26
Donnerstag, 17.7., 8.00 bis 14.40 Uhr
Am Donnerstag war der Himmel bedeckt, aber die Luft eher noch heißer. Schon gegen neun Uhr morgens ballten sich im Westen Gewitterwolken, ab und zu hörte man ein leichtes Donnergrollen. Mona und die restliche MK 1 setzten ihren Vernehmungsmarathon fort. Um eins trafen sie sich, um die Ergebnisse abzugleichen. Das Protokoll der Konferenz ergab folgende Fakten und Vermutungen:
1. Beide Morde hatten etwas mit Fabian Plessen zu tun. Ein Zusammenhang mit seinen Seminaren schien wahrscheinlich, denn:
2. Forster und Schmidt hatten Plessens umfangreiche Klientenliste durchtelefoniert. Sie erreichten in vier Stunden achtunddreißig Personen. Die meisten schwärmten von Plessens Seminaren. Viele gaben an, dass ihnen Plessen ein ganz neues, selbstbestimmtes Leben geschenkt hatte; hierbei handelte es sich meist um Leute, die bereits drei, vier Zyklen bei ihm absolviert hatten. Einige aber zogen vollkommen andere Resumees. Forster und Schmidt erfuhren, dass mindestens ein ehemaliger Klient Selbstmord begangen hatte. Ein weiterer befand sich seit der Therapie in psychiatrischer Behandlung; seine Frau gab Plessen die Schuld. Sie wurde vorgeladen.
3. Auch Sonja Martinez war vermutlich an einer Überdosis Drogen gestorben. Ob es Heroin war, ließ sich nicht mehr feststellen, zumindest aber gab es keine äußerlichen Verletzungen, keine Anzeichen für Gewaltanwendung. Ein natürlicher Tod hätte im Bereich des Möglichen gelegen, wären nicht die postmortal zugefügten Verletzungen am Unterleib gewesen.
4. Sonja Martinez hatte ihrem Mörder freiwillig die Tür geöffnet, Anzeichen für einen Einbruch gab es nicht. Das bedeutete: Sie hatte ihn entweder gekannt oder ihm vertraut.
5. Die Nachbarin von Sonja Martinez hatte einen Mann beobachtet, der möglicherweise der Täter war. Er war etwa 1,80 Meter groß, er trug vielleicht Jeans und ein T-Shirt mit Kapuze. Gesicht und Haare hatte die Nachbarin nicht sehen können, und auch zum Alter konnte sie keine Angaben machen. Sie glaubte, dass er »relativ schlank« war, wollte es aber nicht beschwören. Seine Stimme hatte sie nicht gehört. Sie wusste nicht einmal, ob Sonja Martinez ihn in ihre Wohnung gelassen hatte: Vielleicht war dieser Mann der Täter, vielleicht aber auch nur der Vertreter einer Drückerkolonne, der ein paar Zeitschriftenabos verkaufen wollte. Dagegen sprach allerdings, dass der Mann bei niemand anderem aus dem Haus geklingelt hatte.
6. Sonja Martinez’ Mädchenname lautete Nordmann. Fischer hatte nach einigen Telefonaten mit unterschiedlichen Meldestellen eine unverheiratete Schwester namens Lydia Nordmann ausfindig gemacht, die in Freiburg lebte. Tatsächlich schien die Familie so zerrüttet zu sein, wie Plessen es angedeutet hatte. Sonjas Schwester mit ihren drei Kindern hätte den Betrieb nicht leiten können, und da Sonja, die Älteste, den Textilbetrieb des Vaters nicht übernehmen wollte, hatte das mittelständische Unternehmen mit Verlust verkauft werden müssen. Der hart erarbeitete Wohlstand war schnell dahin gewesen. Sonja Martinez’ Vater war bald darauf an einem Herzinfarkt gestorben, die Mutter lebte schwer rheumakrank in einem Pflegeheim. Lydia Nordmann berichtete, vor sieben oder acht Jahren den Kontakt zu ihrer Schwester abgebrochen zu haben. Auch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder habe Sonja Martinez nichts mehr zu tun gehabt. Somit stimmten die Angaben auf sehr erstaunliche Weise mit Plessens Interpretation überein.
