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Freitag, 25. 7., 10.47 Uhr
Olga Virmakowa, oder wie immer sie hieß, war eine
kleine, dicke Frau um die fünfzig. Sie lag auf einem der mit weißem
Leder bezogenen Sofas; das Erste, was Mona von ihr sah, waren ihre
voluminösen, blaugelb gemusterten Turnschuhe, die über die
Seitenlehne ragten, wahrscheinlich weil ihr ein Sanitäter geraten
hatte, die Beine hoch zu legen. Ansonsten war das Wohnzimmer leer,
nur die herausgezogenen Schubladen, abgehängten Bilder und hin und
her verschobenen Möbel zeigten, dass hier eine Reihe von Leuten
sämtliche Spuren gesichert hatten, die der Täter eventuell
hinterlassen hatte. Doch jetzt waren die Tatortleute abgezogen und
die Notarztwagen ebenfalls. Stattdessen würde der Leichenwagen, der
die Toten ins Institut für Rechtsmedizin transportieren sollte, in
den nächsten Minuten eintreffen. Fischer sprach zurzeit mit den
Klienten Plessens, die um acht Uhr vor dem Tor gestanden hatten,
vollkommen entsetzt über den Anblick der ermordeten Polizisten.
Schmidt, Forster, Bauer und die beiden Beamten vom LKA wuselten
wahrscheinlich irgendwo in diesem riesigen Haus herum, während
Clemens Kern bestimmt schon wieder in der Stadt war, an seinem
Computer saß und erneut versuchte, ein Tatmuster zu finden, das dem
Geschehen hier entsprach und auf diese Weise Rückschlüsse auf die
Identität des Täters zulassen würde.
Kern war Spitzenklasse in seinem Job, das
bezweifelte Mona nicht, und auch nicht Sinn und Zweck einer
ausgefeilten Fallanalyse. Aber die gute, alte, mühselig
frustrierende, so oft in Sackgassen endende Ermittlungsarbeit
konnte sie nicht ersetzen, die vor allem darin bestand, Fragen zu
stellen – sich selbst, den mittel- und unmittelbar Beteiligten, all
jenen, die glaubten, schon mit einer Theorie aufwarten zu können,
aber nur heiße Luft produzierten, und all jenen, die felsenfest
glaubten, nichts zu wissen, was manchmal stimmte, manchmal auch
nicht. Fragen stellen, und zwar die richtigen: Das war ihr Job.
Selbst die besten, aufrichtigsten Zeugen waren wie Züge, die man
aufs entsprechende Gleis setzen musste, weil sie sonst in die
falsche Richtung abdampften.
»Frau Virmakowa?«, sagte Mona und trat ans Sofa zu
der Frau mit den überdimensionierten Turnschuhen, die überhaupt
nicht zu ihrem einfachen grauen Kleid und den stämmigen, mit
hautfarbenen Nylons bestrumpften Beinen passten. Die Frau drehte
ihren Kopf in Monas Richtung, und Mona sah in überraschend helle,
sehr blaue Augen, die nichts Ängstliches an sich hatten, eher etwas
Schalkhaftes: Ganz offensichtlich hatte sie sich von dem Schock
ganz gut erholt. Mona setzte sich auf den Rand des Sofas und
lächelte die Frau an. »Sind Sie Frau Virmakowa?«
Die Frau nickte, den Blick unverwandt auf Mona
gerichtet.
»Können wir miteinander reden, oder sind Sie noch
zu müde?«, fragte Mona. Sie hatte nach der Unterhaltung mit Bauer
noch schnell mit der Klinik telefoniert, in der Plessen lag, und
erfahren, dass es keine Veränderung gab. Plessen war bewusstlos,
sein Zustand kritisch. Ihn hatten zwei Kugeln, eine im Knie und
eine unterhalb des Herzens, getroffen. Die Wunden an sich waren
also nicht lebensgefährlich, aber Plessen hatte viel Blut verloren,
und er war kein junger Mann mehr, der solche Verletzungen locker
wegsteckte. »Es ist gut möglich, dass er nicht mehr aufwacht«,
hatte der Arzt gesagt. »Es ist genauso möglich, dass er sich wieder
komplett erholt. In seinem gegenwärtigen Zustand können wir ihn
jedenfalls nicht operieren, und das ist schon mal schlecht.«
»Okay«, hatte Mona gesagt, und anschließend die beiden Schupos
angerufen, die vor seinem Zimmer Wache hielten. Sie hatten ihr
versprochen, Bescheid zu sagen, sobald Plessen ansprechbar sein
würde.
