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Dienstag, 15. 7., ca. 12.00 Uhr
Fabian Plessen, einundsiebzig Jahre alt. Als Beruf
gab er Heilkundiger an, und bevor sich Mona über diese seltsame
Bezeichnung wundern konnte, wusste sie wieder, woher sie ihn
kannte. Es war eine Talkshow gewesen, in der Plessen, im Gespräch
mit einem jungen Moderator, seine Behandlungsweise erläuterte. Mona
erinnerte sich, wie ihm der Moderator, ein eitler Wichtigtuer,
immer wieder ins Wort gefallen war, und dass Plessen sich davon
überhaupt nicht hatte beirren lassen. Er sprach leise, langsam,
gemessen und hatte zum Schluss das Studiopublikum auf seiner
Seite.
Aber jetzt, bei der MK 1, wirkte Plessen nicht mehr
charismatisch, sondern schwach und alt. Er hielt die Hand seiner
Frau, die unaufhörlich weinte. Beide saßen auf zerkratzten
Plastikstühlen vor Monas Schreibtisch, und Mona dachte einen
absurden, peinlichen Moment lang, dass sie aussahen wie Schüler,
die etwas ausgefressen hatten. Sie drehte sich nach Fischer um, der
an der Fensterbank lehnte; wie meist hatte er die Arme verschränkt
– seine Lieblingspose. Es war ein Uhr und die Hitze beinahe
unerträglich. Draußen dröhnte der Verkehr mit enervierender
Stetigkeit. Anfahren, bremsen, hupen, bimmeln. Manchmal hasste Mona
diese ewige Lärmkulisse so, dass sie gewalttätige Fantasien
heimsuchten, in denen eine Eisenstange, mehrere verbeulte Kotflügel
und ganz viele zersplitterte Autofenster eine Rolle spielten.
»Wir müssen diese Vernehmung nicht jetzt machen«,
begann Mona, in dem Bewusstsein, dass sich Fischer bei dieser
Bemerkung innerlich krümmte. Sie mussten diese Vernehmung so
schnell wie möglich machen, so sah die Wahrheit aus. Die Lösung der
meisten Mordfälle war eine Frage der Zeit. Dieser Mord gehörte mit
ziemlicher Sicherheit dazu.
»Wir sind bereit«, sagte Plessen. Seine Stimme
klang brüchig, er räusperte sich ungeschickt. Kein Vergleich mit
dem Mann, den Mona im Fernsehen gesehen und dessen
unerschütterliche Souveränität sie bewundert hatte. »Aber
vielleicht könnte sich meine Frau einen Moment hinlegen. Ist das
möglich?«
»Nein!«, sagte Frau Plessen mit tränenerstickter
Stimme, aber laut und deutlich.
»Wir könnten...«, begann Mona.
»Nein! Ich will alles mitbekommen!« Frau Plessen
wandte sich an ihren Mann. »Ich schaffe das«, sagte sie zu ihm, und
in diesem kurzen Statement klang eine unterschwellige Botschaft an,
deren Sinn Mona gern verstanden hätte. Sie überlegte, an diesem
Punkt anzusetzen.
Die Plessens hatten beide darauf bestanden, Samuel
unverzüglich zu identifizieren. Mona hatte dabei ein schlechtes
Gefühl, aber das Paar ließ sich nicht umstimmen und wirkte dabei so
selbstbewusst und optimistisch, als seien sie sich im Grunde
sicher, dass alles auf einem Irrtum beruhte. Also waren sie vor der
Vernehmung im Dezernat ins Institut für Rechtsmedizin gefahren und
hatten sich von dem schauerlichen gepanzerten Lift ins
Untergeschoss der Pathologie bringen lassen. Frau Plessen war immer
stiller geworden, während ihr Mann, zu diesem Zeitpunkt noch
beherrscht und kühl wirkend, Fragen über Fragen stellte, die
Herzog, der Chefpathologe, geduldig beantwortete .
Wie viele Leichen bewahren Sie hier eigentlich
auf?
Das kommt darauf an.
Worauf?
Nun, wie viele ungeklärte Todesfälle in einem
bestimmten Zeitraum zu verzeichnen sind.
Aha. Sie haben hier also nur...
Ungeklärte Todesfälle, ganz richtig. Alle aus
dem Landkreis landen, äh, werden zu uns gebracht, und wir
untersuchen sie dann.
Sie schneiden sie auf. Von Kopf bis
Fuß.
Nicht ganz...
Also gut, vom Hals bis zu den
Geschlechtsorganen. Ein langer Schnitt. Nicht der Y-Schnitt, den
man in amerikanischen Filmen sieht. Stimmt das?
Nun ja.
Ein einziger langer Schnitt. Und
dann...
Ja. Oft ist das notwendig, um sich Klarheit zu
verschaffen. Hier entlang bitte.
Und dann waren sie im Obduktionssaal gestanden, mit
seinen vergilbten Kacheln und den drei steinernen Sektionswannen in
der Mitte des Raums, und ein junger Angestellter des Instituts
öffnete die matt schimmernden Metalltüren der Kühlräume und schob
kurz darauf die abgedeckte Leiche Samuel Plessens auf einem
Rollwagen heraus und zu den Eltern hin. Er hob einen Zipfel des
Tuchs an, sodass sie sein Gesicht sehen konnten.
Wenigstens war der Mund des Toten
geschlossen.
Seitdem weinte Frau Plessen wieder beinahe ohne
Pause: auf der Fahrt ins Dezernat, in der Tiefgarage, im Lift zum
dritten Stock, auf dem Weg in ihr Büro und jetzt hier. Leise und
zurückhaltend, aber ohne Unterlass. War das noch normal, oder
kündigte das schon einen Zusammenbruch an? Das war manchmal schwer
zu sagen. Mona überlegte, ob sie prophylaktisch einen Arzt
verständigen sollten, der Frau Plessen irgendwas Beruhigendes
spritzte. Dann dachte sie an die Fernsehsendung und glaubte, sich
daran zu erinnern, dass Plessen die Schulmedizin grundsätzlich
ablehnte außer im Fall lebensrettender Operationen.
»Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer das getan
haben könnte?«, fragte sie, ohne sich viel davon zu erwarten.
Plessen sah seine Frau Hilfe suchend an. Sie
schüttelte den Kopf und schnäuzte sich. Langsam schienen ihre
Tränen zu versiegen.
»Wussten Sie, dass Ihr Sohn regelmäßig Drogen
genommen hat?«, versuchte es Fischer, diesmal auf die härtere Tour.
»Harte Drogen, verstehen Sie, keine bunten Pillen.« Diesmal
schüttelten beide heftig den Kopf, offenbar schockiert. Frau
Plessen weinte nicht mehr, aber ihr Gesicht war blass unter der
Sonnenbräune, und das leuchtende Blau ihrer Augen schien erloschen
zu sein.
»Heroin«, begann Fischer.
»Ist schon gut«, unterbrach ihn Mona und seufzte
innerlich. »Hans ruf doch mal die anderen an und sag, dass die
Konferenz verschoben wird.«