29
1985
Als der Junge dreizehn Jahre alt wurde, fanden die ersten körperlichen Veränderungen statt, die die Pubertät einleiten. Seine Genitalien vergrößerten sich, sein Stimme wurde brüchig, sein Gang plumper, er schoss in die Höhe und hatte ständig Hunger. Eine Zeit lang ruhten seine merkwürdigen Aktivitäten im Tierreich, und er fühlte sich fast erleichtert: Sein Körper machte ihm stärker als je zu schaffen, und das lenkte ihn vorübergehend ab. Im Rückblick betrachtet gab es damals eine zweite Chance für ihn, sich der hellen, oberflächlichen, wirklichen Welt zuzuwenden, in der es Spaß, Freundschaft und Liebe gab.
Wenn auch nicht in seinem direkten Umfeld.
Die Mutter des Jungen hatte sich nach mehreren Männergeschichten, die enttäuschend, manchmal auch traumatisch endeten, einen neuen zuverlässigeren Freund gesucht. Er war stumm, aber voller Verständnis für ihre Bedürfnisse nach Wärme, Entspannung und Genuss. Er war immer verfügbar und entzog sich nie mit fadenscheinigen Begründungen. Er schrie nicht herum. Mehrere Flaschen von ihm lagerten im Eisfach ihres Kühlschranks und wurden Abend für Abend geköpft. Manchmal leistete ihr dabei ein anderer Trinker Gesellschaft. Diese Beziehungen erwiesen sich als angenehm unkompliziert, haltbar und berechenbar, weil körperlich und seelisch Ausgebrannte in der Regel keine emotionalen Forderungen mehr stellen.
Eine trügerische Ruhe stellte sich ein. In der Klinik funktionierte sie weiterhin als gefürchtet penible Oberärztin und niemand ahnte etwas von ihrem zweiten Leben im permanenten Rauschzustand. Ihr Gesicht schien glatt und unangreifbar, denn tagsüber blieb sie selbstverständlich nüchtern.
Die Schwester des Jungen lebte nun ganz beim Vater des gemeinsamen Kleinkinds und kam kaum noch in ihr altes Zuhause. Dem Jungen war das lange Zeit egal gewesen, weil sie nie ein besonderes Verhältnis zueinander hatten. Doch in letzter Zeit registrierte er ein neues Gefühl – ausgerechnet er, der sich nie für andere Menschen interessiert hatte: Einsamkeit. Er ertappte sich bei dem Wunsch, auch außerhalb des starren Regelwerks der Schule und der Jungen Pioniere wenigstens ab und zu Leute um sich zu haben, mit denen man sich unterhalten und austauschen konnte: Er war auf der Suche nach einem Menschen, der ihn verstand und eventuell sogar teilnahm an seinem Hobby. Seine gesamte Kindheit über war der Junge davon ausgegangen, dass es Menschen wie ihn kein zweites Mal gab. Einerseits schmeichelte ihm die Überzeugung, eine Art Genie zu sein mit einem einzigartigen Interessengebiet. Andererseits hätte er gerne bestimmte Freuden mit jemand anderem geteilt und sich auf diese Weise weniger abseitig gefühlt. Manchmal träumte er von einem Mädchen, das er in seine Kunst einweihen würde. Eine Schülerin, dessen Lehrer er sein würde, eine Gefährtin in seinem Geiste: Diese Vorstellung erregte ihn manchmal so sehr, dass er glaubte zu platzen.
Langsam begann er, seine Fühler nach dem anderen Geschlecht auszustrecken. Sein sexueller Appetit wuchs, aber seine Fähigkeiten, Kontakte zu knüpfen und sich beliebt zu machen, hielten damit nicht Schritt. Er hatte nie gelernt, auf Menschen zuzugehen; seine ersten Versuche waren wenig erfolgreich. Auf andere wirkte er zerfahren und wenig liebenswürdig. Sein strohblondes Haar war struppig, sein Gesichtsausdruck meistens ernst mit herabgezogenen Mundwinkeln. Das alles machte keinen besonders anziehenden Eindruck.
Der Junge war sich dessen allerdings nicht bewusst. Er hatte nie Freunde gehabt, weil er sich für Gleichaltrige nicht interessierte, schon gar nicht für Mädchen. Letzteres hatte sich nun geändert, aber dem Rest der Welt war das egal. Kein Mädchen reagierte auf seine Annäherungsversuche, keine wollte sich länger als nötig mit ihm unterhalten. Der Junge verstand das nicht. Er fragte sich, warum sie ihn nicht wollten. Was machte er falsch? Er hätte gern jemanden um Rat gefragt, seine Mutter oder einen Lehrer, aber er hätte nicht gewusst, wie. Er kannte keine Worte für sein Problem, und es gab auch niemanden, der ihm seine innere Not angesehen hätte. In dieser Gesellschaft sprach man nicht über so etwas. Der Alltag war hier zu Lande ein Organisationsproblem, und man hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit Neurosen zu beschäftigen. Selbst enge Freundschaften waren in vieler Hinsicht Zweckgemeinschaften. Gibst du mir Schrauben, besorge ich dir Muttern. Kaufst du Schnaps, kümmere ich mich um eine anständige Mahlzeit.
