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Freitag, 18. 7., 6.13 Uhr
Das Haus, ein renovierter Jugendstil-Altbau,
befand sich in bester Innenstadtlage. Das Treppenhaus war breit,
die Tür des Lifts mit schmiedeeisernen Ranken und floralen Motiven
geschmückt. Es war so, wie David es sich schon gedacht hatte. Die
Eltern hatten ihrer Tochter eine Wohnung gekauft, vielleicht sogar
eingerichtet, und fühlten sich nun frei von allen weitergehenden
Verpflichtungen. Inzwischen würde die Wohnung nicht nur verkommen,
sondern, bis auf ein paar Sperrholzmöbel, so gut wie leer sein.
Lydia war schon seit Jahren abhängig; bestimmt hatte sie alles zu
Geld gemacht, was nicht niet- und nagelfest war. Schweigend
bestiegen Lydia, Janosch und er den Lift.
Janosch hatte Lydia die Handschellen abgenommen –
sie war mittlerweile zu kaputt, als dass Fluchtgefahr bestanden
hätte. Und so hätte ein oberflächlicher Beobachter die drei für
Freunde halten können, wenn da nicht Lydias verbissenes,
hasserfülltes Gesicht gewesen wäre, die dunklen Ringe unter ihren
Augen, die erschöpften und gleichzeitig seltsam steifen Bewegungen,
mit denen sie im engen Lift versuchte, jede Berührung mit Janosch
und David zu vermeiden.
Der Lift hielt im vierten Stock. Janosch und David
ließen Lydia vorausgehen, David gab ihr den Schlüsselbund zurück,
damit sie aufschließen konnte, und nahm ihn gleich danach wieder an
sich. Wie er erwartet hatte, war die Wohnung, ein großzügiges
Dreizimmer-Appartement mit altem Parkettboden und weiß lackierten
Flügeltüren, fast unmöbliert. Das Parkett war staubig, David trat
prompt auf eine klebrige Masse, die sich kaum von seiner Sohle
lösen ließ. Es roch nach altem Müll. Verdammt, dachte er. Sie ist
noch weiter unten, als sie aussieht.
»So, hier sind wir«, sagte Lydia. Ihre Stimme klang
atemlos, trocken und flach. Lydia hielt sich sichtlich nur noch mit
Mühe aufrecht. »Macht es euch bequem«, fügte sie bemüht ironisch
hinzu, aber ihre Miene wirkte eher verängstigt als angriffslustig.
Janosch ging in eins der Zimmer, David schloss währenddessen die
Wohnungstür von innen ab und steckte Lydias Schlüsselbund in die
Tasche seiner Jeans.
»Kann ich ins Bad?«, fragte Lydia. »Ich würd gern
duschen und so.« David lehnte sich an die Wand des Flurs, ließ
seine Blicke schweifen und antwortete absichtlich nicht. Lydia
bewegte sich langsam, schwankend weg von ihm. Er behielt sie im
Auge. Schließlich drückte sie eine der Türen auf, um blitzschnell
dahinter zu verschwinden. Mit einem Satz stand David neben ihr.
»Sie können alles machen, pinkeln, scheißen, duschen«, sagte er.
»Sie können sich auch einen Druck setzen. Solange wir dabei sein
dürfen.«
»Sie blödes... Sie... Arschloch...«
»Lydia, wir können das hier auch abkürzen. Sie
sagen uns, wo der Stoff ist, und dann dürfen Sie was gegen Ihr...
Unwohlsein unternehmen.«
Lydia traten langsam die Tränen in die Augen. »Ich
hab nichts da.«
»Das glauben wir dann, wenn wir hier fertig sind.
Kann natürlich dauern. Ist ja eine große Wohnung.«
Lydia setzte sich geschlagen auf die Badewanne,
zitternd und leise vor sich hin weinend. David checkte ihren
Spiegelschrank, der voller verschreibungspflichtiger Medikamente,
aber ansonsten drogenfrei war. Er tastete die cremefarbenen, mit
geschwungenem blauem Rand verzierten Badezimmerkacheln ab, ohne
eine zu finden, die so lose war, dass man darunter etwas verstecken
konnte. Er zog sich Einweghandschuhe an, bückte sich unter das
Waschbecken, kniete sich auf den Boden, sah unter das Klo und
betastete das hintere Rohr. Alles war verdreckt und sah teilweise
sogar angeschimmelt aus; der leichte, aber penetrante Gestank nach
Staub und Ekelhafterem peinigte Davids Nase. Am liebsten hätte er
hier überhaupt nichts angefasst. Er richtete sich wieder auf.