7. Aufgrund des enormen Medienechos hatten sich schon am Vormittag mehrere Menschen gemeldet, die glaubten, Samuel Plessen vor seinem Tod gesehen zu haben. Sie waren allesamt vorgeladen worden, damit ihre Aussagen protokolliert werden konnten. Folgendes schien bereits sicher zu sein: Samuel Plessen hatte sich tatsächlich gegen zwölf Uhr am letzten Tag seines Lebens mehrere Stunden an einem Baggersee aufgehalten. Dort hatten ihn mindestens zwei Personen anhand der Fotos, die in Fernsehen und Zeitungen erschienen waren, identifiziert. Danach wurde er in einem Biergarten unweit Gerstings gesehen. Bei beiden Gelegenheiten schien er allein gewesen zu sein. Zumindest konnte sich niemand der Zeugen an eine Begleitperson erinnern (was nichts zu sagen hatte; das Gedächtnis der meisten Menschen war selektiv). Ab etwa 16.00, 17.00 Uhr desselben Tages verlor sich jede Spur. Aber vielleicht würden sich im Lauf des Tages noch mehr Zeugen melden.
8. All das bedeutete: enttäuschte Journalisten, die sich in wilden Spekulationen ergingen, weil es auf der PK um elf so wenig Neues zu berichten gegeben hatte. Nur die Abendzeitung konnte sich über den Scoop des Jahres freuen, denn die Story über eine Frau, die sich bei der Zeitung über einen zweifelhaften Therapeuten beschwerte und kurze Zeit später ermordet aufgefunden wurde, wurde einem nicht alle Tage beschert. Entsprechend war der Artikel aufgemacht. Eine Reihe von Klienten würde Plessen nun verlieren, so viel schien jetzt schon sicher.
»Hat jemand Hunger?«, fragte Berghammer am Ende der Konferenz. Mona hätte am liebsten nicht reagiert, aber sie wusste, dass das nicht ging. Berghammers Frage bedeutete nicht nur, dass der Chef Hunger hatte und keine Lust, allein zu essen. Sie war vielmehr ein verklausulierter Befehl, der sich an Mona und Hans Fischer richtete und ein Gespräch unter sechs Augen beinhaltete. Mona und Fischer nickten also, obwohl sich die Arbeit stapelte und es eigentlich nichts zu besprechen gab, was nicht schon in der Konferenz Thema gewesen wäre.
»Pizza?«, fragte Berghammer und sah Mona an. Sein Gesicht war schweißbedeckt, der Schnurrbart hing traurig nach unten. Der Rest der MK 1 verdrückte sich nach draußen.
»Mir egal«, sagte Mona ergeben und nahm ihre Tasche. »Und du, Hans?«
»Pizza ist okay«, murmelte Fischer und stand ebenfalls auf. Nach Berghammers zufriedenem Gesicht zu urteilen war das die richtige Wahl gewesen. Die Aussicht auf eine Mahlzeit und ein Bier schienen seine Lebensgeister wieder anzufachen; er wirkte beinahe gut gelaunt. »Wir nehmen mein Auto«, sagte er und dirigierte Mona und Fischer zum Lift in die Tiefgarage.
Sie fuhren zu Berghammers Stammpizzeria nicht weit vom Hauptbahnhof, wo es einen Parkplatz extra für Berghammer gab, der nur dann zu Fuß ging, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. »Ich hab eine Überraschung für euch«, sagte er, als sie ausstiegen. Mona wandte ihren Blick zum Himmel, der sich noch weiter verdüstert hatte. Die heiße, abgasgesättigte Luft wirkte wie zusammengeballt.
»Was für eine Überraschung?«, fragte sie, den Straßenlärm übertönend.
