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Montag, 21. 7., 9.00 Uhr
Die neue Woche begann, ohne dass sie sehr viel
mehr wussten. Mona stand seit Freitag in Verhandlungen mit einer
psychiatrischen Anstalt in einer Kleinstadt namens Lemberg, um den
Patienten Fritz Lachenmeier vernehmen zu können, der nach Aussage
seiner Frau unmittelbar nach der Therapie Plessens so massive
paranoide Symptome gezeigt hatte, dass er von seiner Familie
eingeliefert worden war. Der zuständige Arzt in der Klinik sperrte
sich erst gegen das Ansinnen, stimmte aber schließlich einer
Vernehmung zu, unter der Bedingung, dass sie erst kommenden Montag
stattfinde, damit er seinen sehr instabilen Patienten auf den
erneuten psychischen Stress vorbereiten könne. Mona hatte sich der
Entscheidung gebeugt – ein verwirrter Patient, der vor lauter Angst
keinen geraden Satz herausbrachte, würde die Ermittlungen sowieso
nicht voranbringen.
Nachdem KK David Gerulaitis zugesagt hatte,
undercover an einem Seminar bei Fabian Plessen teilzunehmen, hatten
sie beschlossen, eine Sonderkommission zu bilden und die OFA
offiziell hinzuzuziehen. Am Wochenende erstellte die OFA anhand der
Tatortbefundsberichte, der Vernehmungs- und Obduktionsprotokolle
ein Profil des mutmaßlichen Täters. Mona verschaffte diese
Entwicklung der Dinge ein entspanntes Badewochenende mit Lukas und
Anton, auch wenn das Handy stets griffbereit lag.
Schmidt und Forster observierten die Umgebung von
Plessens Villa im Wechsel mit Fischer und Bauer. Ergebnis: keine
auffälligen Vorkommnisse. Die Journalisten und Fernsehteams waren
teilweise abgezogen, nachdem bekannt geworden war, dass Plessen
seine Geschichte samt aller Begleitumstände exklusiv einem Magazin
verkauft hatte, um endlich seine Ruhe zu haben. Berghammer hatte
noch versucht, ihm das auszureden, aber Plessens Argumente waren
durchaus überzeugend gewesen: besser immer dieselbe Nervensäge eine
absehbare Zeit lang als hundert Nervensägen wochenlang vor seiner
Tür.
Bei der ersten Konferenz am Montagmorgen, dem 21.
Juli, verteilten Mona und Berghammer die mehrseitige Expertise der
OFA an die nun dreizehnköpfige Sonderkommission Samuel, bestehend
aus Berghammer, Mona, den Mitgliedern der MK 1, jeweils einem
Mitglied der übrigen vier Mordkommissionen, Kern und seinem
Kollegen Sigurd Wimmer von der OFA, und zwei LKA-Beamten. Nach
einem weiteren heftigen Gewitter Sonntagnacht war es wieder sonnig
und heiß, wenn auch weniger feucht und drückend. Der Mord an Samuel
Plessen lag nun sieben Tage zurück, die Entdeckung der Leiche von
Sonja Martinez hatte vor sechs Tagen stattgefunden. Die Expertise
der OFA entsprach im Wesentlichen dem, was Kern auf ihrer
inoffiziellen Zusammenkunft in der Pizzeria entworfen hatte.
1. Der Täter war vermutlich männlich, zwischen
zwanzig und dreißig Jahre alt.
2. Beide Morde waren sorgfältig geplant worden,
der Täter konnte sich also Zeit nehmen, post mortem alles nach
seinen Vorstellungen zu arrangieren. Er hatte die Umstände so gut
organisiert, dass er sich nicht beeilen musste, nicht in Panik
war.
