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Mittwoch, 23. 7., 20.54 Uhr
Mona saß mit ausgestreckten Beinen auf einem
harten Bett und zappte sich durch die Kanäle des uralten
Fernsehers. Sie war gerade noch rechtzeitig ins Hotel gekommen,
bevor der Gewittersturm angefangen hatte. Jetzt schleuderten
heftige Böen Milliarden Tropfen gegen die Schallschutzfenster, was
sich anhörte wie gedämpftes Maschinengewehrfeuer. Es war neun Uhr
abends, Mona hatte gerade bei Anton angerufen und erfahren, dass
mit Lukas alles in Ordnung war, und jetzt war sie erschöpft. Von
der Auseinandersetzung mit Berghammer am Vormittag, vom unruhigen
Hubschrauberflug am Nachmittag, von der alten Frau, mit der sie
mehrere Stunden verbracht hatte, ohne den Durchbruch zu erreichen,
den sie dringend gebraucht hätte, um diese teure Reise nachträglich
zu legitimieren. Trotzdem, hoffte sie wider besseres Wissen, war es
nicht umsonst gewesen.
Sie machte den Fernseher aus, zündete sich eine
Zigarette an, legte sich zurück und blies den Rauch zur
Zimmerdecke, die von vergilbten Rissen durchzogen war. Stille, bis
auf die anund abschwellenden Geräusche des Unwetters. Die
Nachttischlampe flackerte. Es roch nach Staub und muffigen Stoffen.
Die Einrichtung war unbeschreiblich scheußlich. Lucia, Berghammers
Sekretärin, hatte ihr vermutlich das billigste Hotel gebucht, das
in der ganzen Stadt zu haben war. Zur Strafe, weil sie ihren Kopf
bei Berghammer durchgesetzt hatte.
Mona griff nach ihrer Tasche und holte das
Tonbandgerät heraus. Sie legte es aufs Bett und suchte nach der
ersten Kassette. Sie setzte die Kopfhörer auf und spulte das Band
vor.
»Ihr Bruder. Was war er für ein Typ als
Kind?«
»Wie soll er schon gewesen sein?« Eine
blitzschnelle Antwort mit so unfreundlicher Stimme, dass Mona
selbst jetzt noch zurückzuckte. Sie erinnerte sich wieder an das
unbehagliche Gefühl, vielleicht auf dem völlig falschen Dampfer zu
sein. Und dann an das schon bessere Gefühl, das ihr sagte: Frag
weiter. Lass sie reden. Manche Zeugen liebten das: weit auszuholen.
Und waren sie erst einmal dabei, war es nicht mehr so schwierig,
sie in jede gewünschte Richtung zu lenken.
So weit die Theorie. In Helga Kaysers Fall
funktionierte sie nur eingeschränkt. Helga Kaysers Geschichte –
jedenfalls die, die sie im Moment erzählen wollte – begann in den
Fünfzigerjahren. Da war sie um die dreißig gewesen. Der Krieg war
vorbei, und sie lebte mit ihrer Mutter »im falschen Teil der
Hauptstadt«.
»Was meinen Sie damit?«
Die alte Frau hatte sie mitleidig angesehen. »Na im
Osten eben. Da wo die Rosinenbomber nicht hinkamen. Das war der
falsche Teil. Und ich wollte in den richtigen.«
»Ja... Hatten Sie zu dem Zeitpunkt noch Kontakt zu
Ihrem Bruder?«
»Nein. Er war ja schon drüben.«
»Im Westen?«
»Genau.«
»Na gut, aber das ist doch kein Grund. Die Mauer
wurde erst später gebaut und...«
»Tja. Ich war hüben, er war drüben.«
»Frau Kayser...«
»Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Ich war auf der
Suche nach ‘nem Mann, der mich da rausholt, um es mal salopp
auszudrücken. Fabian war im Westen und machte sich ‘ne schöne Zeit,
ohne an seine Schwester zu denken.«
»Ja... War er – Fabian – schon immer so
gewesen?«
»Wie gewesen?«
»So, na ja, egoistisch.«
»Was soll das denn wieder heißen?«
Mona hörte ihren eigenen Atem durch den Kopfhörer.
