11
1988
Der Junge erholte sich erstaunlich schnell von seinem ersten Selbstmordversuch. Tatsächlich konnte er sich noch am Abend desselben Tages in der Klinik nicht mehr wirklich daran erinnern, weshalb er sich eigentlich hatte umbringen wollen. Das hieß allerdings nicht, dass er seinem Schicksal (in Form seiner Mutter, die ihn in der Badewanne gefunden hatte, als sie pinkeln gehen wollte) dankbar war. Vielmehr nahm er es relativ emotionslos hin, dass er nun doch weiter auf der Welt sein würde, und da dies nun einmal der Fall war, würde er sich sein Leben auch nach seiner Façon gestalten. Am nächsten Morgen besuchte ihn Bena, die nur erfahren hatte, dass er »einen Zusammenbruch« erlitten hatte. Dem Jungen war ihre Anwesenheit sehr unangenehm, aber da er ihr in dieser Situation nicht entkommen konnte, nahm er Zuflucht zu seiner antrainierten Höflichkeit, die alle Bemühungen Benas, wieder Zugang zu ihm zu finden, umgehend zunichte machte. Eine halbe Stunde später verabschiedete sie sich traurig und vollkommen ratlos, und das blieb der letzte Kontakt zwischen ihnen beiden.
Einige Monate vergingen, in denen nicht viel passierte. Herbst und Winter waren nicht besonders kalt, aber so nass, dass sich weitere Aktionen von selbst verboten. Ohnehin hatte der Fall des toten kleinen Mädchens per Flüsterpropaganda ein derartiges Aufsehen erregt, dass auch offizielle Stellen sich gezwungen sahen, eine zwar sehr allgemein gehaltene, aber doch deutliche Warnung vor Mördern und Sittlichkeitsverbrechern zu veröffentlichen. Die Tipps waren zwar für potienzielle Opfer wenig hilfreich (auf die Idee beispielsweise, menschenleere Gegenden zu meiden, kam man auch von allein), aber immerhin würde sich der Junge künftig vorsehen müssen.
So verbrachte er seine Freizeit vorzugsweise in seinem Zimmer, auf dem Bett liegend, sich seinen Fantasien hingebend. Die Tatsache, dass nun auch andere Menschen zumindest theoretisch wussten, dass unter ihnen jemand lebte, der fremd und gefährlich war, machte dem Jungen einerseits Angst und schmeichelte ihm andererseits. Eine prekäre Balance: Er nahm sich nun als Abenteurer auf einer riskanten Expedition wahr. Das Einzige, was ihm noch fehlte, war ein Ziel. Alle Abenteurer, egal ob sie zu Fuß zum Südpol oder in den wilden Dschungeln Afrikas unterwegs waren, taten das nicht einfach so. Sie hatten alle ein Ziel, zumindest aber wollten sie etwas erfahren: über das Land an sich und über ihre Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen.
Er hingegen hatte ein kleines Mädchen umgebracht. Er hatte sie nicht wirklich getötet, aber ohne ihn wäre sie noch am Leben, das war Fakt. Andere Menschen taten so etwas nicht, das war ebenfalls Fakt. Warum er? Woher kam dieser Drang, den andere als abartig empfinden würden? Warum empfand er kein Mitleid wie zum Beispiel seine Russisch-Lehrerin, die mit tränenerstickter Stimme seiner Klasse von »dem entsetzlichen Verbrechen an einem wehrlosen kleinen Mädchen« berichtet hatte?
Das Mädchen gehörte zu den Schemen, und für Schemen konnte er keine Gefühle aufbringen. Nicht nur das, er glaubte auch den Schemen ihre Gefühle nicht. Sie redeten zu oft und zu viel davon. Du bist immer so beherrscht, hatte Bena einmal gesagt, damals, als sie noch viel zusammen waren. Als würdest du nichts wirklich an dich heranlassen. Sei doch mal locker, geh aus dir raus! Sei du selbst! Er selbst? Der Junge hatte darauf nicht geantwortet aber unbestimmt gelächelt, wie er seit ein, zwei Jahren immer lächelte, wenn es darum ging, sein wahres Ich, seine Schattenexistenz zu verbergen. In diesem Fall hatte es nichts genutzt, das hatte er an ihrem irritierten Gesichtsausdruck gesehen. Bena, die einzige Person, die ihm je etwas bedeutet hatte, hatte er nicht täuschen können, auch wenn sie nicht ahnte, was wirklich in ihm steckte.