3. Deshalb musste der Täter mindestens
durchschnittlich, wahrscheinlich aber überdurchschnittlich
intelligent sein. Die Tatsache, dass er sich offenbar problemlos
bei Sonja Martinez Einlass verschaffen konnte (aber kein einziges
Ermittlungsergebnis auch nur die entfernte Möglichkeit aufzeigte,
dass das Opfer den Täter kannte) wies darauf hin, dass seine
sozialen Fähigkeiten normal, vielleicht sogar überdurchschnittlich
waren.
4. Der Täter wies vermutlich bereits in seiner
Kindheit einige abnorme Verhaltensweisen auf, wie zum Beispiel das
Töten von Tieren und das anschließende Sezieren. Es erregte ihn
möglicherweise, Haut zu verletzen, in das Innere von Lebewesen zu
schauen. Die Botschaft der eingeritzten Buchstaben bewertete Kern
als eventuell wichtig, aber gegenüber der tatsächlichen
Bedürfnislage des Täters als zweitrangig.
5. Der Täter war vermutlich ein unauffälliger
Einzelgänger und hatte – aufgrund bestimmter Vorlieben für sexuelle
Praktiken sadomasochistischer Art – möglicherweise Schwierigkeiten,
eine Freundin zu finden. Eventuell war er in entsprechenden legalen
Kreisen aktiv, vielleicht lebte er aber auch komplett asexuell.
Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich war, dass er verheiratet
war, vielleicht sogar Kinder hatte und bestimmte Obsessionen im
Verborgenen lebte. Vielleicht besaß er einen zweiten Wohnsitz, etwa
ein abgelegenes Ferienhaus, von dem niemand etwas wusste.
6. Der Täter war im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte. Kein Schizophrener in einer akuten Phase hätte die Taten
derart planvoll durchführen können.
7. Wenn die beiden Morde Botschaften enthielten,
dann (auch) diese: Der Täter wollte auf sich, vielleicht auf seine
innere Not, aufmerksam machen.
8. Der Täter befand sich in der Anfangsphase, die
beiden Taten waren vielleicht nicht die ersten, aber, wenn er nicht
vorher gefasst würde, sicher nicht die letzten ihrer Art. Die
nächsten Male würde der Täter vermutlich keine Drogen mehr
brauchen, um seine Opfer auf unblutige Weise zu eliminieren. Er
würde vielmehr nun den Mut haben, seinen Opfern tödliche
Stichverletzungen zuzufügen und seine Opfer anschließend eventuell
ausweiden. Das gehörte zum Programm eines Serientäters: dass die
Reize von Mal zu Mal stärker werden mussten und die Hemmschwelle
immer niedriger wurde.
9. Ein sexueller Hintergrund war wahrscheinlich
und würde sich bei den nächsten Taten möglicherweise eindeutiger
manifestieren.
Mona, Berghammer und Kern, die den Inhalt bereits
kannten, saßen am Kopfende des Konferenztisches und beobachteten
ihre Kollegen beim Lesen. Monas Gedanken wanderten ab. Lukas’
Deutschlehrerin und Klassenleiterin hatte sie früh morgens noch vor
Schulbeginn angerufen; offenbar hatte Lukas wieder angefangen zu
schwänzen. Mona war schon mehrmals in der Sprechstunde dieser
Lehrerin gewesen. Sie hieß Frau Hellwart, zeigte lange gelbe Zähne,
wenn sie lächelte, und schien ein Problem damit zu haben, dass Mona
einen Ganztagsjob hatte, der noch dazu »so anstrengend und
zeitraubend« sei. Ob es besser wäre, wenn sie und Lukas von der
Sozialhilfe lebten, dann hätte sie auf Kosten des Steuerzahlers den
ganzen Tag Zeit für ihn, hatte Mona die Lehrerin einmal schnippisch
gefragt, aber keine Antwort erhalten außer dem gelbzähnigen
Lächeln. Immerhin kam die Lehrerin nie wieder auf dieses Thema
zurück.
Die Tatsache, dass Lukas schwänzte, blieb
allerdings bestehen. Heute Abend würde sie mit ihm reden
müssen.