»Hören Sie Frau Kayser, Sie haben gerade angedeutet, dass Ihr
Bruder Sie im Stich gelassen hat. Meine Frage ist jetzt, ob er das
schon immer so gemacht hat. Ob er dazu geneigt hat, nur seine
eigenen Bedürfnisse zu sehen.«
Ein kurzes, bellendes Lachen. Dann: »Tja, meine
Liebe, das kann man wohl sagen.«
Schweigen, während Mona darauf gewartet hatte, dass
jetzt noch etwas kam. Irgendeine Erläuterung dieser vernichtenden
Beurteilung. Aber nichts kam. Frau Kayser hatte stattdessen ihre
Lippen zusammengepresst, als wollte sie sich selbst daran hindern,
mehr als das Notwendigste herauszulassen.
Mona drückte auf die Pausentaste und dachte nach.
Etwas später war Helga Kayser tatsächlich ins Erzählen gekommen und
hatte dann gar nicht mehr aufhören wollen. Es ging leider an keiner
Stelle um ihren Bruder, sondern ausschließlich um einen Mann, mit
dem sie in den Fünzigerjahren unverheiratet zusammengelebt hatte,
und um ihren gemeinsamen Sohn.
»Sie haben also doch Kinder?«
»Schon lange nicht mehr. Mein Sohn ist tot.«
»Oh. Seit wann?«
»Ich weiß nicht. Seit fünfzehn Jahren? Er war...
krank.«
»Das tut mir Leid.«
Sie waren noch einmal in die Fünfzigerjahre
zurückgekehrt. Helga Kayser, damals Helga Plessen, hatte zwar ihren
Freund überreden können, mit ihr in den Westen zu gehen, aber er
war eines Tages mit dem gemeinsamen Sohn einfach wieder in den
Osten zurückgegangen. Hatte sie allein gelassen. War untergetaucht
in der »Zone«, und »die Schweine dort«, sagte Helga Kayser, hätten
ihr keine Auskunft über seinen Aufenthalt erteilt. Niemand habe ihr
helfen wollen, und schließlich habe sie aufgegeben und einen
anderen geheiratet. Erst viel, viel später, als die Mauer längst
gebaut worden war, habe ihr Sohn sie von drüben angerufen. Damals
sei er zehn Jahre alt gewesen, und sie habe ihn dann wenigstens mit
einer gewissen Regelmäßigkeit besuchen können.
»Warum ist Ihr Sohn... Woran ist er
gestorben?«
»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich…, ich musste selber
ins Krankenhaus zu der Zeit. Ich hatte..., na egal. Ich habe ihn
also gar nicht mehr gesehen. Vor seinem Tod.«
»Sie konnten ihn nicht mehr besuchen?«
»Nein. Wir haben ein paar Mal telefoniert. Er war
selber Arzt, wissen Sie. Er hat gewusst, was ihn erwartete. Das
macht es so... grausam.«
Die Miene der alten Frau war weicher geworden,
zugänglicher und freundlicher. Mona, ganz kribbelig vor mühsam
unterdrückter Nervosität, hatte nun beschlossen, sie noch einmal
auf ihren Bruder anzusprechen. Vielleicht konnte sie diese
veränderte Stimmung nutzen. Aber sie musste es klug anfangen.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Kindheit.« Das
war nun der dritte Anlauf, und diesmal klappte es, wahrscheinlich,
weil sie Plessen nicht erwähnt hatte.
»Was wollen Sie denn wissen?«, hatte Helga Kayser
gefragt, als ob sie ein wenig begriffsstutzig sei – sie wusste
doch, worum und vor allem um wen es ging -, aber Mona hatte nun
beschlossen, die Dinge einfach laufen zu lassen und nichts mehr zu
erzwingen.
»Alles«, hatte sie also geantwortet. »Wo und wie
Sie gelebt haben. Wie Ihre Kindheit so war.«
»Und was nützt Ihnen das, wenn Sie das
wissen?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Das erkenne ich
dann, wenn ich’s höre.«
»Ich versteh das nicht. Sie machen die weite Reise
hierher, damit ich Ihnen was aus dem Jahre Schnee erzähle?«
Glücklicherweise hatte Mona rechtzeitig erkannt,
dass dieses Geplänkel schon Rückzugsgefechte waren. Dass die alte
Frau in Wirklichkeit ganz wild darauf war, von sich zu reden. Sie
lebte hier seit Jahren einsam vor sich hin, und nun kam endlich
jemand und wollte etwas von ihr erfahren. Und nachdem Mona das
gedacht hatte, hatte sie auch den Rest verstanden. Immer hatten
sich alle nur für Fabian interessiert. Und niemand für die kleine
Helga. Also mussten ein paar Umwege über das Thema Helga gemacht
werden, damit man das Ziel Fabian erreichte. Umwege kosteten Zeit,
aber das war nicht zu ändern.