»Warte nur ab.«
Sie gingen in das Lokal. Mona mochte den Laden nicht mit seiner holzgetäfelten Rustikaleinrichtung und seinen funzligen Lampen unter hässlich bestickten Stoffschirmen, aber ab und zu musste Berghammer dieser Gefallen getan werden. Berghammer begrüßte derweil jovial den Kellner, der die Dreiergruppe zu einem Tisch geleitete, an dem bereits ein Mann saß. Mona erkannte überrascht, dass es Kern war, ein Mitglied der OFA, der es seit einem Kindermord im Umland, der mit seiner Hilfe aufgeklärt werden konnte, zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte. In den Medien wurde er grundsätzlich »Profiler« genannt, was Kern sich stets erfolglos mit dem Hinweis verbat, er sehe sich als Fallanalytiker. Aber Fallanalytiker las sich wahrscheinlich nicht sexy genug.
»Ist das hier ein konspiratives Treffen?«, fragte Mona und setzte sich auf die Holzbank gegenüber von Kern, einem dünnen Mann Mitte dreißig mit ernstem schmalem Gesicht, das nur lebhafter wirkte, wenn Fachliches erörtert wurde. Berghammer schob seinen voluminösen Leib neben sie. Selbst bei dieser schlechten Beleuchtung sah man die Schweißflecken auf seinem blauen Hemd, und der Geruch war auch nicht gerade appetitanregend. Eigentlich mochte und schätzte Mona Berghammer. Aber er gab sich wie alle Männer der Mordkommission außer Fischer und Bauer: so uneitel, dass es schon beinahe eine Zumutung war.
»Das ist doch kein Zufall«, sagte Mona und rückte ein wenig von Berghammer ab. »Dass er auch hier ist. Oder?«
Berghammer sagte nichts, Kern schwieg ebenfalls.
»Martin! Was soll das? Wieso...«
Der Kellner brachte die Speisekarten, und Mona verstummte genervt. Warum war Kern, wenn Berghammer ihn dabeihaben wollte, nicht einfach in die Konferenz geladen worden? Warum saßen sie hier herum und vertaten wertvolle Zeit? Warum...
Als der Kellner zurückkam, bestellte sie blind eine Pizza Margherita und eine Cola. Berghammer nahm Calzone und ein Bier, Fischer dasselbe wie Mona und Kern entschied sich für Penne all’arrabbiata.
Dann schwiegen sie, bis ihre Getränke kamen.
Nachdem Berghammer einen großen Schluck genommen und seinen Mund abgewischt hatte, schien er endlich willens zu sein, den Sinn der Zusammenkunft zu erklären.
»Ihr kennt euch?«, fragte er mit Blick auf Mona und Kern. Beide nickten irritiert, Fischer ebenfalls, obwohl Berghammer ihn gar nicht beachtete.
»Lasst uns nicht mehr drumherum reden«, sagte Berghammer und fixierte abwechselnd Mona und Kern. »Das hier ist ein astreiner Serientäter. Der macht weiter, wenn wir ihn nicht stoppen. Deshalb hab ich Clemens dazugeholt.«
»Klar«, sagte Mona. Warum diese Präliminarien? Sie hatte mit Kern bereits gearbeitet, es hatte keine Probleme gegeben.
»Dir ist das recht?« Berghammer sah erstaunt und erleichtert aus.
»Sicher. Wieso nicht?« Langsam ging Mona ein Licht auf. Berghammer hatte geglaubt, sie würde glauben, er ziehe ihre Kompetenz in Zweifel, wenn er schon zu Anfang der Ermittlungen Hilfe von außen holte. Typisch Mann, dachte sie. »Wir machen das doch immer bei Serientätern«, sagte sie. »Genau dafür gibt’s doch diese Abteilung, oder nicht?«
»Äh ja«, sagte Berghammer. »Genau. Ganz genau.« Er sah aus, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Die Pizza kam, und Berghammers Gesicht entspannte sich, bis er beinahe aussah wie der kleine dicke Junge, der er mal gewesen war. Mona dachte an den Urlaub. In dreizehn Tagen würde sie im Flugzeug Richtung Griechenland sitzen. Wenn alles glatt ging. Im Moment sah es nicht so aus.
Damals warst du still
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