»Fragen?«, sagte Berghammer trocken in die Runde
und beendete damit Monas Grübeleien. Zehn Köpfe nickten synchron,
ein Finger hob sich. Er gehörte einem der beiden LKA-Beamten, einem
Glatzkopf mit dünnem blondem Schnauzer namens Daniel Radomski.
»Ja?«, fragte Berghammer, eine Spur unfreundlicher. Er mochte es
nicht, wenn eine weitere Behörde eingeschaltet wurde. Er regelte am
liebsten alles mit seinen eigenen Leuten (wozu er auch die OFA
zählte). Aber in diesem Fall hatte das LKA darauf bestanden.
»Lebt der Täter hier?«
Kern antwortete vorsichtig, wie es seine Art war:
»Die Tatumstände weisen nicht explizit darauf hin.«
»Heißt was?«, schnappte Radomski, der Mona sofort
unsympathisch wurde. Aber Kern ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen. »Eher nein«, sagte er nach einen kleinen Pause. »Täter,
die in der Nähe des Opfers wohnen, agieren oft hektisch und nervös.
Sie haben berechtigte Angst, von jemandem erkannt zu werden. Täter,
die aus einer anderen Gegend, einem anderem Milieu kommen, müssen
sich diese Sorgen nicht machen. Und dieser Täter schien sehr
entspannt zu sein.«
»Heißt das, er wohnt woanders, und kommt, na ja,
nur so zu Besuch?«
»Das könnte sein. Ich würde aber eher sagen, er
lebt zwar hier in der Stadt, aber eben nicht dort, wo die Morde
verübt wurden beziehungsweise wo die Leiche des männlichen Opfers
abgelegt wurde. Sondern in einer ganz anderen Gegend.«
Ratloses Schweigen. Schließlich ergriff der
Glatzkopf wieder das Wort. »Das kann ja überall sein.«
»Richtig«, sagte Kern. »Wir können also zur Stunde
keine halbe Million Männer zum Speicheltest laden. Diese
Möglichkeit existiert in einer Großstadt einfach nicht, mal
abgesehen davon, dass wir auch über keine eindeutig dem Täter
zuzuordnenden DNA-Spuren verfügen. Wir müssen weiterermitteln, bis
wir den Standort des Täters besser eingrenzen können.«
Schmidt meldete sich. »Was genau passiert jetzt?
Wie gehen wir weiter vor?«
»Ich werde heute mit Patrick nach Lemberg fahren,
um den Patienten Fritz Lachenmeier in der psychiatrischen Anstalt
zu vernehmen«, sagte Mona zu Schmidt. »Du und Karl, ihr fahrt
wieder zur Villa; Hans und Patrick, ihr löst die beiden heute Abend
ab. Kennt sich einer von den Anwesenden im Sado-Maso-Milieu aus?
Nichtkommerziell und kommerziell? Dominas etc.? Sonst müssen wir
jemanden von der Sitte dazuholen.«
KK Marquard von der MK 3 meldete sich. »Ich war bis
letztes Jahr bei der Sitte«, sagte er. »Ich könnte ein paar Leute
anrufen, die sich in der Szene auskennen.«
»Okay«, sagte Mona. »Du hast die Fallanalyse – frag
nach einem Typen, der gern mit Messern rummacht, vielleicht gibt es
eine Prostituierte, die sich über einen brutalen Freier mit
seltsamen Wünschen beschwert hat, so was in der Art.«
»Ja«, unterbrach sie Marquard mit einem
Gesichtsausdruck, als hätte er schon verstanden und bräuchte keine
weiteren Erklärungen mehr.