»Wie ging es Ihnen so – als kleines Mädchen?«
Und Helga Kayser war tatsächlich auf die Frage
angesprungen, hatte sich zurückgelehnt und angefangen zu berichten:
über ein armes Dorf in Brandenburg namens Lestin, wo sie Gemüse
anbauten und sich Hühner und zwei Kühe hielten und so mehr oder
weniger gut über die Runden kamen. Über ihren Vater, der im Krieg
eingezogen wurde, und ihre Mutter, die die Familie allein
durchbringen musste.
»Zu wievielt – wie viele Kinder waren Sie?«
Kurzes Zögern. Dann: »Nur zwei. Fabian und
ich.«
Nur zwei Kinder. Das waren vergleichsweise wenige
in den Zwanziger-, Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Aber
vielleicht hatte es Fehlgeburten gegeben, vielleicht waren einige
Kinder in den ersten Lebensjahren an den typischen Krankheiten
gestorben, die man nur mit Antibiotika heilen konnte – das alles,
dachte Mona, war nicht relevant für den Fall.
»Wie lange haben Sie in diesem Dorf gelebt?«
»Bis ein paar Monate vor Kriegsende. Dann kam die
Nachricht vom Tod meines Vaters.«
»Woran...?«
»Er war gefallen. In Russland. Kurz vor Kriegsende.
Dann sind wir … Dann mussten wir alle weg.«
»Weg? Wohin?«
»Egal wohin.« Die alte Frau hatte sie spöttisch
angesehen. »Die Russen kamen. Sie waren schon in Ostpreußen, und
dort haben sie gehaust wie die Wilden. Es gab Dörfer, in denen sie
jeden Einwohner erschlagen haben. Jeden Einzelnen, verstehen Sie?
Manche haben sie auch aufgehängt oder an Scheunentore
genagelt.«
»Woher wussten Sie das damals?«
»Jeder wusste das. Es gab die Flüchtlinge aus
Ostpreußen, und solche Geschichten verbreiten sich automatisch.
Jeder, der noch seinen Verstand beisammen hatte, hat sich damals
auf den Weg gemacht.«
»Wohin?«
»Na, mit Panje-Wagen und allem, was man hatte,
Richtung Westen. Haben Sie noch nie was von den Flüchtlingstrecks
gehört?«
»Also Ihre ganze Familie machte sich auf...«
»Ja, sicher!« Helga Kayser hatte sie böse
angesehen, und Mona war überrascht gewesen über den aggressiven
Ton.
»Aha. Und...«
»Sie haben doch keine Ahnung, wie das damals war!
Es war Januar und der kälteste Winter aller Zeiten. Die Straßen
waren voll, nichts ging voran. Die Wehrmacht hatte die Straßen
blockiert, wir kamen tageweise nicht vor und nicht zurück. Überall
halb verhungerte Soldaten. Und die Leichen am Straßenrand von den
Tieffliegerangriffen! Die Babys, die erfroren sind in der Kälte und
nicht begraben werden konnten und massenweise dalagen wie – Puppen!
Der viele Schnee, in dem die Räder stecken blieben!«
»Ja. Das war sicher...«
»Ach, sparen Sie sich das. Sie können das gar nicht
nachvollziehen. Da..., da galten ganz andere Gesetze, da...«
»Ja? Welche Gesetze galten denn da?«
Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. Die alte
Frau hatte sich halb erhoben, mit flammendem Blick und einem so
angespannten Gesicht, dass mit einem Mal all ihre Falten wie
ausradiert schienen, und Mona eine Ahnung bekommen hatte von Helga
Kayser, wie sie damals war: eine junge, willensstarke Frau mit
breiter Stirn und kantiger Kinnpartie. Doch dann war weiter nichts
gekommen als ein mattes: »Gesetze wie im Dschungel. Jeder gegen
jeden. Das war normal.« Helga Kayser hatte sich wieder hingesetzt,
war auf dem Sofa regelrecht in sich zusammengesunken und hatte
plötzlich sehr alt und todkrank ausgesehen. Mona hatte nicht
aufgegeben, noch nicht: »Und wie haben sich diese Gesetze
ausgewirkt? Ich meine im konkreten Fall, bei Ihnen, Ihrer Familie.«
Absichtlich sprach sie Fabians Namen nicht aus.
