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Freitag, 25. 7., 14.03 Uhr
Die Klinik, in der die Ärzte um Plessens Leben
kämpften, hatte einen kleinen, sonnenbeschienenen Garten, obwohl
sie mitten in der Stadt war. Mona legte sich auf eine der Bänke im
Schatten einer Kastanie und schlief sofort ein. Sie träumte von
Plessen, seinem sanften Gesicht, seiner leisen Stimme, seiner
stahlharten Autorität. In ihrem Traum saß sie vor ihm und tauchte
in seinen hypnotischen Blick ein.
Du bist nicht wie deine Mutter und wirst es auch
nie sein, sagte er zu ihr, denn er konnte Gedanken lesen und
wusste, dass das ihre größte Angst gewesen war: wahnsinnig zu
werden wie ihre Mutter. Für ewig ruhig gestellt in der Psychiatrie
wegzudämmern wie ihre Mutter. Das würde nicht passieren, Plessen
hatte es gesagt. Sie weinte ein wenig vor Erleichterung, als er
sagte: Aber dein Sohn trägt das Feuer der Vernichtung in
sich.
Sie hatte das Gefühl zu stürzen, sie hörte sich
selbst laut stöhnen, sie riss die Augen auf. Einer der Schupos, die
Plessen bewachten, stand vor ihrer Bank. Mona sprang so hastig auf,
dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie stützte sich an der Lehne ab.
Wie heiß es war!
»Ist er...äh...«
»Er ist wach«, sagte der Polizist, Schweiß stand
ihm auf der gebräunten Stirn. »Er kann reden. Kommen Sie
schnell!«
Sie eilten gemeinsam durch den langen Flur bis zum
Lift, der sie in den vierten Stock brachte, wo sich die
Intensivstation befand. »Er wird nicht lange reden können«, sagte
der Polizist im Lift. »Die werden ihn gleich fertig machen für die
OP, jetzt wo es ihm besser geht.«
»Hat er... irgendwas im Hals? Irgendeinen Schlauch
oder was?«
»Nichts. Aber vielleicht sind die Ärzte schon
da.«
»Egal«, sagte Mona. »Zwei Minuten reichen. Er kennt
den Täter, da bin ich mir sicher. Er muss mir nur den Namen
sagen.«
Ihre Sohlen quietschten auf dem glänzend
geschrubbten Linoleum, der Krankenhausgeruch nach Schweiß, Angst
und Desinfektionsmitteln nahm ihr fast den Atem. Mona verschwendete
keine Zeit mit Anklopfen, als sie vor Plessens Zimmer
standen.
Plessen war allein. Er wirkte sehr klein und alt
in dem weiß bezogenen Bett. Genau wie der Polizist gesagt hatte,
wurde er nicht künstlich ernährt oder beatmet. Nur von seinem
Handrücken aus schlängelte sich ein dünner Schlauch zu einer
Plastikflasche mit transparenter Flüssigkeit, die an einem
chromblitzenden Galgen hing. Mona nahm sich einen Stuhl und setzte
sich neben das Bett. Plessen war tatsächlich wach. Seine blauen
Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Seine Lippen sahen blass und
verkrustet aus.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Mona leise.
Plessen versuchte zu sprechen, aber es kam kein Ton
heraus. Mona beugte sich über ihn. »Sie müssen nicht laut sprechen,
Sie können ruhig flüstern. Ich kann Sie hören.« Sie bewegte ihren
Kopf, bis ihr Ohr seinen Mund fast berührte.
»Wer war es?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Plessen.
»Aber Sie haben den Täter gesehen, das stimmt
doch?«
»Ja. Er war jung. Sehr kräftig.«
»Also: Wer war es?«
»Ich kenne ihn nicht. Wirklich nicht.«
Mona richtete sich auf. »Das ist doch nicht wahr«,
sagte sie sehr laut, zu laut. Plessen war ihre letzte Hoffnung. Es
konnte einfach nicht sein, dass er nichts wusste. Es durfte einfach
nicht sein. Plessen murmelte etwas vor sich hin, und Mona beugte
sich wieder an seinen Mund. Sie verstand: »Es war derselbe Mann wie
auf dem Video.«
»Welches Video? Wo ist das jetzt?«
»In meinem Büro. Er hat mich damit erpresst. Ich
habe ihm viel Geld gegeben. Aber er wollte immer mehr.«
»Geld wofür? Damit er was nicht tut?«
»Das ist eine so lange Geschichte.«
»Haben Sie uns deswegen erzählt, Ihre Schwester sei
tot, obwohl sie noch gelebt hat? Damit sie diese Geschichte nicht
erzählen kann?«
Plessen antwortete nicht, aber seine Augen senkten
sich: die Augen eines todkranken Mannes. Und das war Antwort genug.