»Der Rest...«, Mona zögerte, »... studiert am
besten noch mal die Aktenlage. Sobald jemandem was auffällt, sobald
sich etwas Neues ergibt, werden alle informiert.«
»Noch Fragen?«, schaltete sich Berghammer ein, der
wohl wusste, dass gleich das große Murren losbrechen würde. Aber es
half nichts, im Moment waren sie weitgehend zur Untätigkeit
verdammt. Die beiden Morde waren bis zur Stunde ausermittelt. Die
Mitglieder der MK 1 hatten in der vergangenen Woche mit allen
gesprochen, die auch nur halbwegs etwas wissen konnten. Alibis
waren überprüft worden – es gab einfach nicht mehr zu tun.
Bis zum nächsten Mord.
Berghammer schloss ganz kurz die Augen. Es würde
einen nächsten Mord geben, er war sich dessen sicher. Sie würden
ihn nicht verhindern können, denn sie wussten noch immer nicht,
wonach sie suchen mussten. Jede Spur hatte sich bislang als Irrweg
erwiesen. Seufzend beendete er die Konferenz und setzte die nächste
für halb vier an – dann, wenn Mona voraussichtlich aus Lemberg
zurück sein würde.
»Glaubst du, der bringt was?«, fragte er Mona im
Lärm des allgemeinen Stühlerückens.
»Wer soll was bringen?«
»Der Patient von Plessen in der Klapsmühle.«
Mona zuckte die Schultern. »Wir müssen alles
versuchen. Vielleicht ist die Fahrt umsonst, aber ich kann den Mann
nicht einfach nur anrufen. Wenn ich ihn anrufe, sagt er vielleicht
gar nichts oder irgendwas Verrücktes. Außerdem muss ein Arzt dabei
sein.«
»Viel Glück«, sagte Berghammer und tätschelte ihr
unbeholfen die Schulter. Mona lächelte, obwohl Berghammers Hand,
wie so oft in diesem Sommer, schweißnass war und ihr T-Shirt
sowieso schon an ihr klebte. Als sie in Bauers Richtung ging, der
schon an der Tür stand, schnitt ihr plötzlich Fischer den Weg ab.
Sie blieb stehen, überrascht. »Was ist?«, fragte sie
unwillig.
»Wieso nimmst du eigentlich das Mädchen mit? Wollt
ihr Mädchengespräche führen? Wie man sich am besten schminkt oder
so?«
Mona brauchte einen Moment lang, bis sie verstand,
wen Fischer mit »das Mädchen« meinte. Sie sah ihn fassungslos an.
»Sag mal«, rief sie laut in sein zorniges Gesicht, »was ist
eigentlich dein Problem?«
Fischer starrte sie mit zusammengebissenen Zähnen
an. Er antwortete nicht. Es war ihm egal, dass Kollegen
mittlerweile aufmerksam wurden, sie aus den Augenwinkeln
beobachteten, während sie ihre Unterlagen verstauten.
»Ich glaube«, sagte Mona langsam und in derselben
Lautstärke, »du bist irgendwie krank. Du benimmst dich wie nicht
mehr ganz gescheit. Ich versteh dich nicht. Was ist los mit
dir?«
Fischer öffnete den Mund, und Mona legte ihm in
derselben Sekunde leicht die Hand darauf. Es geschah ganz spontan,
sie hatte es nicht geplant. Es geschah aus dem Gefühl heraus, dass
es jetzt genug war. Sie hatte zu lange darüber hinweggesehen, dass
Fischer Stimmung gegen sie machte, wann und wo er nur konnte. Es
gab keinen Grund dafür, jedenfalls keinen nachvollziehbaren. Sie
machte nichts falsch, sie versuchte zu allen fair zu sein, auch zu
ihm. Fischer war es, der etwas falsch machte.
»Reiß dich endlich zusammen«, sagte Mona, und die
Worte schienen in ihrem Mund regelrecht zu explodieren; es war wie
eine Befreiung, Fischer endlich so Kontra zu geben, wie er es
verdiente. Sie nahm ihre Hand weg und genoss den Blick in sein vor
Verblüffung geradezu dummes Gesicht. »Reiß dich zusammen, Hans.
Sonst wirst du bei mir nicht alt.«