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1983
Der Junge war gut in der Schule, machte seine
Hausaufgaben vorbildlich, gab nichts Republikfeindliches von sich.
Er nahm brav an den Treffen der jungen Pioniere teil, obwohl das
seine freie Zeit noch mehr einschränkte. Er fiel nicht weiter auf,
obwohl er keine Freunde hatte, nicht einmal lose Bekannte, mit
denen er ab und zu etwas unternahm: Er erfüllte alle formalen
Rahmenbedingungen, die der Staat seinen Bürgern abverlangte, und
mehr interessierte den Staat nicht. Das Gesicht des Jungen war
hager geworden und hatte die frühere Lieblichkeit verloren. Seine
Haare waren nicht mehr fein gelockt, sondern dick und strohig,
seine Augen blickten ständig in eine andere Richtung. In sich trug
er Wünsche und Begierden, Träume und Vorstellungen, die er mit
niemandem teilen konnte: Jemanden ins Vertrauen zu ziehen, um auf
diese Weise vielleicht einen Gefährten zu finden, war einfach zu
riskant.
Der Junge war alt genug, um zu verstehen, dass es
in seiner engeren Umgebung niemanden gab, der so war wie er. Was er
dachte und fühlte fanden andere entsetzlich und abstoßend, das
wusste er. Aber für ihn waren seine Gefühle in Ordnung, er kannte
ja keine anderen. Sie verängstigten ihn manchmal wegen ihrer Kraft
und Vehemenz, die oft etwas Befehlendes an sich hatte. Aber er wäre
nie auf die Idee gekommen, ihnen nicht Folge zu leisten: Was sein
musste, musste sein.
An den freien Wochenenden streifte er durch die
Natur und beobachtete die Reiher, die im Schilf des Sees nisteten.
(Sollte er eines Tages zur Volksarmee gehen, würde er ein Gewehr
bekommen, das er heimlich mitgehen lassen konnte. Dann könnte er
die Reiher abschießen; er freute sich auf diesen Moment.) Es gab so
viele Tiere in dieser Gegend, aber sie waren so schwer zu fangen
und zu töten. Nur Mäuse und Ratten hatte er bisher erwischt und
einmal einen jungen Hund. Die Nachbarn hatten ihn ihrer kleinen
Tochter geschenkt, die bitterlich weinte, als der Hund, den sie
Dago getauft hatte, nicht mehr aufzufinden war. Dem Jungen gefiel
die Vorstellung, dass all die Aufregung seinetwegen stattfand. Er
hatte den Hund beziehungsweise dessen Überreste im Wald an einer
schwer zugänglichen Stelle begraben und die Stelle danach
sorgfältig mit altem feuchtem Laub, Moos und Tannennadeln bedeckt,
bis man nichts mehr sah. Danach hatte er sein Messer im nahen See
gesäubert und war nach Hause geschlendert. Er war zufrieden mit
sich: Er hatte sich zusammengenommen, die Leiche des Hundes nicht
wild und unbeherrscht zerstört, sondern nach allen Regeln der Kunst
– seiner Kunst – seziert und damit die Befriedigung erlangt, die er
suchte.
Manchmal gab er sich Namen, die er aus dem
Westfernsehen oder aus Büchern aufschnappte. Werwolf zum Beispiel.
Er sah einen Film, in dem sich ein normaler Mann eines Nachts bei
Vollmond in eine reißende Bestie verwandelte, die nur von einer
schönen Frau gezähmt werden konnte, und so gefiel sich der Junge
eine Zeit lang als blutrünstiges Monster, das sich in einem Jungen
versteckte und auf Ausbruch sann. Schließlich bevorzugte er aber
eine neue Rolle: die eines Auftragskillers der Mafia, der jedes
seiner Opfer mit einem kleinen Mal kennzeichnete – als Indiz für
seine Kunden, dass er einen guten Job geleistet hatte, den niemand
so perfekt erledigen konnte wie er. Er wollte es sauber und
sorgfältig tun, nicht brutal und chaotisch. Er wollte kein Opfer
seiner Triebe sein, sondern die Kontrolle behalten.
Aber so konkret waren seine Fantasien nicht immer.
Jedes Tier, das er tötete, untersuchte und anschließend ausweidete,
öffnete gleichsam die Tür zu einer neuen Bilderwelt, die manchmal
nur aus sich langsam verändernden Farben und Formen bestand,
manchmal aber auch aus seltsam authentisch wirkenden
Erinnerungsfetzen an ein früheres, anderes Leben, das er in
bewusstem Zustand nicht kannte.
Sobald er aus dieser somnambulen Verfassung
erwachte, fühlte er sich gleichzeitig leer und beschmutzt, so wie
es ihm in manchen Nächten ging, wenn ihm übel war und er sich
übergeben musste. Manchmal – immer noch zu oft! – lag vor ihm ein
totes Lebewesen, das fürchterlich zugerichtet war, ohne dass der
Junge wusste, wie genau das passiert war. Dieser Anblick ekelte ihn
jedes Mal aufs Neue, und er begann sich selbst zu hassen: Weil er
sich wieder nicht hatte beherrschen können. An solchen Tagen wirkte
er auf seine Umgebung schlecht gelaunt, aggressiv und verwirrt.
Aber niemand dachte sich viel dabei.
Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters begann sich
seine Mutter sporadisch mit Männern zu treffen. Seine Schwester war
zu diesem Zeitpunkt von einem Jungen aus der Nachbarschaft
schwanger und hielt sich mehr bei dessen Familie auf als bei ihrer
eigenen. Seine Mutter hörte endgültig auf, ihn zu beobachten, und
konzentrierte ihre Energie stattdessen darauf, wieder Spaß am Leben
zu haben, wie sie sich ausdrückte. Spaß: das waren wechselnde
Partner, mit denen sie nach dem Abendessen im Bett verschwand. Der
Junge konnte sie nachts manchmal hören; dann hielt er sich die
Ohren zu, krümmte sich wie ein Embryo in seinem Bett und tauchte ab
in sein Universum der Grausamkeit, in dem er sich mittlerweile mehr
zu Hause fühlte als dort, wo sich sein reales Leben
abspielte.