22
Freitag, 25. 7., 14.03 Uhr
Die Klinik, in der die Ärzte um Plessens Leben kämpften, hatte einen kleinen, sonnenbeschienenen Garten, obwohl sie mitten in der Stadt war. Mona legte sich auf eine der Bänke im Schatten einer Kastanie und schlief sofort ein. Sie träumte von Plessen, seinem sanften Gesicht, seiner leisen Stimme, seiner stahlharten Autorität. In ihrem Traum saß sie vor ihm und tauchte in seinen hypnotischen Blick ein.
Du bist nicht wie deine Mutter und wirst es auch nie sein, sagte er zu ihr, denn er konnte Gedanken lesen und wusste, dass das ihre größte Angst gewesen war: wahnsinnig zu werden wie ihre Mutter. Für ewig ruhig gestellt in der Psychiatrie wegzudämmern wie ihre Mutter. Das würde nicht passieren, Plessen hatte es gesagt. Sie weinte ein wenig vor Erleichterung, als er sagte: Aber dein Sohn trägt das Feuer der Vernichtung in sich.
Sie hatte das Gefühl zu stürzen, sie hörte sich selbst laut stöhnen, sie riss die Augen auf. Einer der Schupos, die Plessen bewachten, stand vor ihrer Bank. Mona sprang so hastig auf, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie stützte sich an der Lehne ab. Wie heiß es war!
»Ist er...äh...«
»Er ist wach«, sagte der Polizist, Schweiß stand ihm auf der gebräunten Stirn. »Er kann reden. Kommen Sie schnell!«
Sie eilten gemeinsam durch den langen Flur bis zum Lift, der sie in den vierten Stock brachte, wo sich die Intensivstation befand. »Er wird nicht lange reden können«, sagte der Polizist im Lift. »Die werden ihn gleich fertig machen für die OP, jetzt wo es ihm besser geht.«
»Hat er... irgendwas im Hals? Irgendeinen Schlauch oder was?«
»Nichts. Aber vielleicht sind die Ärzte schon da.«
»Egal«, sagte Mona. »Zwei Minuten reichen. Er kennt den Täter, da bin ich mir sicher. Er muss mir nur den Namen sagen.«
Ihre Sohlen quietschten auf dem glänzend geschrubbten Linoleum, der Krankenhausgeruch nach Schweiß, Angst und Desinfektionsmitteln nahm ihr fast den Atem. Mona verschwendete keine Zeit mit Anklopfen, als sie vor Plessens Zimmer standen.
 
Plessen war allein. Er wirkte sehr klein und alt in dem weiß bezogenen Bett. Genau wie der Polizist gesagt hatte, wurde er nicht künstlich ernährt oder beatmet. Nur von seinem Handrücken aus schlängelte sich ein dünner Schlauch zu einer Plastikflasche mit transparenter Flüssigkeit, die an einem chromblitzenden Galgen hing. Mona nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Plessen war tatsächlich wach. Seine blauen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Seine Lippen sahen blass und verkrustet aus.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Mona leise.
Plessen versuchte zu sprechen, aber es kam kein Ton heraus. Mona beugte sich über ihn. »Sie müssen nicht laut sprechen, Sie können ruhig flüstern. Ich kann Sie hören.« Sie bewegte ihren Kopf, bis ihr Ohr seinen Mund fast berührte.
»Wer war es?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Plessen.
»Aber Sie haben den Täter gesehen, das stimmt doch?«
»Ja. Er war jung. Sehr kräftig.«
»Also: Wer war es?«
»Ich kenne ihn nicht. Wirklich nicht.«
Mona richtete sich auf. »Das ist doch nicht wahr«, sagte sie sehr laut, zu laut. Plessen war ihre letzte Hoffnung. Es konnte einfach nicht sein, dass er nichts wusste. Es durfte einfach nicht sein. Plessen murmelte etwas vor sich hin, und Mona beugte sich wieder an seinen Mund. Sie verstand: »Es war derselbe Mann wie auf dem Video.«
»Welches Video? Wo ist das jetzt?«
»In meinem Büro. Er hat mich damit erpresst. Ich habe ihm viel Geld gegeben. Aber er wollte immer mehr.«
»Geld wofür? Damit er was nicht tut?«
»Das ist eine so lange Geschichte.«
»Haben Sie uns deswegen erzählt, Ihre Schwester sei tot, obwohl sie noch gelebt hat? Damit sie diese Geschichte nicht erzählen kann?«
Plessen antwortete nicht, aber seine Augen senkten sich: die Augen eines todkranken Mannes. Und das war Antwort genug. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und eine Ärztin mit streng zurückgekämmtem blondem Haar kam herein. Mona hob die Hand, und die Ärztin blieb unwillkürlich stehen. Mona wusste, dass es nun um Sekunden ging. Man würde sie nicht in Ruhe mit dem schwer verletzten Mann reden lassen, und das war aus Sicht der Ärzte vollkommen verständlich. Sie zerbrach sich den Kopf nach der letzten Frage, die sie ihm stellen konnte, bevor man ihn in den OP brachte.