»Ach das... Das würden Sie nicht verstehen. Und es
tut auch nichts zur Sache.«
»Vielleicht doch. Bitte sagen Sie es mir.«
»Das geht Sie nichts an. Das liegt so lange zurück.
Und es geht Sie nichts an.«
»Bitte. Es kann wirklich wichtig sein.«
»Nein.« Mit müder, erloschener Stimme. »Lassen Sie
mich jetzt in Ruhe.«
Da war etwas passiert, und es war vielleicht
wichtig gewesen. Verdammt! Mona hatte ihre Vorsicht fahren lassen.
»Ich lasse Sie in Ruhe, wenn Sie mir mehr über Ihren Bruder
erzählen.«
»Mein Gott...«
»Frau Kayser! Hier sind zwei Morde passiert, und
vielleicht passiert ein dritter, und das Opfer könnten Sie sein!
Haben Sie mich verstanden? Sie sagen jetzt bitte sofort, was Sie
wissen. Sonst können wir Sie nicht schützen!«
Ein paar lange Sekunden dachte Mona, dass sie die
alte Frau nun hatte. Aber dann sah sie wieder das spöttische,
distanzierte Lächeln. »Das schreckt mich nicht. Ich hänge nicht am
Leben. Nicht mehr. Es lohnt sich einfach nicht.«
»Ja, das denken viele. Aber dann...«
»Wie, sagen Sie, sind die Opfer gestorben?«
Mona hatte es ihr zwar nicht gesagt, aber es war ja
kein Geheimnis, es stand schließlich in allen Zeitungen. »Heroin.
Eine Überdosis.«
»Heroin«, hatte die Frau nachdenklich geantwortet.
»Ist das nicht ein schöner Tod? Sanft und angenehm?«
Mona hatte sie fassungslos angesehen und nicht
geantwortet. Durch die geöffnete Terrassentür war der erste kühle
Gewitterhauch eingedrungen.
»Immer noch besser als Krebs, finden Sie nicht
auch?«
Blitzartiges Begreifen. »Sie sind krank?«
»Ja. Und ich habe eigentlich gar keine Lust, mein
Leben in einem Klinikbett zu beenden.«
Und dann hatte die alte Frau doch noch einiges
erzählt, aber über Fabian Plessen hatte Mona trotzdem nichts
erfahren. Die Familie Plessen hatte den Westen nicht erreicht,
sondern war nach langen Irrungen »im falschen Teil der Hauptstadt«
bei entfernten Verwandten untergeschlüpft, weil sie im richtigen
Teil niemanden kannten. Helga Kayser ließ sich lange über diese
Verwandten aus, mit denen sie offenbar nicht zurechtgekommen war,
und Mona hatte ein Gähnen kaum unterdrücken können. Ein letztes Mal
erkundigte sie sich schließlich nach Fabians Schicksal.
Ach ja, Fabian. Der habe sich sehr schnell, lange
vor dem Mauerbau, in den Westen abgesetzt, dort ein
Philosophiestudium begonnen und den Kontakt zu seiner Familie
weitgehend eingestellt.
»Sie meinen Psychologiestudium«
»Nein. Philosophie. Fabian ist kein
Psychologe.«
»Nicht?«, fragte Mona verblüfft.
»Nein.« Und schon wieder hatte Mona das Gefühl
gehabt, dass Helga Kayser viel mehr wusste, als sie sagte. Aber
alles Nachhaken ergab nichts.
»Warum, glauben Sie, hat er den Kontakt zu Ihnen
eingestellt?«, hatte Mona noch wissen wollen.
»Das müssen Sie ihn selbst fragen. Ich hatte dann
nicht mehr viel mit ihm zu tun.«
»Gab es Streit?«
»Fragen Sie ihn selber. Mir ist das alles
egal.«
Mona nahm den Kopfhörer ab, der unangenehm auf
ihren Scheitel drückte. Sie war für ein paar Sekunden vielleicht
sehr, sehr nah dran gewesen an der Wahrheit. Sie musste morgen
sofort zu Plessen, und diesmal würde sie ihn nicht davonkommen
lassen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und verbarg ihren
Kopf in beiden Händen. Sie brauchte eigentlich eine
Überwachungseinheit der hiesigen Polizei für Helga Kayser, aber
Berghammer würde sich nach diesem Vernehmungsergebnis
wahrscheinlich nicht dafür einsetzen, und dann wäre ein Antrag
ihrerseits sinnlos.
