20
Mittwoch, 16. 7., 18.10 Uhr
»Wir müssen reden«, sagte Mona zu Bauer, der sofort zusammenzuckte, als wüsste er genau, worum es ging, was ja wahrscheinlich auch der Fall war. Sie standen im Stau, die Hitze hatte kaum nachgelassen, und trotzdem war es zehnmal angenehmer, sich bei offenen Fenstern den Benzingestank um die Nase wehen zu lassen, als im Dezernat zu sitzen und das Gefühl zu haben, das wahre Leben finde anderswo statt.
»Du weißt schon, worüber«, fuhr Mona fort. Sie hielt vor einer roten Ampel – alle Ampeln schienen pausenlos rot zu sein – und wandte sich Bauer zu. Sie erinnerte sich an ein ähnliches Gespräch mit ihm, das schon länger her war und ebenfalls im Auto stattgefunden hatte und bei dem Bauer in Tränen ausgebrochen war. Von Tränen hatte sie für heute genug, aber diese Unterhaltung ließ sich nicht verschieben. Wenn Bauer nicht sicherer und weniger empfindlich wurde, musste er versetzt werden.
Bauer sah aus dem Fenster und antwortete nicht.
»Patrick!«
Widerwillig wandte er seinen Kopf in ihre Richtung.
»Wir müssen uns unterhalten. Über dich.«
»Ja«, sagte Bauer mit schlaffer Stimme. Aber sein Blick klebte jetzt förmlich auf ihrem Gesicht, als wollte er sich daran festhalten.
»Patrick, du bist bei uns nicht glücklich. Stimmt das?« Die Ampel wurde grün, Mona sah nach vorne, legte den ersten Gang ein und hielt es aus, dass Bauer sie weiterhin mit geradezu beängstigender Intensität anstarrte. Sie fuhren ein paar Meter, bis sie wieder anhalten mussten.
»Bin ich wohl«, sagte Patrick schließlich und wandte sich ab. »Ich find alles echt cool.« Er nickte, wie zur Bekräftigung, ein paar Mal vor sich hin. Es sah bemitleidenswert aus.
»Ich glaub dir nicht. Ehrlich gesagt.«
»Ist aber so. Ehrlich.«
»Die anderen...«
»Die sind okay! Alle!«
Mona seufzte. »Das stimmt doch nicht, Patrick. Du wirst laufend verarscht. Du hast komische Spitznamen. Es funktioniert nicht richtig, euer – äh – Kontakt.« Langsam arbeiteten sie sich zum Mittleren Ring Richtung Autobahn vor. Vor acht Uhr würden sie nicht bei den Plessens ankommen, der Verkehr stadtauswärts war um diese Zeit mörderisch. Mona zündete sich eine Zigarette an, die achte. Bevor sie losgefahren waren, hatte sie zu Hause angerufen – also bei Anton, dem Mann, dessen vermutlich illegale Geschäfte ihre Karriere ruinieren könnten – und erfahren, dass Lukas mit einem Freund auf der Terrasse saß und beide eine Magnum-Portion Eis löffelten. Es gab also zurzeit keinen Grund, sich Sorgen zu machen, auch dann nicht, wenn es spät werden sollte. Es gab keinen Grund... Es gab keinen...
»Welche Spitznamen?«, unterbrach Bauer gnadenlos ihre Gedankenspirale, die sie wieder einmal weit weg führte vom Hier und Jetzt. Seine Stimme klang anders als vorhin, höher, beinahe hysterisch.
»Vergiss es. Ist nicht wichtig.« Warum hatte sie nicht den Mund gehalten? So etwas erzählte man jemandem einfach nicht.
»Ich will es aber wissen.«
»Darum geht’s nicht, Patrick.« Andererseits: Vielleicht erteilte ihm die Wahrheit einen heilsamen Schock. Vielleicht brauchte er diese Ohrfeige, um endlich alle Kräfte in sich zu mobilisieren.
»Ich will es wissen. Sag’s mir! Was sagen die andern über mich?«
Mona zögerte. Dann sagte sie es ihm. Patrick das Mädchen Bauer.
 
Bauer schwieg den Rest der Fahrt über nach Gersting. Mona hätte gern gefragt, was ihm durch den Kopf ging, aber sie wusste, er würde nicht antworten. Jetzt nicht mehr, nachdem er vor ihr sein Gesicht verloren hatte. Denn genauso würde er es empfinden. Nicht als gut gemeintes Hilfsangebot, sondern als perfide Strafe. Aber möglicherweise war das sogar besser. Monas Erfahrung nach hassten es Männer, sich helfen zu lassen – vor allem dann, wenn die Hilfe von einer Frau kam. Nun kam es darauf an, wie er auf diese schwere Kränkung reagierte: mit Kampfgeist oder Selbstaufgabe. Nur eins kam nicht mehr in Frage, diese Tür hatte sie zugeschlagen: einfach so weiterzumachen wie bisher.
