25
Donnerstag, 17. 7., 6.58 Uhr
Mona träumte von ihrer eigenen Bestimmung, die sich als Auftrag tarnte, und der wurde ihr von ihrem Vater erteilt. Im Traum erschien ihr der Vater riesengroß. Der Vater sagte Worte, die sie zwar verstand, die sich aber trotzdem nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen wollten. Die Mama und ich... Wir haben euch beide lieb, aber wir können nicht mehr... Aber du brauchst keine Angst zu haben... Du bleibst bei der Mama. Für dich wird sich gar nichts ändern. Und ich komme dich ganz oft besuchen.
Du bleibst bei der Mama.
Dieser Satz blieb hängen, als einziger. Mehr als das: Er zischte auf sie herab mit der Wucht eines Fallbeils. Ihr Vater ging weg und nahm ihre Schwester Lin mit. Aber Mona musste dableiben, damit die Mama nicht so allein war. Die Erkenntnis kam langsam, explodierte in ihr wie eine Zeitbombe: Sie hatte Angst vor ihrer Mama, ihren unberechenbaren Zuständen, ihren gewaltsamen Ausbrüchen, ihrer Trinkerei. Und nun würde es niemanden mehr geben, der Mona davor beschützte.
Das ist dein Auftrag, sagte ihr Vater mehrmals hintereinander, während der kleinen Mona die Tränen aus den Augen kullerten. Seine Stimme war hart, sein Gesicht schien immer größer zu werden, bis er aussah wie Gott. Mona wollte mit ihrem Vater gehen, egal wohin. Sie wollte auf keinen Fall in dieser Wohnung bleiben. Aber sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, und der lautete: Du sollst deine Mama davon abhalten, sich etwas anzutun.
Nun, immerhin, dachte sie im Traum, Letzteres hatte sie geschafft.
Gott verschwand und hinterließ ein Vakuum. Es gab keine Gefühle mehr in ihr, nicht einmal schlechte. Sie hatte alles ihrer Mutter gegeben und nichts dafür bekommen. Mona sah sich selbst auf einer blühenden Wiese. Sie beugte sich zu den Blumen herunter, aber sobald sie eine pflückte, verdorrte diese und lag braun und unansehnlich in ihrer Hand: Sie war nicht gut genug gewesen. Sie hatte ihre Mutter nicht gesund gemacht. Gott tauchte wieder auf, diesmal hatte er das Gesicht ihrer Mutter.
Kleine Lady, sagte ihre Mutter, und sah so aus wie früher, wenn ein Anfall kurz bevorstand: hämisch und gleichzeitig verängstigt. Der Wahnsinn nahm von ihrer Mutter Besitz, entzündete in ihr ein Feuer, das niemand löschen konnte, schon gar nicht sie selbst. Kleine Lady, das ist die Strafe. Und Mona weinte und weinte, denn sie wusste wohl, wofür sie bestraft werden musste. Sie hatte ihrer eigenen Mutter den Tod gewünscht, und das mehr als einmal. Solche Sünden waren unverzeihlich. Mona krümmte sich in der Erwartung des letzten vernichtenden Schlages. Doch das Gesicht Gottes, ihrer Mutter, verschwand hinter Wolken, es verlor seine Macht.
Mona wachte auf: eine erwachsene Frau, die sich vor niemandem mehr fürchten musste. Oder doch?
Sie sah auf den Digitalwecker neben ihrem Bett. Es dauerte, bis sie die grün leuchtenden Zahlen registrierte. Donnerstag, der 17. Juli, 6.59 Uhr. Gleich würde der Wecker klingeln. Mona lächelte. Auf ihren Wangen trockneten letzte Tränen.
Damals warst du still
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