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Mittwoch, 16. 7., 18.10 Uhr
»Wir müssen reden«, sagte Mona zu Bauer, der
sofort zusammenzuckte, als wüsste er genau, worum es ging, was ja
wahrscheinlich auch der Fall war. Sie standen im Stau, die Hitze
hatte kaum nachgelassen, und trotzdem war es zehnmal angenehmer,
sich bei offenen Fenstern den Benzingestank um die Nase wehen zu
lassen, als im Dezernat zu sitzen und das Gefühl zu haben, das
wahre Leben finde anderswo statt.
»Du weißt schon, worüber«, fuhr Mona fort. Sie
hielt vor einer roten Ampel – alle Ampeln schienen pausenlos rot zu
sein – und wandte sich Bauer zu. Sie erinnerte sich an ein
ähnliches Gespräch mit ihm, das schon länger her war und ebenfalls
im Auto stattgefunden hatte und bei dem Bauer in Tränen
ausgebrochen war. Von Tränen hatte sie für heute genug, aber diese
Unterhaltung ließ sich nicht verschieben. Wenn Bauer nicht sicherer
und weniger empfindlich wurde, musste er versetzt werden.
Bauer sah aus dem Fenster und antwortete
nicht.
»Patrick!«
Widerwillig wandte er seinen Kopf in ihre
Richtung.
»Wir müssen uns unterhalten. Über dich.«
»Ja«, sagte Bauer mit schlaffer Stimme. Aber sein
Blick klebte jetzt förmlich auf ihrem Gesicht, als wollte er sich
daran festhalten.
»Patrick, du bist bei uns nicht glücklich. Stimmt
das?« Die Ampel wurde grün, Mona sah nach vorne, legte den ersten
Gang ein und hielt es aus, dass Bauer sie weiterhin mit geradezu
beängstigender Intensität anstarrte. Sie fuhren ein paar Meter, bis
sie wieder anhalten mussten.
»Bin ich wohl«, sagte Patrick schließlich und
wandte sich ab. »Ich find alles echt cool.« Er nickte, wie zur
Bekräftigung, ein paar Mal vor sich hin. Es sah bemitleidenswert
aus.
»Ich glaub dir nicht. Ehrlich gesagt.«
»Ist aber so. Ehrlich.«
»Die anderen...«
»Die sind okay! Alle!«
Mona seufzte. »Das stimmt doch nicht, Patrick. Du
wirst laufend verarscht. Du hast komische Spitznamen. Es
funktioniert nicht richtig, euer – äh – Kontakt.« Langsam
arbeiteten sie sich zum Mittleren Ring Richtung Autobahn vor. Vor
acht Uhr würden sie nicht bei den Plessens ankommen, der Verkehr
stadtauswärts war um diese Zeit mörderisch. Mona zündete sich eine
Zigarette an, die achte. Bevor sie losgefahren waren, hatte sie zu
Hause angerufen – also bei Anton, dem Mann, dessen vermutlich
illegale Geschäfte ihre Karriere ruinieren könnten – und erfahren,
dass Lukas mit einem Freund auf der Terrasse saß und beide eine
Magnum-Portion Eis löffelten. Es gab also zurzeit keinen Grund,
sich Sorgen zu machen, auch dann nicht, wenn es spät werden sollte.
Es gab keinen Grund... Es gab keinen...
»Welche Spitznamen?«, unterbrach Bauer gnadenlos
ihre Gedankenspirale, die sie wieder einmal weit weg führte vom
Hier und Jetzt. Seine Stimme klang anders als vorhin, höher,
beinahe hysterisch.
»Vergiss es. Ist nicht wichtig.« Warum hatte sie
nicht den Mund gehalten? So etwas erzählte man jemandem einfach
nicht.
»Ich will es aber wissen.«
»Darum geht’s nicht, Patrick.« Andererseits:
Vielleicht erteilte ihm die Wahrheit einen heilsamen Schock.
Vielleicht brauchte er diese Ohrfeige, um endlich alle Kräfte in
sich zu mobilisieren.
»Ich will es wissen. Sag’s mir! Was sagen die
andern über mich?«
Mona zögerte. Dann sagte sie es ihm. Patrick das
Mädchen Bauer.
Bauer schwieg den Rest der Fahrt über nach
Gersting. Mona hätte gern gefragt, was ihm durch den Kopf ging,
aber sie wusste, er würde nicht antworten. Jetzt nicht mehr,
nachdem er vor ihr sein Gesicht verloren hatte. Denn genauso würde
er es empfinden. Nicht als gut gemeintes Hilfsangebot, sondern als
perfide Strafe. Aber möglicherweise war das sogar besser. Monas
Erfahrung nach hassten es Männer, sich helfen zu lassen – vor allem
dann, wenn die Hilfe von einer Frau kam. Nun kam es darauf an, wie
er auf diese schwere Kränkung reagierte: mit Kampfgeist oder
Selbstaufgabe. Nur eins kam nicht mehr in Frage, diese Tür hatte
sie zugeschlagen: einfach so weiterzumachen wie bisher.