Janosch rief nach ihm.
»Gleich«, rief David zurück. Er nahm Lydia am Arm
und fasste sie dabei fester an als unbedingt notwendig. Sie ließ
sich willenlos zurück in den Flur führen und danach in den Raum, in
dem Janosch gerade beschäftigt war, ein Ostzimmer, in das erste
Sonnenstrahlen fielen. Janosch saß vor einem hässlichen Tisch mit
einer braunen Pressspanplatte, den Lydia offensichtlich als
Schreibtisch nutzte. Auf dem Tisch stand ein neu aussehendes
Notebook. Janosch hatte es eingeschaltet. David ließ Lydia los und
trat neben ihn. Lydia ließ sich dort, wo sie stand, einfach auf den
Boden gleiten.
David beachtete sie nicht länger. »Was ist das?«,
fragte er Janosch.
»Ich weiß noch nicht«, sagte Janosch. Er starrte
auf das Farbdisplay. »Ich versuch mal, eine der Dateien zu öffnen.«
Er machte sich an der Maus und der Tastatur zu schaffen. Davids
Blick wanderte nach oben, vorbei an Janoschs Kopf zu einer
Fotopinnwand, die Lydia über dem Tisch angebracht hatte. Lydia auf
Partys inmitten rotgesichtiger Freunde, Lydia bei einer Bootsfahrt,
blass und ernst, Lydia mit Hut auf einer Hochzeit neben der
strahlenden Braut. Dann war da ein Bild rechts oben.
David beugte sich vor. Ihm brach der Schweiß aus,
und er spürte, wie sein Herz anfing, in einem unruhigen
Stakkatorhythmus zu schlagen. Das Blut rauschte in seinen Ohren,
als er das Foto abnahm, um es genauer zu betrachten.
Es gab auch auf den zweiten Blick keinen Zweifel.
Auf dem Bild befanden sich drei Personen. Eine davon war Lydia,
eine Hervé und neben Hervé stand Davids vier Jahre jüngere
Schwester Danae. Hervé hatte den Arm um sie gelegt, und Danae
schmiegte sich an ihn, als sei das das Normalste auf der Welt. In
Davids Kopf fand eine Implosion statt, das Zusammenfallen zweier
Welten, die sich nie hätten berühren dürfen. David atmete tief ein
und aus.
Es musste nichts zu bedeuten haben.
Sie standen lediglich nebeneinander.
Danae musste ihn nicht einmal kennen.
Der Arm um die Taille seiner Schwester – das
machten viele Jungs so, wenn sie fotografiert wurden, das allein
hatte nichts zu sagen. Gar nichts.
Aber, wenn doch?
»…David? David, was ist los? Hallo, jemand zu
Hause bei dir?« David hob den Blick, langsam, als erwache er aus
einem Traum. Janosch war aufgestanden und hatte sich vor ihn
gestellt. Er hielt David an beiden Oberarmen fest und schüttelte
ihn leicht.
»Was?«, fragte David schwach.
»Du bist ganz blass. Geht’s dir nicht gut?«
»Doch. Alles okay.«
»So siehst du aber nicht aus!« Janosch sah ihn
besorgt an. David senkte den Blick erneut auf das Foto in seiner
Hand. Es war, als wäre im Moment keine Information stark genug, den
Kokon des Entsetzens aufzubrechen, der sich um ihn herum gebildet
hatte. Er streckte Janosch das Bild entgegen, als würde das alles
erklären. Zu spät fiel ihm ein, dass Janosch seine Schwester nicht
kannte.
