12
Dienstag, 22. 7., 12.25 Uhr
Nach dem Gespräch ging Mona allein in ihr Büro zurück und setzte sich noch einmal an die Akten. Sie ging die Vernehmungsprotokolle durch, eins nach dem anderen.
Das junge Mädchen, das in Samuel verliebt gewesen war, aber dann nicht mehr, als er anfing, Heroin zu nehmen, und nicht mehr nur Haschisch oder Pillen.
Warum hatte Sam das getan, obwohl niemand in seinem engeren Freundeskreis harte Drogen konsumierte? War er von allein draufgekommen? Sehr unwahrscheinlich, widersprach eigentlich allen üblichen Drogenkarrieren. Gab es also jemanden, der ihn angestiftet hatte? War dieser Jemand der Täter?
Fragen, die sie sich und anderen bereits gestellt hatten. Niemand kannte Sams Dealer. Sie hatten Informanten losgeschickt, die sich in der Szene umgehört hatten, speziell in den Clubs und Lokalen, in denen Sam oft gewesen war. Ohne Ergebnis. Das erlaubte im Umkehrschluss die Vermutung, dass Sams Dealer auch sein Mörder war. Sam hatte ihn vorher gekannt, ihn getroffen, mit ihm Umgang gepflegt – aber seltsamerweise absolut niemandem davon erzählt. Weil er nicht wollte, dass sein Heroinkonsum in seinem Freundeskreis bekannt wurde? Nein, es schien ihm nichts auszumachen, dass seine damalige Freundin davon wusste. Und nicht nur das, er hatte ja sogar versucht, sie ebenfalls zu animieren.
Das Einzige, was Sam verschwiegen hatte, war der Name des Mannes, der ihn mit dem Stoff belieferte. Andererseits hatte seine Exfreundin auch nicht nachgefragt – laut ihrer Aussage hatte es sie gar nicht interessiert. Mona blätterte in weiteren Protokollen. Kurz vor seinem Tod war Samuel nach den Aussagen seiner Freunde und Bekannten eigentlich wie immer gewesen, außer dass er auf härteren Stoff umgestiegen war. Einer hatte berichtet, dass Sam sich in letzter Zeit mehrere Male negativ über seinen Vater geäußert hatte. »Der alte Heuchler« oder etwas Ähnliches habe er gesagt, aber auf Nachfragen nicht reagiert. Anlass dieser Äußerungen war gewesen, dass Plessen häufig im Fernsehen aufgetreten war und Sams Freunde diese neue Prominenz bewunderten.
Der alte Heuchler. Forster und Schmidt hatten die Vernehmung geführt und genau wie Mona und Berghammer diesem Urteil keinen großen Stellenwert beigemessen. »Alle Jugendlichen sagen ab und an, dass ihre Eltern Heuchler sind«, hatte Berghammer kommentiert. Aber selbst wenn es wichtig sein sollte – das führte sie immer noch nicht zu dem Mann, Sams Dealer, mit dem Sam vor seinem Tod Umgang hatte. Niemand kannte ihn. Plessen nicht, seine Frau nicht, Sams Freunde nicht, seine Lehrer nicht. Niemand. Er war ein Phantom.
Aber Sam hatte ihm vertraut.
Der Mann musste also schon aus diesem Grund, genauso wie Kern gesagt hatte, jung sein. Vielleicht, wie Samuel, um eine gewisse Hipness bemüht. Aber das war nicht sicher. Vielleicht war der Mann auch ein ganz anderer Typ, viel älter als er, und Sam hatte ihn trotzdem bewundert – wegen irgendetwas, von dem sie nichts wussten. Oder vielleicht war er nur sein Dealer, und die beiden verband aus Sams Sicht sonst gar nichts. Vielleicht hatten sie nie ein privates Wort gewechselt.
Irgendwo war der Wurm drin. Dieser Täter manifestierte sich einfach nicht, nirgends.
Ein Phantom.
Sonja Martinez. Mona öffnete ihre Akte und begann zu lesen. Ihre feuchten Finger produzierten fettig aussehende Flecken auf dem dünnen Papier.
Sonja Martinez war vermutlich ein Zufallsopfer. Dem Täter ging es nicht um ihre Person, sondern um die Tatsache, dass sie eine Klientin Plessens war. Ihren Namen hatte er der Abendzeitung entnommen und sie daraufhin – außer ihr gab es in der Stadt niemanden, der so hieß – mühelos aufgespürt. Er wusste aus der Zeitung, dass Sonja Martinez allein lebte, nachdem Mann und Tochter sie verlassen hatten. Unter irgendeinem Vorwand – keine Kampfspuren welcher Art auch immer! – hatte er sich Einlass verschafft.
Von Forster stammte die Idee, dass der Täter vielleicht so getan hatte, als sei er Arzt. Mona hatte das sehr überzeugend gefunden. Sonja Martinez ging es vor ihrem Tod nicht nur seelisch schlecht, auch körperlich war sie laut Aussage ihres Mannes und mehrerer anderer Zeugen angeschlagen gewesen. Vielleicht hatte dieser Mann so getan, als wäre er eine Art Notarzt, den irgendjemand – vielleicht Sonjas Mann, der zu diesem Zeitpunkt unerreichbar in Spanien weilte – aus Sorge um Sonjas Gesundheit benachrichtigt hätte. Sonja war nicht in der Position, misstrauisch zu sein. Sie war unglücklich und verzweifelt und vermutlich sogar für jeden Besuch dankbar. Man konnte ihr erzählen, was man wollte, sie hätte alles geglaubt.
Es war nicht schwer gewesen, ihr Vertrauen zu erringen.
Ein Übungsobjekt.
Mona erschauerte. Täter wie dieser Mann waren selten. Serienmörder waren oft entweder komplett verrückt oder sehr dumm oder beides. Aber es gab auch andere. Sie konnten es zur schauerlichen Meisterschaft bringen, und dann stand die Polizei lange Zeit auf verlorenem Posten. Sicher, irgendwann bekam man fast jeden. Manche aber leider erst nach einer entsetzlich langen Blutspur. Und das waren die Fälle, die sich über Wochen und Monate zogen, manchmal über Jahre, die die Öffentlichkeit aufschreckten, die Medien auf den Plan riefen und niemanden mehr zur Ruhe kommen ließen. Mord war so verdammt telegen. Die Seuchen würden sie früher oder später unter Kontrolle kriegen. Krebs würde irgendwann besiegt sein, aber Morde würde es immer geben. Aus Verzweiflung, Habgier, Gemeinheit, abseitigen Bedürfnissen. Mord war die dramatischste und gleichzeitig effizienteste Möglichkeit, einen Konflikt ein für alle Mal zu beseitigen.
Menschen liebten einfache Lösungen. Und Mord war ganz einfach.
Sie hatte noch genau neun Tage. In neun Tagen war ihr Flug in den Urlaub gebucht.
Wenn es so weiterging, würde sie lange keinen Urlaub mehr haben.
Damals warst du still
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