In diesem Moment klopfte es an der Tür, und eine Ärztin mit streng
zurückgekämmtem blondem Haar kam herein. Mona hob die Hand, und die
Ärztin blieb unwillkürlich stehen. Mona wusste, dass es nun um
Sekunden ging. Man würde sie nicht in Ruhe mit dem schwer
verletzten Mann reden lassen, und das war aus Sicht der Ärzte
vollkommen verständlich. Sie zerbrach sich den Kopf nach der
letzten Frage, die sie ihm stellen konnte, bevor man ihn in den OP
brachte.
Sie wandte sich Plessen zu. »Wo ist Hannes
Staller?«, fragte sie.
Sie sah völlige Verständnislosigkeit auf dem
Gesicht des alten Mannes, und ihr Mut sank.
»Hannes Staller«, wiederholte sie mit drängender
Stimme. »Der Enkel Ihrer Schwester. Der Sohn von Helga Kaysers
Schwiegertochter Susanna Staller. Wo ist er?«
Und da veränderte sich etwas, nicht nur im Ausdruck
Plessens. Die ganze Atmosphäre im Zimmer schien sich
aufzuhellen.
»Susanna...«, flüsterte Plessen.
»Ja?«
»Sie heißt nicht mehr so. Sie heißt..., ich weiß
nicht mehr... Sie hat mich einmal angerufen, vor ein paar
Monaten...«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie brauchte Hilfe, Geld. Aber ich...«
»Sie haben ihr keins gegeben?«
»Ich kenne sie doch gar nicht... Ich...«
Zwei Schwestern betraten das Zimmer. Die Ärztin kam
ans Bett und sagte: »Hören Sie, Frau..., wie auch immer, jetzt ist
hier jedenfalls Schluss. Wir müssen den Patienten fertig
machen.«
»Ja«, sagte Mona. »Eine Frage noch: Wie heißt Frau
Staller jetzt? Bitte, Herr Plessen, denken Sie nach. Wie heißt sie?
Wo ist sie?«
»Sie lebt hier irgendwo in der Stadt. Sie heißt...
Es war etwas mit K – Keiler...«
»Kleiber?«, fragte Mona, sie wusste nicht,
warum.
»Ja! Das war sie. Susanna Kleiber.«
Die Ärztin schob sie zur Seite, und Mona wehrte
sich nicht mehr. Sie ging hinaus auf den Gang und setzte sich auf
eine Bank am Fenster.
Kleiber. Wer hieß so? Woran erinnerte sie dieser
Name? Sie zückte ihr Handy, um im Dezernat anzurufen. Die Tür von
Plessens Zimmer schwang auf, das Rollbett wurde an ihr
vorbeigeschoben. Sie sah Plessens Gesicht, seine blauen Augen, die
sie fixierten, als wollte er ihr noch etwas sagen. Sie lief hinter
der Ärztin und den beiden Schwestern her, die ihr Plessen zu einer
Operation entführten, die er vielleicht nicht überleben
würde.
Schließlich ging sie neben dem Bett her und nahm
Plessens bleiche, geäderte Hand. Er sah sie immer noch an wie ein
Kind seine Mutter: Er hatte Angst, das spürte sie. Angst, nicht
mehr aufzuwachen, nie mehr. Vor dem Lift hielten sie an, die Ärztin
drückte auf den Knopf. Die Lifttüren öffneten sich lautlos. »Hier
können Sie jetzt aber nicht mehr mit rein«, sagte die Ärztin
energisch. Aber Plessen hielt Monas Hand fest. »In meinem
Schlafzimmer«, sagte er und plötzlich war seine Stimme laut und
klar.
»Ja?«
»Sie finden dort den Brief.«
Mona schaltete blitzschnell. »Den Brief Ihrer
Schwester an ihren Sohn?«
»Er ist... in meinem Nachtkästchen. Eine Kopie.
Damit hat er mich erpresst.«
»Wer? Wer hat Sie erpresst?«
»Ich... kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wer er
ist. Ich weiß nicht, woher er den Brief hat. Er hat gesagt, er hat
ihn jemandem abgekauft.«
Abgekauft? Wie unglaubwürdig! »Wem soll er den denn
abgekauft haben?«
»Ich..., ich weiß nicht.«
»Okay. Ich, wir werden das rausfinden.« Aber
Plessen ließ ihre Hand immer noch nicht los.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »So Leid. Ich
habe...«
»Ja«, sagte Mona. »Mir tut es auch Leid. Viel
Glück.«
Plessens Hand wurde schlaff, und Mona legte sie
sorgsam auf die dünne Decke zurück. Die Ärztin schob das Bett in
den Lift, die Türen schlossen sich hinter ihnen.