Eines Abends ging seine Mutter aus. Sie zog sich ein Kleid an, das nicht besonders gut saß, weil sie in den letzten Jahren eine Menge abgenommen hatte, aber immerhin besser aussah als die verbeulten Hosen und überweiten T-Shirts, in denen sie gewöhnlich auf dem Sofa herumlümmelte, die Flasche immer in Griffweite. Heute aber schminkte sie sich sorgfältig vor dem Spiegel in der Küche, bis es vor der Haustür hupte. Ohne sich von dem Jungen zu verabschieden, der stumm am Küchentisch saß und sie beobachtete, nahm sie ihre Handtasche und ging hinaus. Instinktiv spürte der Junge, dass diese erste richtige Verabredung seit langer Zeit nicht nur im Leben seiner Mutter etwas ändern würde. Ein leichter Anflug von Panik überkam ihn.
Er ging zum Schreibtisch seiner Mutter, der in ihrem Schlafzimmer stand, und begann ihn methodisch zu filzen nach irgendeinem Hinweis, wer dieser Mann sein könnte, der offenbar dabei war, sich in ihr Leben zu drängen. Dabei stieß er ganz hinten in der Ecke einer Schublade auf ein dickes Bündel zusammengehefteter Umschläge. Er zerrte es hervor und stellte enttäuscht fest, dass es uralte Briefe seiner Großmutter an seinen Vater waren. Er warf sie hinter sich auf den Boden und suchte noch eine halbe Stunde weiter, ohne etwas zu finden, das ihn interessiert hätte.
Schließlich stopfte er alles in die Schubladen zurück (seine Mutter war so unordentlich mit ihren Sachen, dass sie bestimmt nichts merken würde) und stand auf. Sein Blick fiel auf ihr ungemachtes Bett. In der Kuhle zwischen Kissen und Decke lag zusammengeknüllt ein zart und seidig aussehendes, lachsfarbenes Etwas, das mit Sicherheit aus einem Intershop stammte. Seine Mutter besaß die dafür notwendigen Devisen nicht, also musste es ein Geschenk sein. Und allein dessen Vorhandensein sagte mehr aus als zehn Liebesbriefe. Der Junge ging zum Bett und hob das kurze Nachthemd, das er noch nie an seiner Mutter gesehen hatte, ans Gesicht. Es müffelte leicht nach ihrem spezifischen Körpergeruch, der ihn anzog und abstieß zugleich. Verächtlich warf er das Teil wieder aufs Bett und wollte das Zimmer verlassen. Gerade noch rechtzeitig entdeckte er die Briefe seiner Großmutter, die er auf den Boden geworfen hatte.
Er bückte sich und nahm sie mit, um sie wegzuwerfen. Seine Mutter hatte sie bestimmt kein einziges Mal gelesen und würde sie nicht vermissen, und sie wegzuwerfen war einfacher, als die Schublade erneut auszuräumen, um das Bündel wieder dahin zu schieben, wo er es gefunden hatten. Dann überlegte er sich, dass es doch einigermaßen auffällig war, die Briefe einfach in den Müll zu werfen. Sollte seine Mutter sie dort entdecken, würde sie wissen, dass er an ihren Sachen gewesen war – etwas, das sie hasste, wahrscheinlich, weil ihr ihr eigenes Chaos peinlich war.