Der Junge benahm sich weiterhin grenzenlos ungeschickt, gefangen in seinem eigenen emotionalen Universum, das Gefühle anderer nicht registrierte. Er fasste Mädchen an, einfach so, und wunderte sich, dass sie ihn zurückstießen, manche voller Zorn, andere mit einem Ausdruck von Angst in den Augen, der ihn so erregte, dass er nicht aufhören konnte, es immer wieder zu versuchen. Einige Mitschüler kriegten das spitz und stellten ihn empört zur Rede. Einmal wurde er sogar verprügelt, aber der Junge wehrte sich nicht. Es war, als würde er die Schläge nicht spüren. An diesem Tag ging er nach Hause, den Körper voller Kratzer und blauer Flecke, und die Verletzungen empfand er als viel weniger schmerzhaft als die umfassende Ratlosigkeit. Früher hatte man ihn gemieden und nicht weiter beachtet. Jetzt wurde er zum Sündenbock der Klasse, das Opfer hämischer Scherze und dadurch unfreiwillig zum verhassten Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Die Gründe dafür durchschaute er nicht. Doch sein Überlebenswillen war geweckt: Er verstand, dass es nun in erster Linie darum ging, erfolgreiches Verhalten von den anderen abzuschauen. Seine beträchtlichen schulischen Erfolge – lernen fiel ihm leicht – hatten ihn dieser Notwendigkeit bislang enthoben: Man ließ ihn in Ruhe, weil er keinen Anlass gab, sich über ihn aufzuregen. Doch nun hatte sich die Situation geändert. Er musste erreichen, gemocht zu werden, um seine Bedürfnisse leben zu können.
Wie ein Forscher beobachtete er das Verhalten älterer Jungs, mit denen sich die Mädchen seiner Altersklasse bevorzugt zusammentaten. Er stellte fest, dass die Jungen, die Mädchen besonders gleichgültig und abschätzig behandelten, seltsamerweise am meisten umschwärmt waren. Er versuchte, das zu imitieren, aber der Erfolg war gleich null. Nachts fantasierte er von der weichen, glatten, unversehrten Haut der Mädchen. Er stellte sich die Spitze eines Messers vor, das vorsichtig eindrang, und die purpurroten Blutstropfen, die aus der verletzten Haut tropften. Jetzt musste ihm niemand mehr sagen, dass er sich auf gefährliches Terrain begab. Er erschauerte. Tiere waren Tiere, Menschen etwas ganz anderes. Er schloss die Augen und vollzog Nacht für Nacht den Schritt, der ihn endgültig vom Rest der Welt trennte. Die Visionen seiner Kindheit kehrten mit Macht zurück. Schwarze Flügelfiguren suchten ihn heim und flüsterten ihm Versuchungen ein, in denen es um Blut und Erkenntnis ging: um das, was sich hinter lächelnden Masken, unter schimmernder Haut verbarg. Die Wahrheit. Er wehrte sich nicht länger dagegen.
An den freien Wochenenden ging er wieder auf die Jagd. So nannte er das mittlerweile für sich, obwohl es nie darum ging, eine essbare Beute nach Hause zu bringen. Er freundete sich mit einem alten Mann an, der ganz am Ende der Lagune in einem stets feuchten und muffigen Haus direkt vor dem dichten Schilfgürtel des Sees lebte. Der Mann besaß eine alte, aber funktionstüchtige Schrotflinte und sogar noch Munition. Beides war Vorkriegsproduktion, funktionierte aber erstklassig und so brachte der Mann dem Jungen das Schießen bei. Privater Waffenbesitz war zwar keineswegs erlaubt, aber es gab auf dem Land eine Menge Leute wie den alten Mann – und kein Mensch regte sich über einen leckeren Kaninchenbraten auf, solange er nicht wusste, woher er stammte.
Der Junge erwies sich als geschickt, und der Alte, dessen Augen immer schlechter wurden, überließ ihm schließlich seine Waffe ganz. Der Junge begab sich auf die Pirsch und schoss Rehe, Reiher, Kaninchen, Ratten. Bei jedem erlegten Tier erlebte er aufs Neue die Lust, einen intakten Körper zu öffnen und zu betrachten, was sich darin verbarg. Seine eigene wilde Zerstörungswut, die ihn jedes Mal überfiel, sobald das Messer die Haut geritzt hatte, bekam er im Lauf der Zeit ganz gut in den Griff.