Manchmal, dachte Mona, wäre es nicht schlecht, ein
Mann zu sein. Nicht für immer, nur für einen Tag. Um zu spüren, was
sie spürten, zu denken, was sie dachten, zu fürchten und zu lieben,
was sie fürchteten und liebten. Denn die Unterschiede zwischen
Männern und Frauen erschienen ihr mittlerweile so gewaltig, dass
Mona sich oft wunderte, dass und wie Beziehungen zwischen den
Geschlechtern überhaupt zu Stande kommen konnten.
Eifersüchtige Männer waren außer sich vor Zorn,
eifersüchtige Frauen außer sich vor Angst. Ein erfolgreicher Mann
war für seine Frau ein Statussymbol, eine erfolgreiche Frau für
ihren Mann eine Bedrohung. Frauen wollten immer nur Liebe, Männer
immer nur Respekt. Und so weiter.
Es erschien Mona wie ein Déjà-vu, als sie zum
zweiten Mal durch Gersting fuhr, obwohl heute die Dämmerung bereits
eingesetzt hatte und das Dorf in unwirkliches, rosig-bläuliches
Licht tauchte. Aber wieder wirkte Gersting wie von aller Welt
verlassen. Die Geschäfte hatten geschlossen, das Café war leer bis
auf zwei Gäste, ein junges Paar, das einander gegenübersaß und sich
an den Händen hielt. »Wie verzaubert«, murmelte Mona, ohne eine
Antwort zu erwarten. Bauer sagte tatsächlich nichts darauf.
Vielleicht würde er noch eine Weile schweigen und
sich anschließend doch so benehmen, als sei nie etwas passiert.
Vielleicht würde er gleich morgen früh seinen Versetzungsantrag
einreichen. Vielleicht würde er auch kämpfen. Möglichkeit Nummer
drei wäre Mona die liebste. Denn er war eigentlich gut in seinem
Job. Er verstand schnell, worauf es bei Vernehmungen ankam, er
hatte ein Ohr für Zwischentöne und Ungesagtes: Sie brauchten Leute
wie ihn, aber nur wenn Leute wie er es schafften, ihre Sensibilität
beruflich einzusetzen, statt sie wie eine tödliche Waffe gegen sich
selbst zu richten. Im Moment schlief Bauer zu wenig, aß zu wenig
und man sah ihm viel zu deutlich an, wie sehr er sich anstrengen
musste, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Sie ließen Gersting hinter sich und fuhren die
schmale gewundene Landstraße bis zum Ulmenweg. Mona bog ein.
Während sie über den schlecht geteerten Weg holperten, vertiefte
sich die Dämmerung. Im schwindenden Licht wirkte das Wäldchen vor
ihnen wie eine monochrome schwarze Wand; die Silhouette der Bäume
bildete einen zackigen Rand, der sich scharf gegen den abendblassen
Himmel absetzte.
»Was hat Plessen gesagt?«, fragte Mona, um das
Schweigen zu brechen. Als Bauer nicht antwortete, fügte sie hinzu:
»Du hast doch mit ihm telefoniert. Vorhin.«
»Ja.«
»Und?«
»Er hat gesagt: Wir sind zu Hause.«
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
»Aha.«
»Ja. Was soll er auch sonst sagen? Freu mich schon,
hab Ihnen einen Kuchen gebacken?«
Mona musste lachen. Möglichkeit Nummer drei war
zumindest nicht völlig ausgeschlossen.
Vor dem Grundstück der Plessens standen mehrere
PKWs und einige Übertragungswagen von Privatsendern in der
Dunkelheit. Ein Journalist sprang auf, als er Monas Autos ansichtig
wurde. »Gehen Sie weg«, sagte Mona. Sie kannte ihn, es war ein
Polizeireporter der Bild.
»Frau Seiler. Bloß ein paar Worte zum
Stand...«
»Morgen bei der PK. Okay?«
»Das ist zu spät!«
»Es geht aber nicht anders. Lassen Sie mich jetzt
durch.« Ein Scheinwerfer flammte auf und richtete sich auf ihren
Wagen. Mona schloss für einen Moment geblendet die Augen. Sie ließ
den Motor aufheulen und schoss zwischen den Autos hindurch zum Tor.
Bauer hatte die Plessens per Handy alarmiert; das Tor ging auf und
sofort wieder zu. Mona überlegte, wer sich von den Journalisten
bereits widerrechtlich im Garten versteckt und wer als Erster
brandheiße Familienbilder von Sonja Martinez und Samuel Plessen
erbeutet hatte – von der MK 1 hatten sie nur die jeweiligen
Passfotos der Toten bekommen. Die Öffentlichkeit hungerte nach
solchen Horror-Geschichten, trotz oder gerade wegen der politischen
und wirtschaftlichen Krise. Sie lenkten ab von den eigenen
Problemen.