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Mittwoch, 16. 7., 20.35 Uhr
Plessen trug schwarze, leicht knittrig wirkende
Leinenhosen und ein schwarzes Seidenhemd, das über der Hose hing.
Auch seine Frau hatte weite, schwarze Kleidung an. Zu Monas
Überraschung waren sie nicht allein: Fünf Menschen, drei Männer und
zwei Frauen, erhoben sich, als Plessen und seine Frau Mona und
Bauer ins Wohnzimmer brachten.
»Das sind Freunde«, sagte Plessen.
»Wir würden gern mit Ihnen beiden allein sprechen«,
sagte Mona.
»Natürlich. Könntet ihr...«
»Sicher, Fabian«, sagte einer der beiden Männer.
»Bitte sag Bescheid, wenn du uns brauchst.«
»Macht es euch einfach auf der Veranda
gemütlich.«
»Kein Problem.« Sie verschwanden lautlos wie
Erscheinungen.
Mona fiel auf, dass alle vorhandenen Lampen
eingeschaltet waren, nicht nur im Wohnzimmer, auch in der Diele:
Das Haus war so hell erleuchtet, als wollte es ein Signal setzen
gegen die ewige Dunkelheit des Todes. Das Wohnzimmer war zur
Terrasse hin verglast, und Mona überlegte unwillkürlich, wer von
den Journalisten sie gerade beobachtete, daraus seine Schlüsse zog
und vielleicht ein paar unscharfe Bilder schoss. Aber sie sagte
nichts, um das Paar nicht noch mehr zu beunruhigen.
»Haben Sie mit jemand von den Medien gesprochen?«,
fragte sie Plessen.
»Nein.«
»Das ist gut«, sagte Mona. »Ich meine, einige von
denen bieten viel Geld für Exklusivgeschichten. Trotzdem wäre es
besser...«
»Wir werden sehen«, sagte Plessen mit entschiedener
Stimme, sichtlich bestrebt, das Thema zu beenden.
»Möchten Sie mit uns essen?«, fragte seine Frau,
die noch dünner und blasser aussah als bei ihrer Vernehmung im
Dezernat und nicht nur tieftraurig, sondern auch verunsichert
wirkte. Was bot man Polizisten an, die ausgerechnet zur
Abendessenszeit einen Besuch abstatteten?
»Nein danke«, sagte Mona höflich, obwohl sie großen
Hunger hatte und sicher war, dass es Bauer genauso ging.
»Vielleicht einen Kaffee? Ich habe auch Cappuccino
und...«
»Kaffee für mich, schwarz, danke«, sagte
Mona.
»Für mich auch«, sagte Bauer eilig, sichtlich
eingeschüchtert von dem Reichtum und dem Geschmack, den diese
Umgebung ausstrahlte.
Frau Plessen zog sich daraufhin in die Küche
zurück, Plessen selbst blieb bei Mona und Bauer im Wohnzimmer. Der
Raum war sehr groß, es gab nur wenige Möbel darin, und jedes
einzelne Stück wirkte, als sei es speziell für den Platz, an dem es
stand, hergestellt worden. Mona und Bauer nahmen vorsichtig Platz
auf einer voluminösen Couch aus rot changierendem Stoff, der aussah
und sich anfühlte wie Seide. Plessen setzte sich gegenüber in einen
schwarzen Sessel. Zwischen ihnen stand ein blank polierter
Glastisch auf einem quadratischen Sockel aus grünlichem Metall.
Mona stellte vorsichtig das Tonbandgerät auf den Tisch, schaltete
es ein, und sprach die üblichen Präliminarien darauf.
Sie wusste nicht genau, was bei dieser Vernehmung
herauskommen sollte, und das machte die Situation schwierig. Dass
Plessen kein Verdächtiger war, stand für sie weiterhin fest. Auch
seine Frau schied in ihren Augen aus. Was also konnten die beiden
wissen, was sie wirklich weiterbrachte? Hatten sie bei der ersten
Vernehmung etwas verschwiegen, und wenn ja, war das Absicht oder
Versehen gewesen oder nur deshalb passiert, weil sie nicht die
richtigen Fragen gestellt hatten?
