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Mittwoch, 23. 7., 12.10 Uhr
Mona wählte zum dritten Mal an diesem Vormittag die Nummer von Plessens Schwester. Helga Kayser war über sechsundsiebzig Jahre alt, nach dem Tod ihres Mannes allein stehend, sie besaß natürlich keinen Anrufbeantworter und bestimmt kein Handy.
Man musste ihr ganz altmodisch hinterhertelefonieren.
Was, wenn sie das dritte Opfer war? Was, wenn sie bereits tot in ihrer Wohnung lag, in ähnlichem Zustand wie Sonja Martinez? Mona hatte viele Leichen im Verwesungszustand wie die von Sonja Martinez gesehen und andere, die noch weitaus schlimmer aussahen und rochen, Leichen, an denen überhaupt nichts Menschenähnliches mehr war, und sie hatte sich daran gewöhnt. Natürlich hatte sie das, sonst wäre sie falsch in ihrem Job. Immerhin bemühte sie sich bei solchen Gelegenheiten ganz bewusst, keine Querverbindungen herzustellen, nicht an ihren eigenen Tod zu denken oder an den von ihr Nahestehenden. Für sich selbst hatte sie gleichwohl Vorkehrungen getroffen: Verbrennen, bitte schön, nicht beerdigen. Sie wollte kein Futter für Würmer und Maden werden.
Nach dem zehnten Läuten legte sie entmutigt auf.
Ein Kriminalbiologe und Entomologe, der ihr bei einem ihrer letzten Fälle geholfen hatte (er musste anhand des Insektenbefalls die Liegezeit einer Leiche bestimmen), hatte ihr einmal gestanden, dass ihm die Vorstellung gut gefallen würde, auf einem Waldboden abgelegt und dort von Fliegenmaden, Hirschkäfern und Fäulnisbakterien langsam verzehrt zu werden. Erde zu Erde, sagte er, und dass es doch nur darum ginge, in einer anderen Materie aufzugehen und, wenn man so wolle, in diesem Sinne weiterzuleben. Mona konnte der Idee überhaupt nichts abgewinnen. Tot ist tot, dachte sie. Und wenn verschwinden, dann lieber schnell, sauber und komplett bis auf ein nettes, handliches, geruchloses Häufchen Asche.
Sie sah auf die Uhr: Gleich begann die Konferenz. Sie hatte versprochen, Forsters Versäumnisse nicht zum Thema zu machen, aber das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Wenn sie Helga Kayser jetzt nicht ans Telefon bekam, sogar fast unmöglich. Die Fakten, dachte sie. Die Fakten waren, dass sie jetzt seit drei Stunden versuchte, die alte Frau zu erreichen, dass es aber durchaus sein konnte, dass diese Frau – alt, nicht besonders gut zu Fuß, aber ohne Hilfe – genau diese Zeit brauchte, um ihre täglichen Einkäufe zu erledigen. Vielleicht war sie auch verreist. Alte Leute reisten heute viel herum.
Mona merkte, wie sie nervös wurde, ein schlechtes Zeichen. Wenn sie nicht ruhig blieb, wer sollte es dann sein?
Nichts läuft hier wie geplant, dachte sie.
Das Schlimme war nicht, dass immer noch ein oder mehrere Puzzleteile fehlten, damit sie endlich ein Bild des Falles erhielten. Das Schlimme war, sie wussten nicht, nach welchen Teilen sie überhaupt suchen mussten – nicht einmal, wie viele es waren. War es relevant, dass Plessen seinen angeblichen Sohn adoptiert hatte und bei der Vernehmung nichts davon gesagt hatte, oder war es ihm einfach nur ein wenig peinlich gewesen, und er hatte deshalb geschwiegen? War es relevant, dass er sie über seine Schwester belogen hatte, oder wollte er der alten Frau nur einen Vernehmungsmarathon ersparen, der aus seiner Sicht sinnlos und quälend war? Mona zündete sich eine Zigarette an, bereits die sechste an diesem Tag. Wenn das hier alles erledigt war, musste sie ihren Konsum wieder herunterschrauben. Diese hier schmeckte nicht einmal. Sie musste wieder auf fünf, maximal sechs täglich kommen. Das würde sie mühelos schaffen, sobald sie diesen Fall vom Tisch hatten.
