätte sie ihn niemals für diesen Job eingesetzt.
»Ich war achtzehn, sie war vierzehn.«
»Also...«
»Ich liebe sie immer noch. Ich werde immer nur sie lieben. Sie ist heute süchtig. Abhängig. Das ist meine Schuld.« Das Telefon klickte; Gerulaitis hatte die Verbindung unterbrochen. Mona wählte die Nummer auf dem Display an, aber entweder befand er sich plötzlich in einem Funkloch, oder er hatte sein Handy ausgeschaltet: Sie erreichte nur seine Mailbox. Sie überlegte, ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte. Schließlich sagte sie: »Bitte rufen Sie mich zurück, David. Lassen Sie uns darüber reden. Bitte!« Sie hörte ihre eigene Stimme wie ein Echo. Sie legte auf und hoffte, dass er wieder anrufen würde: Sie musste ihn sofort von diesem Auftrag befreien. Aber so wie sie ihn einschätzte, würde er das nicht zulassen. Er war kein Typ, der davonlief. Er würde darauf bestehen, seinen Job zu Ende zu bringen.
Es war mittlerweile halb elf. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Kalter Regen spritzte ihr ins Gesicht, und in Sekundenschnelle war das Vorderteil ihres T-Shirts durchnässt. Mona schloss die Augen und öffnete den Mund. Das Wasser prickelte auf ihrer Zunge; es schmeckte herrlich kühl.
Was, dachte sie, soll ich jetzt nur tun?
Damals warst du still
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