Deshalb trug er die Briefe in sein Schlafzimmer, wo er sie unter der Bettdecke deponierte. Er machte sich ein Brot mit Butter und Wurst und aß es hastig im Stehen, während die Krümel, von ihm unbemerkt, auf den Küchenboden fielen. Danach würgte er einen halben Liter kalte Milch herunter. Er war nervös, und seine Glieder kribbelten, dass er am liebsten um sich getreten hätte. Es war so anstrengend, sich dauernd zusammenzureißen. Manchmal kam er sich vor wie ein Hund, der Tag und Nacht an der Kette lag, und nicht einmal bellen durfte. Draußen prasselte der Regen mit einer Ausdauer, als ginge es darum, den halben Landstrich unter Wasser zu setzen. Das bedeutete, dass er auch heute Abend nichts unternehmen konnte. Seine Sinne schärften sich auf unangenehme Weise, wie immer, wenn es bei ihm wieder »so weit war«. Er öffnete ein Fenster, weil er hoffte, dass ihn die kühle, nach Wald riechende Luft beruhigen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Er zog sich seinen Anorak an und lief an den See, der in der nassen Dämmerung zu schimmern schien. Er sah hinaus auf die glatte Fläche, auf der sich Myriaden von Tropfen bildeten und wie durch Zauberhand wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er lief am schlammigen Ufer entlang, ungeachtet der Tatsache, dass er für das Wetter nicht die richtigen Schuhe trug. Bald war er vollkommen durchnässt und zitterte.
Er nahm eine Abkürzung durch den Wald nach Hause. Natürlich begegnete er niemandem, und schon gar keinem potenziellen Opfer. Trotzdem fühlte er sich besser, weniger angespannt, als er das windschiefe Gartentürchen aufstieß und den Hausschlüssel aus der Hosentasche unter dem Anorak nestelte. Im Bad schälte er sich aus seinen nassen Kleidern und nahm eine heiße Dusche. Danach klaute er eine Zigarette von seiner Mutter, zündete sie an und begab sich in sein Schlafzimmer. Es war erst neun Uhr, zu früh, um zu schlafen. Unter der Bettdecke fand er das Bündel Briefe. Er zog die dünne Paketschnur ab, mit der es nachlässig zusammengebunden war, nahm wahllos einen der Briefe heraus und öffnete ihn. Die Schrift seiner Großmutter war groß und sehr leicht zu lesen. Diese Tatsache und dass er nicht wusste, was er mit diesem Abend sonst anfangen sollte, führte dazu, dass er sich durch den halben Packen arbeitete. Und nach zwanzig Minuten auf jenen Brief stieß, der ihm später einmal alles zu erklären schien – selbst seine fremdartigen Wünsche und Begierden.
Doch so weit war er jetzt noch nicht. Jetzt las er nur mit wachsender Spannung eine jener Geschichten, die sich vermutlich im Bodensatz jeder Familienlegende befinden und in aller Regel dem kollektiven Vergessen anheimfallen. Mehr als je war dem Jungen bewusst, dass er etwas Verbotenes tat, und er genoss es. Als er fertig war, faltete er das Schriftstück zusammen und versteckte es in einem seiner Schulbücher. Die übrigen Briefe wickelte er in altes Zeitungspapier und stopfte sie dann doch in den Mülleimer.
Nachts erwachte er von dem polternden Geräusch unsicherer Schritte. Er hörte das Wispern seiner Mutter und eine tiefere Stimme. Er hasste diese Stimme schon jetzt. Zornig starrte er in die Dunkelheit, fantasierte von einem gefesselten, durch geeignete Mittel wehrlos gemachten Mann, den er langsam töten würde. Allmählich fielen dem Jungen die Augen zu. Er befand sich auf einer breiten grauen Straße, die sich schnurgerade bis zum Horizont zog. Ein etwa achtjähriger Junge mit sehr blonden Haaren, so blond wie seine eigenen einmal gewesen waren, kam ihm mit unsicheren kleinen Schritten entgegen und sagte: »Komm mit mir. Ich kenne die schönsten Spiele der Welt.« Auch ihm fehlte der Zeigefinger der linken Hand, und auch sein Fuß war ganz leicht nach innen abgewinkelt. Dem Jungen kam es vor, als läge in dieser Erscheinung eine besondere Botschaft, aber er konnte sie nicht entschlüsseln.
Noch nicht.
Damals warst du still
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