Ja, ja, Mona, so wird’s sein.
So muss es sein.
Ja, ja. Reg dich ab.
Die Hitze hatte nun ein Ausmaß erreicht, dass man – selten hier zu Lande – Abkühlung geradezu herbeisehnte. Regen – ja bitte! Kühle Luft, die den stickigen Dampf innerhalb von wenigen Stunden aus den Büros fegen würde – herrlich! Heute Abend sollte es Gewitter geben, die nächsten zwei Tage einen Temperatursturz von über dreißig Grad auf die Hälfte.
Hoffentlich!
Mona drückte ihre Zigarette aus und öffnete das Fenster. Sie nahm ihre Unterlagen für die Konferenz und wollte gerade das Zimmer verlassen, als das Telefon klingelte. Ein Doppelklingeln, das hieß, das Gespräch kam nicht aus dem Dezernat, sondern von außen. Mona überlegte noch, ob sie abheben sollte, dann fiel ihr die gelbzähnige Lehrerin ein, die Lukas beim Schwänzen erwischt hatte, und sie ging ergeben zurück zu ihrem Schreibtisch, schloss das Fenster wieder und griff nach dem Hörer.
»KHK Seiler, Dezernat 11. Was kann ich für Sie tun?«
Eine sehr bestimmte weibliche Stimme. »Haben Sie gerade bei mir angerufen?«
Mona sah auf ihr Display. Es war eine lange Nummer mit Vorwahl. Es war die Nummer, die sie nun seit Stunden ohne Erfolg angewählt hatte.
»Frau Kayser?«, fragte sie, ohne daran glauben zu können, dass es sich wirklich um Plessens Schwester handelte. Eine betagte Frau, die ein ISDN-Telefon mit Rufnummererkennung hatte – aber ohne Anrufbeantworter?
»Ja. Sie haben mehrmals bei mir angerufen. Ich war einkaufen, und dann habe ich das Klingeln wohl nicht gehört. Aber ich habe Ihre Nummer auf diesem Dings da gesehen und dachte, ich melde mich mal, falls es was Dringendes ist.«
»Ja... Das ist sehr gut, Frau Kayser. Hier ist Kriminalhauptkommissarin Mona Seiler. Haben Sie gerade einen Moment Zeit? Es handelt sich um Ihren Bruder.«
»Fabian? Ist ihm etwas passiert?« Das klang nicht sonderlich besorgt. Nicht so, wie normalerweise eine Schwester von ihrem geliebten Bruder sprechen würde, wenn die Polizei bei ihr anrief.
»Tja«, sagte Mona, »wie man’s nimmt. Ihm geht es gut, aber...«
»Gott sei Dank. Ich meine, das freut mich für ihn. Wissen Sie, wir haben eigentlich kaum noch Kontakt. Ich weiß gar nicht, was er so macht.«
»Nun, er...«
»Das ist wirklich Jahre her, dass ich das letzte Mal was von ihm hörte. Ich bin ganz... Er hat sich nie gemeldet, die ganzen Jahre nicht. Als wär er aus der Welt.«
»Also, das ist er nicht. Aber es gibt da etwas, wobei Sie mir vielleicht helfen könnten. Können Sie mal kurz dranbleiben, ich bekomme gerade einen internen Anruf.« Mona schaltete um, Berghammer war dran und wollte wissen, wo sie blieb. Sie sagte ihm, dass sie sich um zehn, fünfzehn Minuten verspäten und dann erklären würde, warum. Berghammer akzeptierte das und legte auf.