»Mir geht es gut«, sagte Olga Virmakowa mit tiefer,
ein wenig brüchiger Stimme und starkem, osteuropäischem Akzent. Sie
legte ihre warme, etwas verschwitzte Hand auf Monas und machte
Anstalten, sich aufzusetzen. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie Mona,
als handle es sich hier um einen Höflichkeitsbesuch. Vielleicht war
sie seelisch doch angeschlagener, als sie aussah.
»Gut, danke«, sagte Mona, entschlossen, keine
weitere Zeit zu verlieren. »Und bleiben Sie ruhig liegen. Sie
müssen nicht aufstehen, nur weil ich da bin.«
»Kann ich? Ich bin sehr erschöpft.«
»Natürlich, das macht gar nichts. Ich habe gehört,
Sie haben mit meinem Kollegen gesprochen, Patrick Bauer.«
»Ja. Er war sehr nett.«
»Ja, das stimmt. Frau Virmakowa, wie mir Herr Bauer
gesagt hat, haben Sie den Täter nicht deutlich sehen können,
und...«
»Nein. Nicht deutlich. Zu aufgeregt, zu viel Angst.
Gleich wieder die Treppe heruntergelaufen, damit er sieht mich
nicht.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
Ein Ausdruck von Angst lief über das Gesicht der
Frau. Sie antwortete nicht.
»Bitte, Frau Virmakowa. Der Mann hat Menschen
getötet.«
»Vielleicht. Ich – hoffe.«
»Okay. Sie haben Herrn Bauer gesagt, es war ein
junger Mann. Stimmt das?«
»Ja. Da bin ich sicher. Ein junger Mann, nicht
alt.«
»Jetzt interessiert mich eigentlich nur, warum Sie
da so sicher sind? Wenn Sie ihn doch gar nicht richtig gesehen
haben?«
Olga Virmakowa dachte nach, die Stirn in tiefe
Runzeln gelegt. »Bewegungen«, sagte sie schließlich.
»Bewegungen?«
»Ja, sie waren – jung. Nicht alt, nicht steif.
Jung.«
»Im Sinne von: elastisch, kräftig, sportlich, gute
Figur? Meinen Sie so was?«
»Ja, das alles, aber noch etwas... Ich weiß das
Wort nicht...«
Mona dachte nach. »Meinen Sie vielleicht...
routiniert?«
»Routiniert? Ich weiß nicht, was das heißt,
Entschuldigung...«
»Routiniert – also, wie jemand, der das schon öfter
gemacht hat?« Die richtige Frage kam manchmal wie aus dem
Nichts.
»Ja!«, sagte Olga Virmakowa und strahlte Mona an.
»Als ob er jeden Tag das macht. Als ob er viel übt, das zu machen.
Jede Bewegung hat gestimmt. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Sehr – äh – professionell. Wie im Fernsehen, wenn
sie zeigen Polizei.«
Monas Glieder wurden schwer wie Blei, und am
liebsten hätte sie sich neben die alte Olga auf die Couch gelegt.
Aber das war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt tun durfte. Sie
holte ihre Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche, schüttelte eine
heraus und zündete sie sich an. Nikotin war jetzt das Einzige, was
sie wach hielt. Und die Erkenntnis, die ihr nun mit Verspätung den
Adrenalinstoß versetzte, den sie brauchte, um alles Nötige in die
Wege leiten zu können.
Es ist einer von uns.
Es war zumindest möglich und wäre eigentlich nicht
wirklich überraschend. Eigentlich hätten sie schon eher darauf
kommen können. Die Taten, so verrückt sie waren, zeigten, was
Planung und Durchführung betraf, die Handschrift eines Vollprofis.
Kaum war Mona bei Plessens Schwester gewesen, schon starb diese am
nächsten Tag eines gewaltsamen Todes, und das, obwohl Mona sie
gewarnt hatte: Diese zeitliche Koinzidenz war doch kein Zufall. Da
hatte sie doch jemand genau beobachtet – und zwar so, dass sie es
nicht mitbekam. Da spielte jemand mit ihr, der wusste, wie
Ermittlungen abliefen. Und der ihnen deshalb immer den
entscheidenden Schritt voraus war.