»Sie haben erfahren, dass Frau Martinez umgebracht
wurde?«
»Ja, das hat mir einer Ihrer Mitarbeiter gesagt.
Herr...«
»Bauer. Patrick Bauer. Mein Kollege hier.«
»Oh, entschuldigen Sie, ich hab vorhin Ihren Namen
nicht richtig verstanden.«
»Macht nichts«, sagte Bauer. Mona spürte mehr, als
dass sie es sah: Bauer war nervös, verlagerte ständig seinen
Schwerpunkt, rutschte hin und her und machte damit auch sie nervös.
Als sie vor dem Haus der Plessens parkten, hatten sie vor dem
Aussteigen noch kurz über die Strategie der Vernehmung gesprochen.
Bauer, so wollte es Mona, sollte sich zurückhalten, aber genau
zuhören, und sofort einhaken, falls ihm Widersprüche auffielen. Das
zumindest konnte Bauer nämlich wesentlich besser als seine
Kollegen, speziell Fischer: genau zuhören. Und dabei nicht
dreinschauen, als würde er seinem Gegenüber am liebsten ins Gesicht
springen.
»Frau Martinez ist wahrscheinlich auf ähnliche
Weise umgekommen wie Ihr Sohn«, sagte Mona.
Plessen wurde noch blasser, als sei ihm bislang
nicht klar gewesen, dass zwischen den beiden Morden ein
Zusammenhang bestehen musste. Kunststück, dachte Mona, sie hatten
ja selber nicht daran glauben wollen. Ein Mord aus Rache oder
Habgier, begangen vom Ehemann, wäre so viel einfacher gewesen und
hätte so viel weniger lästige Öffentlichkeit eingebracht.
Fernsehen, Radio, Presse – alle hatten blitzschnell Bescheid
gewusst und die entsprechenden Schlüsse gezogen, jeder wollte
Interviews und Statements, niemand ließ sich mehr von der von
Berghammer in Aussicht gestellten PK am nächsten Morgen
beruhigen.
»Das steht zwar noch nicht fest«, fuhr Mona fort,
»weil die Liegezeit des Opfers zu lang war, um Drogen im Körper
isolieren zu können. Aber...«
»Die Buchstaben«, unterbrach sie Plessen. »Auf dem
Bauch. Das hat mir Ihr Kollege schon gesagt.«
Mona warf Bauer einen Blick zu, er sah weg. Die
Regel war, dass man Zeugen möglichst vage über die näheren Umstände
ihrer Vernehmung informierte. Zeugen sollten berichten, was sie
wussten, und keine Stories verbreiten, die sie sich vorab
zurechtgelegt hatten. Aber jetzt war es zu spät.
»Was hat Ihnen Herr Bauer sonst noch gesagt?«
»Nichts. Nur das mit den Buchstaben.«
»Nichts über die Leiche?«
»Nein. Warum?«
Wenigstens das. Mona hatte ein paar Fotos dabei,
für den Fall, dass die Plessens nicht kooperierten. Ein paar
wirklich schlimme Bilder, jedenfalls für Laien. Manchmal machten
Schockeffekte dieser Art gesprächig. Es war nicht ganz fair und
sorgte oft für schlimme Träume, aber das Ziel war die Wahrheit, und
die rechtfertigte in ihrem Job durchaus auch grobe Mittel.
»Was war mit der Leiche?«, fragte Plessen.
»Darüber sprechen wir noch. Jetzt brauche ich
Informationen über Frau Martinez. Möglichst detailliert.«
»Ja. Fragen Sie.«
»Sie war Ihre Patientin?«
»Patientin? Nein. Ich bin kein Arzt.«
»Sondern? Was dann?«
»Klienten kommen zu mir, um zu erfahren, warum sie
Probleme haben, die sie nun schon jahrelang, oft ihr ganzes Leben
lang, begleiten.«
»Und die behandeln Sie dann?«
Plessen lächelte plötzlich und schaffte es auf
mysteriöse Weise, dass Mona sich beinahe dumm vorkam, zumindest
aber taktlos und ungeschickt. Als sei es albern, einem Mann wie
Plessen solche Fragen zu stellen.