»Frau Kayser? Sind Sie noch dran?«
»Wie war Ihr Name noch mal?«
»Mona Seiler, Kriminalhauptkommissarin. Ich...«
»Wollen Sie mir vielleicht mal erklären, was das alles soll? Sie sagen, Fabian geht’s gut, aber Sie müssten mit mir reden. Was ist denn passiert, um Gottes Willen?«
Mona holte tief Luft, und ging in medias res, bevor die Frau sie erneut unterbrechen konnte. Wenn Helga Kayser tatsächlich seit Jahren keinen Kontakt zu ihrem Bruder hatte, würde sie die ungeschminkte Wahrheit schon verkraften. »Der Sohn von Fabian Plessen, Samuel. Ihr – äh – Neffe. Er ist ums Leben gekommen. Auf gewaltsame Weise. Das Gleiche ist mit einer Patientin von Herrn Plessen passiert. Deshalb müssen wir miteinander reden.«
»O Gott. Das ist ja furchtbar.«
»Ja, das ist es, und deshalb müssen wir unbedingt...«
»Das tut mir Leid für Fabian. Das ist ja entsetzlich. Der arme Junge.«
Sprach sie von Fabian oder von Samuel Plessen, ihrem Bruder oder dessen Stiefsohn? Egal, irgendwie gestaltete sich dieses Gespräch als schwierig.
»Haben Sie seine Telefonnummer zur Hand?«, fragte die Frau. Kaum zu glauben, dass sie schon sechsundsiebzig war. »Ich würde ihm gerne kondolieren.«
»Ja, die gebe ich Ihnen gleich. Jetzt müssen wir erst...«
»Ach bitte, machen Sie das doch sofort. Es ist mir wirklich ein Anliegen, und...«
»Frau Kayser«, sagte Mona. »Als Erstes müssen wir uns unterhalten. Dann bekommen Sie die Nummer.«
»Ja, aber worüber denn? Sehen Sie, ich weiß doch gar nichts, ich habe meinen Bruder ja seit vielen Jahren nicht gesehen.«
Wie sollte Mona es ihr sagen? Dass sie eventuell ebenfalls auf der Todesliste stand – wie sagte man das jemandem? Und war die Wahrscheinlichkeit denn wirklich gegeben? Die beiden hatten doch offenbar überhaupt keine Beziehung zueinander. Sie lebte ganz woanders – gut möglich, dass der Mörder von ihrer Existenz gar nichts wusste. War es also den Aufwand wert, wegen einer sehr unklaren Gefahr eine alte Frau in Angst und Schrecken zu versetzen?
Im Moment ist sie alles, was wir haben, dachte Mona, und diese Erkenntnis war alles andere als ermutigend.
»Ich würde Sie gerne kurz besuchen«, hörte Mona sich sagen – und gleich anschließend hörte sie Berghammer, der lamentieren würde, ob sie noch ganz richtig im Kopf sei, Steuergelder für einen Flug nach Marburg zu verplempern, nur auf einen Verdacht hin, der noch nicht einmal als vage bezeichnet werden konnte.
»Ist das möglich?«, fragte sie trotzdem. »Kann ich heute bei Ihnen vorbeikommen? Es dauert auch nicht lange.«
»Also, ich weiß nicht... Wir können das doch auch am Telefon besprechen, da müssen Sie doch nicht extra herkommen.«
»Doch, das wäre schon sehr wichtig.«
»Ich finde das völlig unnötig. Ich habe auch gar nichts im Haus. Ich kann Ihnen nichts anbieten.«
Mona musste ein Lächeln unterdrücken. »Das ist auch gar nicht nötig«, sagte sie.
»Na schön.« Begeistert klang die alte Frau nicht. Hatte sie überhaupt verstanden, dass Mona von der Mordkommission kam?
»Gut. Ich komme heute Nachmittag zu Ihnen. Passt Ihnen das?«
»Na ja. Ich bin ja sowieso da.«
Heute Nachmittag. Das war nicht mehr lange hin. Sollte Mona sie trotzdem warnen? Ihr einschärfen, niemanden hereinzulassen? Sie ließ es sein.
Der Verdacht war so unbestimmt. Es lohnte sich nicht.
Aber warum fuhr sie dann überhaupt hin?
»Dann sehen wir uns heute Nachmittag«, sagte Mona und beließ es dabei, obwohl da etwas in ihr war, das... Aber sie glaubte im Grunde nicht an Intuition. Intuition brachte man immer nur ins Spiel, wenn man nicht weiterwusste.
Und sie wussten nicht weiter.
Berghammer. Sie musste ihm Bescheid geben. Und sich dann von Lucia, seiner Sekretärin einen Flug buchen lassen.
Und sie mussten Plessen erneut vorladen. Spätestens heute Abend, wenn sie mehr wusste.
Damals warst du still
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