David Gerulaitis. Der Einzige, der ihr
einfiel.
Nein, das war nicht möglich!
Oder doch?
David Gerulaitis war jung. Als verdeckter
Ermittler routiniert im Täuschen anderer. Geübt an der
Schusswaffe. Problemlos in der Lage, zum Beispiel ein Telefon
anzuzapfen, beispielsweise bei Helga Kayser. Kaum hatte Mona sich
per Anruf angekündigt, hatte er vielleicht schon eine Zugfahrt nach
Marburg gebucht. Sie erinnerte sich an ihr letztes Telefonat mitten
in der Nacht, als sie in diesem muffigen Marburger Hotel war. Er
hatte sie vom Handy aus angerufen. Das konnte er von überall her,
auch von Marburg aus. Er hatte ein Spiel mit ihr gespielt, von
Anfang an. Die Leiche, deren Fund er selbst gemeldet hatte, wodurch
er mit einem gewissen Automatismus aus dem Kreis der Verdächtigen
ausschied …
War das wirklich denkbar? Oder verrannte sie sich
da in irgendwas, ähnlich wie Berghammer mit seinem Schweizer
Heroin-Arzt?
»Frau... äh... Polizei?« Das war Olga Virmakowa,
die sie ganz vergessen hatte. Mona sah auf die Frau herunter, ihr
leicht pausbäckiges, abgearbeitetes Gesicht mit den blitzblauen
Augen.
»Entschuldigung, ich hab ganz vergessen, wo ich
bin.«
»Kann ich in mein Bett gehen? Sehr müde.«
Mona überlegte. »Nein, Sie müssen mitkommen«, sagte
sie dann. »In diesem Haus sind Sie nicht sicher.«
»Was? Nein, bitte, ich...«
»Es geht nicht anders«, sagte Mona. »Der Mörder
könnte zurückkommen. Und dann findet er Sie.«
»Ich...«
»Machen Sie sich keine Gedanken. Um Ihre
Aufenthaltsgenehmigung geht es nicht. Nur um Ihre
Sicherheit.«
»Ich habe nur Touristenvisum. Jede drei Monate
neu.«
»Das haben wir uns schon gedacht.«
»Ich kriegen Strafe?«
»Das glaub ich nicht. Schlimmstenfalls müssen Sie
nach Russland zurück.«
»Ja. Das wäre sehr schlimme Strafe.« Olga Virmakowa
setzte sich leise stöhnend auf, schwang erstaunlich behende ihre
Beine mit den absurd aussehenden Turnschuhen über die Sofalehne und
saß nun neben Mona. Sie roch ein wenig nach Schweiß und einem
billig parfümierten Waschmittel. Mona gab ihr vorsichtshalber ihre
Karte. »Mona Seiler«, sagte sie zu der Frau und deutete auf ihren
Namen. Hoffentlich konnte die Frau ihn lesen, in Russland gab es
doch eine ganz andere Schrift. Aber Olga Virmakowa nickte. »Mona
Seiler«, wiederholte sie und fuhr mit dem Zeigefinger den
Prägedruck nach. Dann fragte sie: »Sie Chef?«
Mona dachte einen Moment nach, bevor sie
antwortete. Dann sagte sie: »Ja, im Moment bin ich der Chef.« Und
es war ein gutes Gefühl, das ließ sich nicht leugnen.
Sie holte einen der Schupos, der Olga Virmakowa ins
Dezernat mitnehmen würde, und ging in die Diele, um David
Gerulaitis anzurufen, bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen, und
auch diesmal wieder umsonst. An seinem Festnetzanschluss lief der
Anrufbeantworter, dessen Aussage Mona inzwischen fast auswendig
konnte, und als sie seine Mobilfunknummer wählte, kam erneut die
Ansage »Diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Mona dachte nach, in der Diele stehend, das Handy
in der Hand, als Fischer von irgendwoher in ihre Nähe kam. »Hast du
mit Plessens Klienten gesprochen?«, fragte sie ihn.
»Ja, mit allen, die da waren«, sagte Fischer. Sein
Gesicht war bleich und unrasiert, seine Augen lagen tief in den
Höhlen. Er sah mindestens so erschöpft und leer aus, wie Mona sich
fühlte, aber seine Stimme klang wach und klar.