Nachts dachte er daran zurück, und die Erregung ließ ihn aufstöhnen. Die Erinnerung an das Tier vermischte sich mit den Bildern von weißer Menschenhaut. Tags darauf streifte er wieder durch den Wald, um diese Bilder zu verscheuchen. Sie waren nicht nur verboten, sondern durch ein so machtvolles Tabu belegt, dass es nicht einmal ausgesprochen werden musste. Nachts war der Schritt aus der Welt heraus leicht, am Tag stellte sich alles in anderem Licht dar. In seinen wachen Momenten erfasste den Jungen eine Angst von so elementarer Wucht, dass es ihn schüttelte. Er wusste, seine Fantasien waren die Fantasien eines Aussätzigen, aber er konnte sie nicht abstellen. Manchmal überfiel ihn die Furcht vor dem, was in ihm war, auch nachts, dann stellte er sich um zwei Uhr morgens unter die kalte Dusche, lief anschließend ins Freie und wälzte sich im stachligen Gras bis sein ganzer Körper schmerzte. Manchmal lief er auch die hundert Meter durchs Dorf ans Ufer des stillen schwarzen Sees und stürzte sich in sein eisiges Wasser.
Aber er ertrank nicht. Er fand immer wieder zurück. Tapste an Land über den modrigen Grund, der durchsetzt war mit tückisch spitzen Steinen, aber der Schmerz war ihm willkommen, denn er ließ ihn vergessen, zwang seine wilden, verführerischen Gedanken wie Soldaten ins Glied zurück: Schlotternd vor Kälte und Erleichterung rannte er zurück in sein dunkles Elternhaus, trocknete sich mit hastigen Bewegungen ab und konnte danach endlich tief und traumlos schlafen. Am nächsten Morgen fühlte er sich dann in der Regel erholt und beinahe froh, wenn ihm auch mittlerweile klar war, dass sich die Gefühle auf diese Weise nur vorübergehend bändigen ließen. Irgendwann würden sie zurückkommen, und sie würden wieder eine Nuance kraftvoller sein. Ein weißer Arm mit feinen blonden Härchen, ein schlanker, wehrlos preisgegebener Hals, kräftige nackte Beine unter engen Shorts – es brauchte so wenig, um die schlafenden Hunde in ihm zu wecken. Sie würden ihre Reißzähne fletschen, seinen Kopf ausfüllen mit ihrem gierigen Brummen und Knurren. Sie würden sich seiner bemächtigen bis zu dem Augenblick, wo er sich ihnen ergab, willenlos, weil sie ja doch stärker waren als sein vernünftiges Ich.
Ein Morgen, einer unter vielen. Noch im Bett, wo er sich einigermaßen sicher fühlte, schloss er die Augen vor der Notwendigkeit aufzustehen. Er wusste, gleich würde er die Stimme seiner Mutter hören, und dann würde ein neuer, harter Tag beginnen. Er holte tief Luft und überlegte, wie es wäre, wenn er einfach aufhören würde zu atmen. Er würde sterben. Es wäre ganz leicht. Er müsste nur jetzt – oder jetzt – oder jetzt – die Luft anhalten. Oder einfach ausatmen, und es dabei bewenden lassen.
Schritte kamen an sein Bett.
»Wach auf«, sagte seine Mutter. »Schule«. Er schlug die Augen auf und atmete weiter. Sie stand vor seinem Bett und bedachte ihn mit diesem müden Blick voller Abneigung, den er ihr aus voller Seele zurückgab. Ihre Augen waren verquollen, ihr braun gefärbtes Haar war an den Ansätzen beinahe weiß, ihre Haut war die einer schweren Trinkerin: fahl, fleckig, alt. Selbst ihr Mund wirkte eingefallen. Aber eine halbe Stunde später würde sie wieder aussehen, wie man sie in der Klinik kannte: blitzwach und unbarmherzig gegenüber jeder Schwäche, jeder Unachtsamkeit.
Nur ihn konnte sie nicht täuschen. Er wusste genau, wie sie war. Langsam schlug er die Decke zurück – er wusste, dass sie es hasste ihn nackt zu sehen -, langsam stand er auf und ging auf sie zu, mittlerweile fast so groß wie sie. Der mit dunkelbrauner Auslegeware bedeckte Holzboden knarrte unter seinen Füßen. Seine Mutter senkte den Kopf wie besiegt und wich ihm bis hinter das Fußende des Betts aus. Das lag an seiner Größe. Bald würde er auf sie herunterschauen können, und was dann passieren würde, falls sie ihn weiter so behandelte, würde er nicht sagen können.
Er ging an ihr vorbei ins Bad. Sein Körper brannte immer noch vom kalten Bad in der letzten Nacht. Er bekam eine Erektion. Er schloss die Tür hinter sich ab, rieb ergeben seinen Schwanz und wartete wie ein Verurteilter auf die schmerzhafte Explosion, die ihm keine Erleichterung bringen würde.
Damals warst du still
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