10
Dienstag, 15. 7., ca. 20.00 Uhr
Da die Vernehmungen nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen wenig Verwertbares erbracht hatten, endete der Tag früher als geplant. Fischer ging mit Patrick Bauer, Single wie er, einen trinken. Mona fuhr nach Hause, das hieß in Antons Wohnung. Niemand von ihren Kollegen ahnte, dass ihre offizielle Adresse – ein hässliches Dreizimmer-Loch in der Nähe ihres Arbeitsplatzes – nur noch Alibifunktion hatte. Eine Information, die sich mühelos verheimlichen ließ, weil kein Mensch im Dezernat 11 über sein Privatleben sprach, außer bei Todesfällen oder wenn eine Scheidung ins Haus stand. Das einzige Risiko bestand darin, dass die jahrelangen Ermittlungen gegen Antons unkonventionelle Exporttätigkeiten doch einmal zum Erfolg führen würden – und Mona hatte sich vorgenommen, sich mit dieser Problematik erst dann zu beschäftigen, wenn es so weit wäre. Sie konnte nur hoffen, dass Lukas zu diesem Zeitpunkt alt genug sein würde, um ohne seinen Vater klarzukommen. Um die Folgen für sich und ihre Karriere machte Mona sich dagegen keine Gedanken mehr. Im Fall des Falles konnte sie immer behaupten, von nichts eine Ahnung gehabt zu haben, und kein Mensch würde im Stande sein, das Gegenteil zu beweisen. (Mona glaubte nicht wirklich daran, aber es half, sich das immer wieder einzureden)
Draußen war es noch hell, als sie vor dem fünfstöckigen Altbau parkte, den Anton vor Jahren gekauft hatte – billig, weil der Eigentümer fast pleite war; die Lage zwar zentral, aber das Haus völlig heruntergekommen. Die Mietwohnungen hatte er renovieren und sich selbst den Dachstuhl als prachtvolle Maisonette ausbauen lassen – mit verglastem Lift an der Wand zum Innenhof, der direkt vor seiner zweiten Wohnungstür hielt. Mona fuhr nicht gern mit diesem Lift, von dem sie mittlerweile mutmaßte, dass Anton für die Genehmigung irgendwen aus dem Landesbauamt hatte schmieren lassen, aber es war immer noch so warm und sie so erschöpft, dass sie keine Lust hatte, Treppen zu steigen.
Sie lehnte sich an die Wand des Lifts und gähnte, den Kopf zurückgelegt. Durch die Verglasung konnte man den Himmel sehen; er hatte mittlerweile einen leichten rostroten Schimmer. Oben angekommen wäre sie am liebsten ein zweites Mal gefahren, so müde war sie. Aber stattdessen stieß sie sich von der Wand ab, zückte den Wohnungsschlüssel und sperrte auf.
»Hi, Mam«, sagte Lukas, an einem Donut kauend, die Beine auf dem Esstisch, als sie in die Küche kam und ihre Tasche achtlos auf der Arbeitsplatte ablegte. »Pap ist noch unterwegs«, fügte er hastig hinzu, als müsste er sich verteidigen. Und in gewisser Weise war es auch so.
»Was? Hat er dich etwa hier allein gelassen?« Mona spürte, wie ihr die Stimme entglitt, sich viel zu hoch schraubte, um dann wieder steil abzufallen. Sie versuchte, ruhig zu atmen.
Es kam die Antwort, die sie erwartet hatte: »Na und? Macht doch nichts!«
»Herrgott.«
»Ist doch egal«, erklärte Lukas abschließend und beinahe väterlich autoritär. »Bin ja kein Baby mehr.«
Mona sagte nichts darauf. Noch vor einer Minute hatte sie Hunger gehabt, jetzt fühlte sich ihr Magen an, als hätte sie drei Currywürste und zwei Stück Sahnetorte verdrückt. Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich Lukas gegenüber. »Wie lange ist er schon weg? Und sei ehrlich!«
»Fünf Minuten«, sagte Lukas grinsend.
»Von wegen. Dieser Idiot.«
»Pap ist kein Idiot«, rief Lukas entrüstet. Er nahm seine Beine vom Tisch und funkelte seine Mutter an.
