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Donnerstag, 17. 7., 6.58 Uhr
Mona träumte von ihrer eigenen Bestimmung, die
sich als Auftrag tarnte, und der wurde ihr von ihrem Vater erteilt.
Im Traum erschien ihr der Vater riesengroß. Der Vater sagte Worte,
die sie zwar verstand, die sich aber trotzdem nicht zu einem
sinnvollen Ganzen zusammenfügen wollten. Die Mama und ich... Wir
haben euch beide lieb, aber wir können nicht mehr... Aber du
brauchst keine Angst zu haben... Du bleibst bei der Mama. Für dich
wird sich gar nichts ändern. Und ich komme dich ganz oft
besuchen.
Du bleibst bei der Mama.
Dieser Satz blieb hängen, als einziger. Mehr als
das: Er zischte auf sie herab mit der Wucht eines Fallbeils. Ihr
Vater ging weg und nahm ihre Schwester Lin mit. Aber Mona musste
dableiben, damit die Mama nicht so allein war. Die Erkenntnis kam
langsam, explodierte in ihr wie eine Zeitbombe: Sie hatte Angst vor
ihrer Mama, ihren unberechenbaren Zuständen, ihren gewaltsamen
Ausbrüchen, ihrer Trinkerei. Und nun würde es niemanden mehr geben,
der Mona davor beschützte.
Das ist dein Auftrag, sagte ihr Vater mehrmals
hintereinander, während der kleinen Mona die Tränen aus den Augen
kullerten. Seine Stimme war hart, sein Gesicht schien immer größer
zu werden, bis er aussah wie Gott. Mona wollte mit ihrem Vater
gehen, egal wohin. Sie wollte auf keinen Fall in dieser Wohnung
bleiben. Aber sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, und der lautete:
Du sollst deine Mama davon abhalten, sich etwas anzutun.
Nun, immerhin, dachte sie im Traum, Letzteres hatte
sie geschafft.
Gott verschwand und hinterließ ein Vakuum. Es gab
keine Gefühle mehr in ihr, nicht einmal schlechte. Sie hatte alles
ihrer Mutter gegeben und nichts dafür bekommen. Mona sah sich
selbst auf einer blühenden Wiese. Sie beugte sich zu den Blumen
herunter, aber sobald sie eine pflückte, verdorrte diese und lag
braun und unansehnlich in ihrer Hand: Sie war nicht gut genug
gewesen. Sie hatte ihre Mutter nicht gesund gemacht. Gott tauchte
wieder auf, diesmal hatte er das Gesicht ihrer Mutter.
Kleine Lady, sagte ihre Mutter, und sah so
aus wie früher, wenn ein Anfall kurz bevorstand: hämisch und
gleichzeitig verängstigt. Der Wahnsinn nahm von ihrer Mutter
Besitz, entzündete in ihr ein Feuer, das niemand löschen konnte,
schon gar nicht sie selbst. Kleine Lady, das ist die Strafe.
Und Mona weinte und weinte, denn sie wusste wohl, wofür sie
bestraft werden musste. Sie hatte ihrer eigenen Mutter den Tod
gewünscht, und das mehr als einmal. Solche Sünden waren
unverzeihlich. Mona krümmte sich in der Erwartung des letzten
vernichtenden Schlages. Doch das Gesicht Gottes, ihrer Mutter,
verschwand hinter Wolken, es verlor seine Macht.
Mona wachte auf: eine erwachsene Frau, die sich vor
niemandem mehr fürchten musste. Oder doch?
Sie sah auf den Digitalwecker neben ihrem Bett. Es
dauerte, bis sie die grün leuchtenden Zahlen registrierte.
Donnerstag, der 17. Juli, 6.59 Uhr. Gleich würde der Wecker
klingeln. Mona lächelte. Auf ihren Wangen trockneten letzte
Tränen.