21
Als Sabine die Tür hinter sich geschlossen hatte,
wartete David ein paar Minuten, dann begann er zu rufen und zu
schreien. Natürlich war das riskant, denn eventuell befand sich
Sabine noch in diesem Haus und würde ihn hören, aber er musste
alles versuchen, um gefunden zu werden. Freiwillig würde Sabine ihn
nicht gehen lassen, das wusste er. Er fühlte sich schlecht. Wieder
lag er in vollkommener Dunkelheit und Stille. Als das Licht noch
gebrannt hatte, hatte er festgestellt, dass der Raum fensterlos
war, bis auf ein winziges vergittertes Viereck, vor dem sich
wahrscheinlich auch noch ein Luftschacht befand. Er versuchte,
seine Augen auf dieses Viereck zu fokussieren, und ganz allmählich
löste sich ein grauer Schimmer aus der Dunkelheit. Das war nicht
viel, aber besser als nichts. David rief weiter um Hilfe und
horchte in regelmäßigen Abständen, ob irgendjemand darauf
reagierte.
Nichts geschah.
Woraus er schloss: Das Haus, zu dem dieser Keller
gehörte, stand entweder in einer menschenleeren Gegend oder war von
einem großen Garten umgeben. In beiden Fällen konnte er sich die
Seele aus dem Leib schreien, niemand würde ihn hören. Andererseits
gab es keine andere Chance, hier herauszukommen. Und er hatte
vielleicht nicht mehr viel Zeit. Er dachte sich zwei Sätze aus, die
er ständig wiederholte. Sie lauteten: »Ich heiße David Gerulaitis
und werde hier gefangen gehalten! Bitte rufen Sie die Polizei!« Er
rief diese Sätze, so laut er konnte, ohne große Hoffnung, aber in
dem Bewusstsein, dass Schreien sinnvoller war, als sich seinem
Schicksal zu ergeben.
Wie spät es wohl war? Welchen Tag sie wohl hatten?
Würde KHK Seiler ihn als vermisst melden? Vielleicht gab es Spuren
von ihm am Tatort, die man verfolgen konnte. Nun – sicher gab es
Spuren, winzige DNA-Spuren, die man mit seinen Haaren oder
Hautschüppchen vergleichen konnte (seine Wohnung, sein Bad, waren
ja voll davon). Andere Spuren am Auto des ermordeten Polizisten
würden zweifelsfrei zeigen, dass an dieser Stelle ein Kampf
stattgefunden hatte: Früher oder später würde man sich die Wahrheit
zusammengereimt haben, so viel zumindest war sicher. Aber bis man
zu einem Ergebnis kommen würde, war er tot. Sabine konnte ihn nicht
überleben lassen, nicht, nachdem er sie gesehen hatte.
»Ich heiße David Gerulaitis und werde hier gefangen
gehalten! Bitte rufen Sie die Polizei!«
Seine Stimme wurde heiser, und der Durst verstärkte
sich. Er versuchte, seine verschleimten Atemwege freizuhusten, aber
sein Husten klang staubtrocken, und als er einmal angefangen hatte,
konnte er kaum wieder aufhören. Er räusperte sich verzweifelt, um
das Kitzeln in seiner Kehle, seinen Lungen zu dämpfen. Als er das
nächste Mal rufen wollte, stellte er fest, dass er keine Stimme
mehr hatte. Er probierte es noch ein paar Mal, dann gab er
auf.
Eine halbe Stunde verging, in der David jede
einzelne Sekunde kommen, verharren und vorübergehen fühlte. Die
Zeit materialisierte sich in seiner Fantasie zu einer zähen,
undurchdringlichen Substanz, die sich mit provozierender Trägheit
voranbewegte, aber in Wirklichkeit kaum von der Stelle kam. Nach
dieser halben Stunde sehnte sich David mit zunehmender Nervosität
nach Licht und Gesellschaft – jeder Art von Gesellschaft, und wenn
sie seinen Tod bedeuten sollte. Jede Veränderung war ihm
willkommen, solange sie diesen unerträglichen Stillstand beendete.