Manchmal, dachte Mona, wäre es nicht schlecht, ein Mann zu sein. Nicht für immer, nur für einen Tag. Um zu spüren, was sie spürten, zu denken, was sie dachten, zu fürchten und zu lieben, was sie fürchteten und liebten. Denn die Unterschiede zwischen Männern und Frauen erschienen ihr mittlerweile so gewaltig, dass Mona sich oft wunderte, dass und wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern überhaupt zu Stande kommen konnten.
Eifersüchtige Männer waren außer sich vor Zorn, eifersüchtige Frauen außer sich vor Angst. Ein erfolgreicher Mann war für seine Frau ein Statussymbol, eine erfolgreiche Frau für ihren Mann eine Bedrohung. Frauen wollten immer nur Liebe, Männer immer nur Respekt. Und so weiter.
Es erschien Mona wie ein Déjà-vu, als sie zum zweiten Mal durch Gersting fuhr, obwohl heute die Dämmerung bereits eingesetzt hatte und das Dorf in unwirkliches, rosig-bläuliches Licht tauchte. Aber wieder wirkte Gersting wie von aller Welt verlassen. Die Geschäfte hatten geschlossen, das Café war leer bis auf zwei Gäste, ein junges Paar, das einander gegenübersaß und sich an den Händen hielt. »Wie verzaubert«, murmelte Mona, ohne eine Antwort zu erwarten. Bauer sagte tatsächlich nichts darauf.
Vielleicht würde er noch eine Weile schweigen und sich anschließend doch so benehmen, als sei nie etwas passiert. Vielleicht würde er gleich morgen früh seinen Versetzungsantrag einreichen. Vielleicht würde er auch kämpfen. Möglichkeit Nummer drei wäre Mona die liebste. Denn er war eigentlich gut in seinem Job. Er verstand schnell, worauf es bei Vernehmungen ankam, er hatte ein Ohr für Zwischentöne und Ungesagtes: Sie brauchten Leute wie ihn, aber nur wenn Leute wie er es schafften, ihre Sensibilität beruflich einzusetzen, statt sie wie eine tödliche Waffe gegen sich selbst zu richten. Im Moment schlief Bauer zu wenig, aß zu wenig und man sah ihm viel zu deutlich an, wie sehr er sich anstrengen musste, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Sie ließen Gersting hinter sich und fuhren die schmale gewundene Landstraße bis zum Ulmenweg. Mona bog ein. Während sie über den schlecht geteerten Weg holperten, vertiefte sich die Dämmerung. Im schwindenden Licht wirkte das Wäldchen vor ihnen wie eine monochrome schwarze Wand; die Silhouette der Bäume bildete einen zackigen Rand, der sich scharf gegen den abendblassen Himmel absetzte.
»Was hat Plessen gesagt?«, fragte Mona, um das Schweigen zu brechen. Als Bauer nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Du hast doch mit ihm telefoniert. Vorhin.«
»Ja.«
»Und?«
»Er hat gesagt: Wir sind zu Hause.«
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
»Aha.«
»Ja. Was soll er auch sonst sagen? Freu mich schon, hab Ihnen einen Kuchen gebacken?«
Mona musste lachen. Möglichkeit Nummer drei war zumindest nicht völlig ausgeschlossen.
Vor dem Grundstück der Plessens standen mehrere PKWs und einige Übertragungswagen von Privatsendern in der Dunkelheit. Ein Journalist sprang auf, als er Monas Autos ansichtig wurde. »Gehen Sie weg«, sagte Mona. Sie kannte ihn, es war ein Polizeireporter der Bild.
»Frau Seiler. Bloß ein paar Worte zum Stand...«
»Morgen bei der PK. Okay?«
»Das ist zu spät!«
»Es geht aber nicht anders. Lassen Sie mich jetzt durch.« Ein Scheinwerfer flammte auf und richtete sich auf ihren Wagen. Mona schloss für einen Moment geblendet die Augen. Sie ließ den Motor aufheulen und schoss zwischen den Autos hindurch zum Tor. Bauer hatte die Plessens per Handy alarmiert; das Tor ging auf und sofort wieder zu. Mona überlegte, wer sich von den Journalisten bereits widerrechtlich im Garten versteckt und wer als Erster brandheiße Familienbilder von Sonja Martinez und Samuel Plessen erbeutet hatte – von der MK 1 hatten sie nur die jeweiligen Passfotos der Toten bekommen. Die Öffentlichkeit hungerte nach solchen Horror-Geschichten, trotz oder gerade wegen der politischen und wirtschaftlichen Krise. Sie lenkten ab von den eigenen Problemen.
Damals warst du still
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