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Dienstag, 15.7., 10.25 Uhr
W – A – R – S – T. Eine willkürliche
Buchstabenfolge? Ein Nachname? Eine Abkürzung? Initialen? Ein Code?
Oder die zweite Person Singular Imperfekt von »sein«? Mona
verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Eine Botschaft, so viel
war sicher. Aber an wen? Das Telefon klingelte, sie warf einen
Blick auf das Display. Es war der Anschluss von Herzog, dem Chef
des Rechtsmedizinischen Instituts. Mona hob ab.
»Frau Seiler?«
»Am Apparat. Und?«
»Heroin, eine Überdosis. Ganz klar die
Todesursache. Wollen Sie herkommen?«
»Nein, jetzt nicht. Geben Sie einfach Forster den
Bericht mit.«
»Das dauert aber noch. Forster ist schon wieder auf
dem Weg zu Ihnen.«
»Macht nichts, dann schicken Sie es halt per
E-Mail. Wir müssen sowieso erst mal erfahren, wer er ist. War er
süchtig?«
»So weit würde ich nicht gehen, aber es war auch
nicht sein erster Druck.«
»Er hat schon mal gespritzt? Heroin?«
»Ja, ein paar Mal, soweit man das an den
Einstichstellen sehen kann. Möglich ist auch, dass er es vorher
geraucht hat, also doch schon länger drauf war, als es jetzt den
Anschein hat. Viele machen das ja heutzutage. Ich würde auf jeden
Fall sagen, er war möglicherweise schon auf dem Weg in die
Abhängigkeit. Aber noch keine fühlbaren Vernarbungen, keine
Krankheiten, nichts in dieser Richtung.«
»Dann hat er sich die Spritze selbst
verabreicht?«
»Keine Spuren eines Kampfes. Keine fremden
Hautfasern unter den Fingernägeln, keine Kratzer, keine sonstigen
oberflächlichen Verletzungen, kein Zeichen für Fremdeinwirkung.
Außer eben diese herausgeschnittene Zunge und die übrigen...«
»Post-Mortem-Verletzungen?«
»Ja, die Schnitte wurden ihm nachträglich
beigebracht. Todesursache ist jedenfalls die Überdosis. Ich
schätze, er hat sich das Zeug selbst gespritzt, ohne zu wissen, wie
viel es war. Er war wahrscheinlich noch… unerfahren. Außerdem war
der Stoff ungewöhnlich rein.«
Mona dachte einen Moment nach. »Jemand muss es ihm
gegeben haben und bei ihm gewesen sein, als er es sich gespritzt
hat. Anschließend hat der Jemand dem Jungen diese Verletzungen
beigebracht. Anders ergibt das Ganze keinen Sinn.«
»Möglich«, sagte Herzog mit einer Stimme, als seien
ihm ihre Schlussfolgerungen ziemlich egal. »Sie kriegen den Bericht
um halb eins.«
»Danke.« Mona legte auf und rief anschließend bei
Anton an, um ihm mitzuteilen, dass es heute später werden würde. In
ihrem Leben hatten sich einige Dinge geändert. Noch immer besaß sie
ihre eigene Wohnung, noch immer war sie offiziell allein erziehende
Mutter, noch immer wusste niemand im Dezernat 11 über ihre
Beziehung zu einem Mann Bescheid, gegen den nun schon jahrelang
wegen Autoschmuggels ins östliche Ausland ermittelt wurde (mit auf-
und abnehmendem Elan der Behörden, da ihm nie etwas nachzuweisen
war). Aber mittlerweile taten Anton und Mona das, wogegen Mona sich
aufgrund ihrer Position, die sich in keiner Weise mit seinen
problematischen Aktivitäten vereinbaren ließ, jahrelang gewehrt
hatte: Sie lebten de facto zusammen. Sie waren eine Art Familie.
Eine so normale, wie es angesichts der Gegebenheiten eben möglich
war. Und ihr gemeinsamer Sohn Lukas hatte endlich ein echtes
Zuhause.
Auf diese Weise war in ihren Alltag eine prekäre
Ruhe eingekehrt, die sich jederzeit ins Gegenteil verkehren konnte.
Nach wie vor sprach Anton nicht über seine Geschäfte am Rande (oder
völlig außerhalb) der Legalität, und Mona schloss die Augen vor den
möglichen Konsequenzen, denn, dachte sie, was machte es für einen
Sinn, sich etwas auszumalen, auf das man im Fall des Falles ohnehin
keinen Einfluss hatte?
Es war wie immer bei ihr: Kurzfristige Lösungen
ersetzten langfristige Strategien. Aber gab es nicht das
Sprichwort, dass nichts so langlebig ist wie ein Provisorium?