Trotz der Schmerzen, die ihm das verursachte, wälzte er sich auf
den Rücken und den Bauch und dann wieder auf den Rücken, um seinen
Körper zu spüren, der ihm mehr und mehr abhanden zu kommen schien.
Er dachte an Geschichten von Leuten in Dunkelhaft, die oft schon
nach drei Tagen den Verstand verloren und ihren Schergen alles
erzählten, was diese hören wollten.
Die Würde des Menschen ist antastbar.
O ja, David wusste nun, dass das stimmte. Sich in
einem Zustand wie dem seinen zu befinden veränderte alles, auch die
eigene Identität, auch das Gefühl für sich selbst. Es beschädigte
wesentliche Eigenschaften wie Stolz und Mut, es veränderte den
Charakter von Grund auf und vielleicht für immer. Seine Gedanken
begannen, ein Eigenleben zu führen, Bilder durchfluteten ihn wie
ein endloser Strom an Erinnerungen, gespeicherten Filmszenen und
bloßen Hirngespinsten. Die dunklen Augen eines Jungen begannen ihn
zu verfolgen. Sie gehörten einem jungen Albaner, den David vor ein
paar Monaten verhaftet hatte. Er war einer von den kleinen Fischen,
die sich die eingesessenen Dealer-Familien als Nachschub ins Land
holten, wenn zu viele andere ins Netz der Ermittler gegangen
waren.
Seine Mutter war von den Serben vergewaltigt und
umgebracht worden, sein Vater verschollen. Das hatte er David
erzählt, und David hatte in seine Augen gesehen, und sie waren leer
gewesen wie die eines Menschen, der sich von seinesgleichen nichts
mehr erwartet und der auch nichts mehr zu geben hat. Die Würde
des Menschen ist antastbar. Davids Gedanken verwirrten sich; er
fiel in eine leichte Ohnmacht, aus der er Sekunden später wieder
erwachte.
Noch immer war es dunkel. Aber er hörte etwas. Das
Tap-Tap von Schritten auf der Treppe vor der Tür. Er fuhr hoch.
Nichts, was jetzt kam, konnte schlimmer sein als die letzte halbe
Stunde. Jemand machte sich fluchend an der Tür zu schaffen.
Schließlich schwang sie auf, Licht fiel von draußen herein, und
dann ging auch die Birne an der Decke an. David sah Sabine
hereinkommen, die etwas trug. Es war ein kleiner Fernseher mit
integriertem Videoteil. Sie stellte das Gerät keuchend vor Davids
Füße und suchte einen Anschluss für das Kabel. Schließlich fand sie
einen und schloss das Gerät an. Sie trug diesselbe Jeans und
dasselbe verschwitzte rote T-Shirt wie eben und war nicht mehr
maskiert. Ihr Gesicht sah, wenn das überhaupt möglich war, noch
blasser und verkniffener aus als vorhin. Der Ausdruck war seltsam,
beinahe krankhaft.
»Er will, dass du das siehst«, sagte sie
trocken.
»Wieso? Was?«, flüsterte David, denn mehr Volumen
gab seine malträtierte Stimme nicht her. Er spürte, wie das Fieber
stieg und ihm wieder der Schweiß ausbrach. Er begann zu zittern,
obwohl es hier unten warm war.
»Guck halt hin!« Sie schaltete den Fernseher ein
und drückte auf die Fernbedienung. Kurzes weißes Rauschen. Dann sah
David eine Gestalt vor einem Fenster sitzen in einem Zimmer, das er
nicht kannte. Die Kamera zoomte näher heran. Sonnenlicht fiel in
das Zimmer, und im hellen Gegenlicht war das Gesicht der Gestalt
nicht zu erkennen. Aber David wusste trotzdem sofort, wer es war.
Auch wenn er es nicht glauben konnte, nicht glauben wollte.