»Okay«, sagte Mona müde. »Also wie lange?«
»Fünf Minuten. Hab ich doch gesa-agt!«
Im letzten halben Jahr war Lukas sehr schnell gewachsen. Er überragte seine Mutter jetzt um mindestens vier Zentimeter und würde bald so groß wie sein Vater sein. Er war sehr dünn, hatte einige ziemlich auffällige rote Pickel im Gesicht und trug weite Hosen, die ihm bis auf die Hüfte rutschten und die Mona idiotisch und unpraktisch fand – was ihm ziemlich egal war und ihr zeigte, wie sie Stück für Stück ihren Einfluss auf ihn verlor. Aber wenigstens schienen die Depressionen, die ihn noch vor einem Jahr gequält hatten, vorüber zu sein. Er brauchte keine Medikamente mehr, und darüber hätte sie sich eigentlich jeden neuen Tag freuen müssen, den sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen mehr zu machen brauchte.
Aber im Moment schaffte sie das nicht.
»Wann kommt Anton wieder?«, fragte sie bemüht ruhig und cool. Sie weigerte sich, Anton vor Lukas Papa (oder gar Pap) zu nennen. Es war vielleicht nicht ganz fair gegenüber Anton, aber sie konnte nicht anders. Etwas in ihr wehrte sich nach wie vor gegen dieses Familiengedöns, dachte sie. Etwas daran kam ihr falsch vor. Als sei alles nur ein Spiel, das sich Anton ausgedacht hatte. Als sei in Wirklichkeit sie die einzige Erwachsene in dieser Dreierkonstellation. Als hätte sie mittlerweile nicht mehr nur einen, sondern gleich zwei halbwüchsige Söhne, die beide gleichermaßen verantwortungslos dachten und handelten. Nur dass so ein Verhalten bei Lukas altersgemäß und verzeihlich war und bei Anton alles andere als das.
»Wann kommt er wieder?«, fragte sie ein zweites Mal, da Lukas nicht geantwortet hatte. Lukas sah sie mürrisch an und sagte nichts.
»Lukas!«
»Weiß nicht.«
»Wo ist er hin? Und lümmel dich nicht so auf den Tisch! Sieht scheiße aus.«
»Weiß nicht.«
Und falls es stimmte, war das sicher besser so.
Als Anton zwei Stunden später kam, hatte Mona sich bereits beruhigt. Sie saß allein auf der nun völlig dunklen Dachterrasse, über sich den wolkenlosen Sternenhimmel, neben sich ein Glas Rotwein, und rauchte ihre zehnte Zigarette des Tages, als innen das Licht anging und seinen Schein auf die grauen Holzbohlen der Terrasse warf. Sie drehte sich nicht um, sondern wartete, bis Anton sie von hinten umarmte. Mittlerweile war Mona so erschöpft, dass sie sich nicht wehrte (nicht zickte, wie es Anton ausgedrückt hätte), sondern seine Hand nahm und sie gegen ihre Wange drückte.
»Wo warst du?«
»Vanicek. Es gibt ein paar Probleme.«
Mona schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Der Stadtverkehr, hier nur als gleichmäßiges Brummen wahrnehmbar, lullte sie ein – und auch wieder nicht. Vanicek war Antons Handlanger für alle möglichen Dinge, von denen sie nichts wissen wollte, die sie aber vermutlich nicht bis in alle Ewigkeit von sich wegschieben konnte. Aber es war zu warm, um zu streiten.
»Lukas saß hier allein rum.« Ganz konnte sie es doch nicht lassen.
»Ich bin um sieben gegangen. Er ist doch kein Baby mehr.« Ich bin doch kein Baby mehr! Mona seufzte. Anton nahm sich einen Stuhl und setzte sich dicht neben sie. Sie roch sein Aftershave und noch etwas anderes, Undefinierbares – etwas, das gute Gefühle weckte und gleichzeitig melancholisch machte, als sei der Eindruck von Vergänglichkeit zwingender Bestandteil davon.
Mona lächelte in die Dunkelheit. »Wir sind schon ein Paar, oder?« Das war eigentlich harmlos gemeint, aber die Spitze war doch hörbar, und plötzlich spürte sie einen schwachen, aber gleichwohl existenten Anklang an ihre frühere Wut: auf Anton, auf seine Unberechenbarkeit und seinen Unwillen, sich anderen Vorstellungen zu beugen als den seinen. Anton vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Nacken. Er sagte nichts. Er hasste diese Art von Gesprächen, die seiner Ansicht nach zu nichts führten und nur schlechte Stimmung verbreiteten.
»Bist du müde?«, fragte er.
»Nein.«
»Ach komm schon. Sei müde!«
»Nein!« Aber sie musste doch grinsen, als er seine Hand unter ihrem T-Shirt verschwinden ließ. »Hör auf«, sagte sie.
»Tu doch nicht so.«
»Nein, ehrlich. Hör auf.«
»Ja, ja. Gleich.«
Damals warst du still
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