Und es stimmte ja: Immer noch gab es keine Beweise,
dass Helga Kayser etwas wusste, das relevant war für den Fall.
Bisher war da nur Monas Gefühl, dass zwei Menschen gestorben waren,
weil etwas in Plessens Familie vorgefallen war. Etwas so Schlimmes,
dass …
Ja – was?
Wenn da wirklich was war, würde Berghammer
sagen und hätte Recht damit, dann liegt das fast sechzig Jahre
lang zurück, und der Täter hat jetzt und hier zugeschlagen und der
ist bestimmt kein alter Mann.
Warum denn eigentlich nicht? Es war doch keine
kräftezehrende Leistung, jemandem eine Heroinspritze zu verpassen,
wenn das Opfer sich nicht einmal wehrte. Das konnte doch jeder,
selbst ein alter Mann, selbst ein kleines Mädchen.
Aber sechzig Jahre später? Wer tat das schon? Und
warum gerade jetzt?
Vielleicht war etwas passiert, das den Mörder aus
der Reserve gelockt hatte.
Aber was könnte das gewesen sein?
Mona griff nach ihrem Telefon und rief Berghammer
an, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie ihm sagen
sollte. Aber das machte nichts, denn Berghammer ließ sie gar nicht
erst zu Wort kommen. »Tolle Neuigkeiten«, rief er in Monas
Ohr.
»Was?«
»Wir haben ihn.«
»Was? Wen?«
»Mona. Den Täter. Wir haben ihn – also sagen wir,
ziemlich sicher.«
Mona hätte am liebsten den Hörer in die Zimmerecke
geworfen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie unternahm einen
anstrengenden Trip ins Nirgendwo, ließ sich von einer alten Frau an
der Nase herumführen (denn so empfand Mona es mittlerweile), und zu
Hause passierten die wesentlichen Dinge.
»Wer ist es?«, fragte sie mit schwacher
Stimme.
»Ein Arzt. Klinikarzt. Er ist Schweizer und hatte
Zugang zu Heroin als verschreibungspflichtigem Mittel für
Schwerstabhängige.«
»Ja und?«
»Er war früher Patient – Klient – von Plessen. Er
hat sich gestern mit Heroin umgebracht und sich vorher eine Message
auf den Arm geritzt. Seine Exfrau hat ihn gefunden. In einer
Pension hier in der Stadt. Sie hat uns benachrichtigt.«
»Also...«
»Kein Mensch weiß, was er hier wollte. Er war in
der Pension eingecheckt, die ganze Zeit, während die Morde
passierten. Die ganze Zeit. Er war immer hier. Alibis Fehlanzeige.
Und: Der hat sich jeden Artikel zum Fall ausgeschnitten. Lagen alle
in seinem Zimmer, abgeheftet in einem Ordner.«
»Was steht auf seinem Arm?«
»Kann nicht mehr. Fein säuberlich mit einem
scharfen Messer eingeritzt.«
»Wie bei den Opfern?«
»Fast. Die Buchstaben auf den Opfern waren größer.
Aber gut, bei sich selbst kann man das eben nicht so
praktizieren.«
»Martin. Hast du nicht daran gedacht, dass er das
Tatmuster nur nachgeahmt haben könnte? Ich meine, die ganzen
Artikel...«
»Ja, ja. Theoretisch ist das möglich, und wir haben
die Ermittlungen auch noch nicht eingestellt. Aber ich denke, er
ist es.«
»Martin...«
»Ja?«
»Hast du… den Termin mit Plessen abgesagt? Den um
neun?«
»Ja, sicher, Mona. Das hier ist jetzt wichtiger.
Wir können diesen Plessen immer noch vorladen.«
»Sicher.«
»Komm nach Hause, Mona. Wann geht dein Flug?«
»Um acht.« Der Gedanke, wieder in den Helikopter zu
steigen, verursachte ihr jetzt schon Übelkeit. Als sie aufgelegt
hatte, klingelte ihr Handy in der Tasche. Sie sah auf das Display:
eine unbekannte Mobilnummer
»Seiler«, sagte sie müde.