Sie wandte sich Plessen zu. »Wo ist Hannes Staller?«, fragte sie.
Sie sah völlige Verständnislosigkeit auf dem Gesicht des alten Mannes, und ihr Mut sank.
»Hannes Staller«, wiederholte sie mit drängender Stimme. »Der Enkel Ihrer Schwester. Der Sohn von Helga Kaysers Schwiegertochter Susanna Staller. Wo ist er?«
Und da veränderte sich etwas, nicht nur im Ausdruck Plessens. Die ganze Atmosphäre im Zimmer schien sich aufzuhellen.
»Susanna...«, flüsterte Plessen.
»Ja?«
»Sie heißt nicht mehr so. Sie heißt..., ich weiß nicht mehr... Sie hat mich einmal angerufen, vor ein paar Monaten...«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie brauchte Hilfe, Geld. Aber ich...«
»Sie haben ihr keins gegeben?«
»Ich kenne sie doch gar nicht... Ich...«
Zwei Schwestern betraten das Zimmer. Die Ärztin kam ans Bett und sagte: »Hören Sie, Frau..., wie auch immer, jetzt ist hier jedenfalls Schluss. Wir müssen den Patienten fertig machen.«
»Ja«, sagte Mona. »Eine Frage noch: Wie heißt Frau Staller jetzt? Bitte, Herr Plessen, denken Sie nach. Wie heißt sie? Wo ist sie?«
»Sie lebt hier irgendwo in der Stadt. Sie heißt... Es war etwas mit K – Keiler...«
»Kleiber?«, fragte Mona, sie wusste nicht, warum.
»Ja! Das war sie. Susanna Kleiber.«
Die Ärztin schob sie zur Seite, und Mona wehrte sich nicht mehr. Sie ging hinaus auf den Gang und setzte sich auf eine Bank am Fenster.
Kleiber. Wer hieß so? Woran erinnerte sie dieser Name? Sie zückte ihr Handy, um im Dezernat anzurufen. Die Tür von Plessens Zimmer schwang auf, das Rollbett wurde an ihr vorbeigeschoben. Sie sah Plessens Gesicht, seine blauen Augen, die sie fixierten, als wollte er ihr noch etwas sagen. Sie lief hinter der Ärztin und den beiden Schwestern her, die ihr Plessen zu einer Operation entführten, die er vielleicht nicht überleben würde.
Schließlich ging sie neben dem Bett her und nahm Plessens bleiche, geäderte Hand. Er sah sie immer noch an wie ein Kind seine Mutter: Er hatte Angst, das spürte sie. Angst, nicht mehr aufzuwachen, nie mehr. Vor dem Lift hielten sie an, die Ärztin drückte auf den Knopf. Die Lifttüren öffneten sich lautlos. »Hier können Sie jetzt aber nicht mehr mit rein«, sagte die Ärztin energisch. Aber Plessen hielt Monas Hand fest. »In meinem Schlafzimmer«, sagte er und plötzlich war seine Stimme laut und klar.
»Ja?«
»Sie finden dort den Brief.«
Mona schaltete blitzschnell. »Den Brief Ihrer Schwester an ihren Sohn?«
»Er ist... in meinem Nachtkästchen. Eine Kopie. Damit hat er mich erpresst.«
»Wer? Wer hat Sie erpresst?«
»Ich... kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nicht, woher er den Brief hat. Er hat gesagt, er hat ihn jemandem abgekauft.«
Abgekauft? Wie unglaubwürdig! »Wem soll er den denn abgekauft haben?«
»Ich..., ich weiß nicht.«
»Okay. Ich, wir werden das rausfinden.« Aber Plessen ließ ihre Hand immer noch nicht los.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »So Leid. Ich habe...«
»Ja«, sagte Mona. »Mir tut es auch Leid. Viel Glück.«
Plessens Hand wurde schlaff, und Mona legte sie sorgsam auf die dünne Decke zurück. Die Ärztin schob das Bett in den Lift, die Türen schlossen sich hinter ihnen.
Damals warst du still
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