»Wussten die was?«
Fischer schüttelte den Kopf, schnappte sich den
einzigen Stuhl, der vor einem Spiegeltischchen neben der Garderobe
stand, und ließ sich darauf fallen, als würde er nie wieder
aufstehen wollen. »Plessen hat mit ihnen gearbeitet, ganz normal.
Gestern. Sie haben nichts Ungewöhnliches festgestellt, nichts
gesehen, nichts gehört. Das Übliche in diesem Fall. Allerdings
haben zwei gefehlt. Und drei waren heute früh nicht da.«
Mona horchte auf. »Wer?«, fragte sie.
»Die Teilnehmer wussten nur die Vornamen, aber ich
hab die Teilnehmerliste gefunden. Einer heißt Helmut Schwacke, die
andere Sabine Frost, der dritte David Gerulaitis. Das ist
derjenige, der heute früh nicht gekommen ist. Hier sind die
Unterlagen.« Fischer schwenkte ein DIN-A4-Blatt, wahrscheinlich die
Liste.
»Komisch«, sagte Mona. »Heute wäre der letzte Tag
des Seminars gewesen. Stimmt doch, oder?«
»Es hat gestern so eine Art Streit oder was
gegeben«, sagte Fischer. Er blätterte in seinem Block. »Jedenfalls
ist diese Sabine Frost gestern Mittag einfach abgehauen. Heulend,
sagen die anderen. Plessen hat sie wohl als so eine Art Flittchen
hingestellt.«
»Aha.«
»Und dieser Helmut Schwacke ist einfach nicht mehr
gekommen, schon gestern nicht mehr. David Gerulaitis war bis
gestern Abend da.«
»Die ganze Zeit?«, fragte Mona möglichst
beiläufig.
»Wie die ganze Zeit?«
»Dieser David soundso. War der die ganze Zeit da?
Außer heute früh?« Sie sah beklommen, wie Fischer ein Licht
aufging. Er studierte die Teilnehmerliste. »Dieser David – sag mal,
irgendwie kommt mir dieser Name doch verdammt bekannt vor.«
Irgendwann musste er es sowieso erfahren. »Da
könntest du Recht haben.«
Fischer fläzte sich in den Stuhl und starrte Mona
von unten herauf an. »Das war doch der, der die erste Leiche
gefunden hat. Der verdeckte Ermittler.«
»Stimmt«, sagte Mona.
Fischer dachte nach, wälzte in seinem müden Hirn
die Fakten hin und her. »Du hast ihn undercover
hergeschickt?«
»Richtig.«
»Er sollte das Seminar mitmachen und mal sehen, ob
der Mörder dabei ist?«
»Ja.«
Fischer sagte nichts darauf.
»Könnte sein«, sagte Mona langsam, »dass er
flüchtig ist.«
»Was?«
»Ich kann ihn seit gestern nicht mehr
erreichen.«
»Was heißt das?«
»Du hast mich schon gehört. Wenn er das Seminar
jeden Tag von morgens bis abends mitgemacht hat, hat er zumindest
für den Mord an Helga Kayser ein Alibi. Hat er das?«
»Warum hast du mir nichts gesagt? Vor der
Vernehmung von den Leuten? Du hast mich voll ins offene Messer
laufen lassen.«
»Fang nicht wieder mit diesem Blödsinn an, Hans.
Ich habe das Recht so was zu tun, auch ohne dass du mir dein Okay
gibst. Klar?«
»Mona...«
»War Gerulaitis gestern hier, also zum Zeitpunkt,
als Helga Kayser ermordet wurde, oder nicht?«
Fischer senkte den Kopf, zu müde, um die Sache mit
seiner üblichen Kampflust weiter zu verfolgen. »Er war da«, sagte
er schließlich. »Die ganze Zeit. Alle waren gestern da, außer
diesem Helmut Schwacke. Und dieser Sabine Frost, die mittags
abgehauen ist.«
»Trotzdem«, sagte Mona. »Irgendwas stimmt da nicht.
Ich kann Gerulaitis seit gestern Morgen nicht mehr erreichen. Sein
Handy hat keinen Empfang, auf dem Festnetz läuft immer nur der
Anrufbeantworter. Seine Frau scheint auch nie da zu sein. Ich
versteh das nicht.«
»Vielleicht ist ihm was passiert.«
»So oder so«, sagte Mona. »Ich werd ihn zur
Fahndung ausschreiben.«