»Wer ist das?«, fragte Janosch, aber im selben
Moment schien ein Schatten des Begreifens sein Gesicht zu
verdunkeln. »Deine...«
David brachte kein Wort heraus. Janosch drückte ihn
auf den Stuhl vor Lydias Schreibtisch und ging zu Lydia, die
teilnahmslos auf dem Boden saß und sich an die Wand lehnte. Er
hockte sich ihr gegenüber hin und suchte ihren unsteten Blick. »Wer
ist das?«, herrschte er sie an. Lydia zuckte zusammen. Sie nahm das
Foto, schien sich aber auf nichts konzentrieren zu können. Ihre
Augenlider zitterten, ihr Gesicht war aschfahl, auf der Stirn
standen winzige Schweißtröpfchen.
»Meine Schwester«, sagte David schließlich, als von
Lydia nichts kam. »Die neben Hervé. Das ist meine Schwester.«
Janosch drehte sich um. »Bist du sicher? Ich meine,
das Bild ist ziemlich unscharf.«
»Das ist Danae. Ich, ich weiß nicht, was sie da
macht.«
Janosch stand auf und warf das Bild mit einer
absichtlich verächtlichen Bewegung auf den Schreibtisch. »David,
das ist bloß ein Bild. Die muss Hervé nicht mal kennen, die war
vielleicht zufällig im selben Club und dann hat wer
abgedrückt.«
»Ich weiß.«
»Wir kriegen das raus. Okay? So oder so, wir
kriegen das raus. Und dann sehen wir, was wir machen.«
»Ja. Danke.«
»Können wir jetzt weitermachen?«
»Ja, klar. Sicher. Ich bin wieder fit. Es war
nur...«
»Das ist nur ein Bild. Denk dran. Aber
jetzt...«
»Ja. Ich... nehm mir mal die Küche vor.«
»Super«, sagte Janosch, aber sein Blick blieb
beunruhigt.
Eine halbe Stunde später fand David in Lydias
Schlafzimmer Stoff im Wert von mindestens zehntausend Euro. Sie
hatte das Heroin zwischen Lattenrost und Sprungfedern versteckt.
Die Menge reichte leicht für eine Anklage wegen Drogenhandels.
David dachte bei sich, dass sie wahrscheinlich gerade erst dabei
war, die Sache richtig professionell aufzuziehen, andernfalls wäre
die Wohnung sicher in einem besseren Zustand gewesen. Sie nahmen
Lydia mit zum Drogendezernat. Es war sechs Uhr morgens, als sie
dort ankamen. Mit dem ganzen Papierkram wurde es halb acht. Und
wieder kam David zu spät nach Hause. Wieder gab es Ärger, und alles
wurde noch schlimmer, als er Sandy erzählte, dass er nächste Woche
tagsüber arbeiten musste und sie nicht, wie versprochen, gemeinsam
zu ihrer Mutter aufs Land fahren konnten.
»Fahr doch allein mit Debbie«, versuchte David sie
zu beruhigen.
»Du Scheißkerl. Heirate doch einfach deinen Job,
wie wär denn das?«
»Sandy. Hör jetzt auf!«
Er schloss die Augen. Nichts, gar nichts durfte er
ihr von seinem neuen Auftrag erzählen. Seine Stirn fühlte sich
erneut fieberheiß an. Immerhin war heute Samstag. Er hatte noch
Zeit, Sandy zu bearbeiten, damit sie sich wieder beruhigte. Dann
musste er mit seinen Eltern telefonieren, sie unauffällig nach
Danae aushorchen.
Auf die Idee, Danae selbst anzurufen, kam er
nicht.
Wenigstens war sie bislang polizeilich nicht
aufgefallen, weder in Verbindung mit Drogen, noch auf andere Weise:
Sie stand in keinem Fahndungscomputer. Das war eine gute Nachricht,
redete er sich ein.
Nachts träumte er von Danae, seiner Schwester, die
er liebte, aber mit der er nicht sprechen konnte.
Die Tatsache, dass sehr viele an ihrem eigenen
Weg
zugrunde gehen, bedeutet dem, der Bestimmung hat, nichts.
Er muss den eigenen Gesetzen gehorchen,
wie wenn es ein Dämon wäre, der ihm
neue seltsame Wege einflüstert.
zugrunde gehen, bedeutet dem, der Bestimmung hat, nichts.
Er muss den eigenen Gesetzen gehorchen,
wie wenn es ein Dämon wäre, der ihm
neue seltsame Wege einflüstert.
C. G. Jung