»Nein, so kann man das nicht nennen«, sagte er, und
Mona musste wieder an die Fernsehsendung denken: Plessen hatte
damals die Gesprächsführung ganz mühelos an sich genommen und dem
Publikum auf diese Weise den Eindruck vermittelt, dass der
Moderator gar nicht da war, oder jedenfalls in diesem Moment nicht
wichtig.
»Ich behandle ›die‹ nicht«, sagte Plessen. »Wir
versuchen gemeinsam, die Wurzel ihrer Probleme aufzuspüren.«
»Und das haben Sie auch bei Frau Martinez
gemacht?«
»Ja. Gemeinsam mit den anderen.« Seine Stimme war
so leise, dass Mona unwillkürlich das Tonbandgerät näher an ihn
heranschob, aber sie verstand dennoch jedes Wort.
»Welche anderen?«, fragte sie.
Wieder lächelte Plessen, als sei Mona ein
trotziges, aber doch viel versprechendes junges Ding, das nur noch
etwas Feinschliff brauchte, um auf seiner Ebene kommunizieren zu
können. Er beugte sich vor und sah ihr direkt in die Augen, und
Mona verlor sich fast in diesem Blick, der keine Angst zu kennen
schien, sondern ein beinahe hypnotisches Selbstbewusstsein
ausstrahlte.
»Welche anderen?«, wiederholte sie.
Plessen senkte die Augen. Der Moment war vorüber,
Mona sah wieder einen alten Mann vor sich, gramgebeugt von seinem
Kummer. Aber seine Stimme blieb melodisch und sanft, gleichzeitig
sicher und klar, wie die eines geübten Verführers.
»Ich mache keine Einzelsitzungen«, sagte er. »Wir
arbeiten nur in der Gruppe. Das ist in erster Linie ein
energetischer Prozess. Daran sind viele beteiligt, nicht nur der
Klient und ich.« Seine Frau kam herein und brachte den Kaffee,
schwarz und heiß, wie Mona ihn mochte. Bauer nahm seine Tasse und
lächelte Frau Plessen an. Sie lächelte zurück, mechanisch und
trotzdem charmant. In diesem Moment hatte Mona eine Idee. Es war
ein Risiko, aber auch eine Chance: Vielleicht würde eine Frau wie
Roswitha Plessen einem netten, vertrauenswürdigen jungen Mann mehr
erzählen als jemandem wie Mona.
»Frau Plessen«, sagte Mona, »ich möchte, dass Sie
sich mit meinem Kollegen unterhalten. Das spart uns allen Zeit.«
Bauer starrte sie verblüfft an. Glücklicherweise sagte er nichts.
Auch Plessens unerschütterliche Ruhe schien plötzlich einen kleinen
Riss bekommen zu haben.
»Sie meinen – woanders als hier?«, fragte seine
Frau. Sie schwankte leicht. Ob sie sich in der Küche einen
genehmigt hatte? Wenn ja – umso besser.
»Ja«, sagte Mona. »Ist das ein Problem?«
»Äh, nein. Fabian...?«
Plessen machte ein Gesicht, als wollte er Protest
einlegen, aber Mona kam ihm zuvor. »Bitte«, sagte sie. »Die
Vernehmung ist auf die Weise einfach effizienter.«
Bauer stand langsam auf. Eine Vernehmung allein
führen zu können, das war ein Vertrauensbeweis. Mona sah ihn nicht
an, aber sie hoffte, dass er es packen würde. Dass er, auch ohne
vorherige Absprache, wusste, was sie von ihm erwartete. Er kennt
die Fakten, sagte sie sich. Er ist klug. Er weiß, worauf wir hinaus
müssen.
»Wir könnten in die Küche gehen«, sagte schließlich
Frau Plessen mit unsicherer Stimme. Wieder schien sie zu schwanken,
Bauer nahm ganz zart und selbstverständlich ihren Ellbogen.
»Also...«, sagte Plessen. Er erhob sich halb,
setzte sich dann aber wieder hin.
»Gute Idee, das mit der Küche«, sagte Mona, und
nickte Bauer zu. Du kriegst das hin, Patrick. Und Bauer, als hätte
er plötzlich einen optimistischen Schub, führte Frau Plessen
langsam zur Tür, und er machte das gar nicht übel. Mona hoffte,
dass er nicht vergaß, sein Band zu benutzen.