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1981
Eine Politik, die versucht, alles zu
kontrollieren, produziert mit einem scheinbar paradoxen
Automatismus Nischen unzugänglicher Privatheit, und auf diese Weise
eine beinahe schrankenlose individuelle Freiheit. Der Junge konnte
in aller Ruhe seinen Neigungen nachgehen, weil es niemanden gab,
der ein Interesse daran gehabt hätte, seine seltsamen Hobbys zu
analysieren und in der Folge als bedenklich zu bezeichnen. Keine
schlafenden Hunde zu wecken galt als die geheime Devise schlechthin
in dieser Gesellschaft, und speziell die Mutter des Jungen war eine
Meisterin in der Disziplin des Wegsehens. Sein Vater hatte sich
blinde Flecken in der Wahrnehmung schon so früh antrainiert, dass
er tatsächlich nichts merkte.
Als der Junge neun Jahre alt war, erkrankte sein
Vater und erhielt die Diagnose: unheilbar. Er starb an einer
absichtlichen Überdosis Morphium, einem Mangelprodukt, an das er
als Klinikarzt zumindest leichter herankam als der Rest der
Republik. Der Selbstmord wurde erwartungsgemäß von seinen Kollegen
gedeckt und von seiner Frau vor Verwandten und Freunden vertuscht.
Aber geredet wurde dennoch.
In der Folge entwickelte der Junge ein abnormes,
von seiner Mutter irgendwann mit Ohrfeigen quittiertes Interesse an
den schauerlichen Details der mörderischen Krankheit.
Hatte Papa Krebs?
Ja. Weißt du doch.
Hat der Krebs ihn aufgefressen?
Nein. Der Krebs ist in dem Fall kein Tier,
sondern eine Art Geschwulst.
Was tut eine Geschwulst? (Er stellte sich
einen Wurm vor, der sich an seinem Vater dick und rund fraß. Dieses
Bild löste etwas in ihm aus, eine Art Faszination, die an Lust
grenzte.)
Sie verdrängt die gesunde Substanz. So und jetzt
ist Schluss damit.
Wie sieht die Geschwulst aus?
Hässlich. Schluss jetzt.
Wie hässlich? Ganz dick und rot?
Nein. Hör jetzt auf.
Hat sie ein Maul? Hat sie Zähne?
Nein!
Aber sie hat Papa innen aufgefressen, bis nichts
mehr von ihm übrig war? Nur noch die Haut und...
Hör jetzt auf mit diesem verdammten Quatsch,
sonst setzt es was!
Er fand im Bücherschrank seiner Eltern ein
medizinisches Lexikon, dessen Abbildungen von blutigen Tumoren an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Er vertiefte sich in
die Funktionen der Bauchspeicheldrüse. Pankreas-Karzinom, las er
schließlich. So lautete die genaue Diagnose, die sein Vater
erhalten hatte. Zu fast hundert Prozent tödlich. Er fand das
ungeheuer interessant. Er wollte beobachten, wie das ging. Den
Prozess herausfinden und analysieren.
Insekten besaßen keine Bauchspeicheldrüse, es war
also an der Zeit, sich mit anderen Tieren zu befassen. Sein erstes
größeres Studienobjekt war eine Maus, die er schwer verletzt in
einem Winkel des Gartens fand. Wahrscheinlich hatte eine der
Nachbarskatzen mit ihr herumgespielt und dann aus irgendeinem Grund
das Interesse an ihr verloren.
Der Junge schnitt der noch zuckenden Maus
vorsichtig den weichen, kleinen Bauch auf, doch sie blutete so
stark, dass man nichts richtig erkennen konnte. Als sie endlich tot
war und die Blutung nachließ, packte der Junge sie am Schwanz und
wusch sie vorsichtig unter dem Strahl des Gartenschlauchs. Durch
seine Lupe betrachtete er die winzigen, nun für immer stillgelegten
Organe. Er atmete flach und hastig vor Aufregung. Vorsichtig wollte
er mit der Messerspitze Darm und Magen freilegen, aber dann
erfasste ihn etwas, das er selber nicht benennen konnte, und er
stach wie wild auf den kleinen Kadaver ein, bis er nur noch eine
braungraue Masse war.
Danach fühlte er sich atemlos und schwach, aber
auch befriedigt, wie nach einer erfrischenden körperlichen
Anstrengung. Dennoch kam ihm zum ersten Mal in seinem Leben der
Gedanke, dass etwas an dem, was er tat, nicht in Ordnung war. Er
verscheuchte diese Idee mit einer anderen: Er beschloss, seine
Angelegenheiten (so nannte er es vor sich selbst) eine Zeit lang
ruhen zu lassen. Vielleicht für immer, dachte er.
Jedenfalls machte es auf die Dauer keinen Spaß,
wenn das Objekt danach so zerstört war, dass man nichts mehr damit
anfangen konnte. Er beschloss, sich künftig in dieser Hinsicht
zusammenzureißen, und lief ins Haus zurück, wo sich niemand sonst
befand, weil seine Mutter Nachtdienst hatte und seine Schwester
irgendwohin unterwegs war, wo sie ihn absolut nicht brauchen
konnte. Er schaltete den Fernseher ein und wieder aus. Es gab
niemanden, der ihn sehen wollte, und er selbst wollte auch
niemanden sehen.