»David Gerulaitis. Störe ich Sie gerade?«
Etwas an seiner Stimme alarmierte sie. »Nein, nein
gar nicht. Ich wollte Sie selber gerade anrufen.«
»Ja.«
»David – äh – Herr Gerulaitis. Was ist
passiert?«
»Ich weiß nicht.«
»Sie wissen was nicht?«
»Könnten Sie...«
»Ja?«
»Könnten wir uns vielleicht treffen? Jetzt gleich
irgendwo? Ich bin etwas..., also...«
»Ich bin leider nicht in der Stadt. Können wir
nicht jetzt reden, und Sie sagen mir einfach, was los ist?« Seine
Stimme. Sie klang so... verwirrt. Als wäre er nicht mehr ganz bei
sich. »Bitte, Herr Gerulaitis. Wir können jetzt reden, ich hab
Zeit.«
»Ich habe... keine Neuigkeiten. In dem Sinn.«
»Aber etwas ist vorgefallen, das höre ich
doch!«
»Fabian Plessen. Er ist – ein Magier. Schwarze
Magie.«
»Was?«
»Er holt alles aus den Leuten raus. Und dann lässt
er sie fallen. Wie leere Hüllen.«
Mona verstand. »Er hat Sie – äh – behandelt?«
»Wenn man so will.«
Mona schloss die Augen. Sie hatte Gerulaitis zwar
gewarnt, aber letztlich war er ihr doch stabil und erfahren genug
für diesen Job erschienen. Ein intelligenter junger Mann, der
undercover bei der Drogenfahndung arbeitete und so cool und
selbstbewusst auftrat, als könnte ihm niemand etwas anhaben: Was
hatte Plessen mit ihm angestellt? Wut überkam sie. Dieser Mann war
in einem Maße undurchsichtig, dass sie sich schon viel früher und
viel intensiver mit seiner Person hätten beschäftigen müssen.
»Ganz ruhig, Herr Gerulaitis. Wo sind Sie
jetzt?«
»Ich... In einem Lokal.«
»Warum fahren Sie nicht nach Hause? Zu ihrer
Familie?«
»Nein! Ich kann da jetzt nicht hin! Ich bin ein
Wrack.«
»Eben deswegen«, sagte Mona sanft. »Lassen Sie sich
aufbauen. Von Ihrer Frau.« Er war doch verheiratet, oder nicht?
Mona konnte sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit
erinnern.
»Das ist doch Scheiße! Ich darf Sandy nicht mal
erzählen, was los ist! Wie soll die mich aufbauen, wenn ich nicht
sagen darf, was los ist?«
»Okay«, sagte Mona langsam, »dann sagen Sie es
mir.«
»Hier? Am Telefon?«
»Sicher. Wo sonst? Sagen Sie mir, was los ist, und
dann denken wir gemeinsam nach. Okay?«
Lange Pause. Dann: »Ich hatte Sex mit meiner
Schwester. Fabian weiß das jetzt.«
»Oh!«
Sie hatte nicht geahnt, dass er derartige Probleme
mit sich herumschleppte. Natürlich nicht. Hätte sie es geahnt,
hätte sie ihn niemals für diesen Job eingesetzt.
»Ich war achtzehn, sie war vierzehn.«
»Also...«
»Ich liebe sie immer noch. Ich werde immer nur sie
lieben. Sie ist heute süchtig. Abhängig. Das ist meine Schuld.« Das
Telefon klickte; Gerulaitis hatte die Verbindung unterbrochen. Mona
wählte die Nummer auf dem Display an, aber entweder befand er sich
plötzlich in einem Funkloch, oder er hatte sein Handy
ausgeschaltet: Sie erreichte nur seine Mailbox. Sie überlegte, ob
sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte. Schließlich sagte sie:
»Bitte rufen Sie mich zurück, David. Lassen Sie uns darüber reden.
Bitte!« Sie hörte ihre eigene Stimme wie ein Echo. Sie legte auf
und hoffte, dass er wieder anrufen würde: Sie musste ihn sofort von
diesem Auftrag befreien. Aber so wie sie ihn einschätzte, würde er
das nicht zulassen. Er war kein Typ, der davonlief. Er würde darauf
bestehen, seinen Job zu Ende zu bringen.
Es war mittlerweile halb elf. Sie stand auf und
öffnete das Fenster. Kalter Regen spritzte ihr ins Gesicht, und in
Sekundenschnelle war das Vorderteil ihres T-Shirts durchnässt. Mona
schloss die Augen und öffnete den Mund. Das Wasser prickelte auf
ihrer Zunge; es schmeckte herrlich kühl.
Was, dachte sie, soll ich jetzt nur
tun?