»Anton, hier ist Mona«, sagte sie in den Hörer,
leise, weil sie wusste, wie hellhörig hier Türen und Wände
waren.
»Du kommst später«, sagte Anton. Sie mochte seine
Stimme, die gleichzeitig tief und sanft war.
»Ja. Bestimmt nicht vor zehn. Wir haben einen neuen
Fall.«
»Red lauter, ich versteh kein Wort.«
»Du hast ganz gut verstanden. Gegen zehn. Wie
geht’s Lukas?«
»Der isst heute in der Schule und kommt um zwei mit
seinem Freund Dennis.«
»Bist du da, wenn er kommt?«
»Sicher. Weißt du doch.« Sie hörte sein leises
Lachen durch den Hörer. Anton hatte ein paar unbezahlbare
Eigenschaften: Er war ein liebevoller Vater und vor allem häufig zu
Hause, denn seine Geschäfte ließen sich offenbar problemlos per
Telefon organisieren. Für die Arbeit vor Ort hatte er seine Leute –
die Mona nicht kannte und auch nicht kennen lernen wollte.
»In zwei Wochen hat Lukas Ferien...«, begann
Anton.
»…und wir fahren nach Griechenland«, vollendete
Mona den Satz. »Ich vergess das schon nicht.«
»Das sagst du so. Wenn du einen neuen Fall hast,
gilt das plötzlich nicht mehr.«
»Natürlich gilt das.«
»Schreib dir den Termin auf. Mittwoch, 30. Juli. Um
neun geht die Maschine.«
»Anton. Urlaub ist eingereicht und
genehmigt.«
»Ja, ja. Ich kenn dich. Dann kommt ein neuer Fall
und...«
»Bis dann«, sagte sie und legte auf, weil es an
ihrer Tür klopfte und sie wusste, dass Leute wie Fischer
grundsätzlich nie auf ein »Herein« warteten.
»Herein«, sagte Mona, als Fischer schon vor ihrem
Schreibtisch stand. Er überhörte das. »Wir wissen jetzt, wie er
heißt.«
»Oh. Gut.«
»Ziemlich sicher jedenfalls. Wir haben eine Meldung
vom Vermisstendezernat. Alter, Größe, Haarfarbe, Augenfarbe,
Klamotten – alles stimmt.«
»Wer hat die Anzeige aufgegeben? Seine
Eltern?«
Fischer warf einen Blick auf den Packen
DIN-A4-Blätter, den er in den Händen hielt. Er setzte sich auf die
Ecke von Monas Schreibtisch. »Pass auf: Plessen Fabian, Plessen
Roswitha. Dürften die Eltern sein. Ja, hier steht’s. Eltern von
Samuel Plessen. Der Vermisste heißt Samuel Plessen, sechzehn Jahre,
Haare blond, Augen braun, Größe eins zweiundachtzig. Wohnhaft bei
seinen Eltern. Selbe Adresse jedenfalls. In Gersting.«
»Wo soll das denn sein?«
»Wenn es das Kaff ist, das ich meine...«
»Ja?«
»Ziemlich totes Nest. Viele Kühe. Bin mal
durchgefahren.«
»Seit wann ist er abgängig?«
»Seit vorgestern früh. Kein Handy-Empfang. Freunde
wurden von den Eltern befragt, wissen angeblich auch nicht, wo er
ist.«
»Ist das häufiger passiert, dass er einfach so
verschwunden ist?«
Fischer blätterte in den Seiten. »Seine Eltern
sagen, nein. Kam oft erst zum Frühstück, aber wenn nicht, hat er
sich immer gemeldet.«
»Also gut«, sagte Mona. »Wir fahren hin und checken
das.«
»Du und ich?« Fischer machte ein saures
Gesicht.
»Sicher. Wenn’s dir nicht passt, nehme ich Patrick.
Liegt ganz bei dir.«
Fischer machte den Mund auf und überlegte es sich
dann anders. Ihre stumm glimmende und manchmal geräuschvoll
auflodernde Feindschaft hatte in Monas Augen beinahe schon etwas
Lächerliches. Fischer hatte sich in diese Haltung verrannt und kam
jetzt nicht mehr heraus. Vielleicht musste er einem Leid tun,
vielleicht musste man sich vor ihm fürchten, vielleicht galt beides
zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
»Gibt’s ein Foto von der Leiche?«, fragte Mona, um
das Schweigen zu beenden. »Also eins vom Gesicht, das sie nicht
gleich umhaut?«
Fischer antwortete widerwillig. »Ja, wir haben da
was, na ja, Präsentables. Das mit der rausgeschnittenen Zunge sieht
man jedenfalls nicht.«
»Gut. Wenigstens das.«
»Was ist mit der Konferenz?«
»Es ist noch nicht mal elf, Hans. Bis eins sind wir
wieder hier.«