10
Freitag, 25. 7., 5.06 Uhr
Nachdem der Krankenwagen da gewesen war und die Sanitäter Berghammer mitgenommen hatten – er atmete wieder, nachdem Mona erste Hilfe mit Herzmassage und Mund-zu-Nase-Beatmung geleistet hatte, aber es sah trotzdem nicht besonders gut aus, wie einer der Ersthelfer Mona mitgeteilt hatte -, saßen Mona und Fischer allein in der Küche, vor sich die Briefe von Helga Kaysers Sohn. Die Durchsuchung des Hauses war mehr oder weniger abgeschlossen, die Marburger Polizei hatte das Feld geräumt, selbst den unsympathischen KOK Fehrhaber waren sie losgeworden. Die Leiche Helga Kaysers war abtransportiert worden und würde in ein paar Stunden auf einem von Herzogs Obduktionstischen liegen. Das Haus wirkte nun, nachdem die Armada an Beamten verschwunden war, sehr einsam und leer. Vor den Fenstern dämmerte es, und eine Milliarde Vögel freute sich lautstark auf den kommenden Tag.
»Wie sieht’s mit einem Testament von Helga Kayser aus?«, fragte Mona ohne viel Hoffnung. Sie hatte seit vielen Stunden nicht geschlafen und nichts gegessen, aber im Moment war ihr das egal.
»Nichts gefunden«, antwortete Fischer. Für seine Verhältnisse benahm er sich beinahe nett, zumindest aber endlich einmal so kooperativ, wie es seiner Position angemessen war. Berghammers Herzinfarkt – denn es war einer, der Notarzt hatte es bestätigt – schien Fischer einen Dämpfer verpasst zu haben.
»Gar nichts? Nicht mal was Handschriftliches?«
»Nur ein Testament von ihrem Mann. Er hat ihr alles vererbt. Das Haus und 50 000 Mark auf der Bank. Von ihr: nichts.« Fischer nahm sich eine Marlboro und hielt – Zeichen und Wunder geschahen – Mona seine Schachtel hin. Mona zog eine Zigarette heraus und ließ sich von Fischer Feuer geben. Sie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch an die Zimmerdecke. »Das heißt ja wohl, dass da sonst niemand mehr ist«, sagte sie.
»Du meinst irgendwelche Nachkommen?«
»Ganz genau. Helga Kaysers Sohn ist tot, und zu ihren Enkeln hat sie keinen Kontakt. Nehme ich mal an. Sonst gäbe es doch irgendeine Verfügung. Irgendwas. Habt ihr hier irgendein Schriftstück gefunden, in dem die Namen... Warte mal...«, sie sah in einem der Briefe nach, »... Ida, Ferdinand, Hannes oder Susanna Staller vorkommen?«
»Nichts. Sind das ihre Enkel?«
»Ida und Hannes Staller sind ihre Enkel. Ferdinand war ihr Enkel, aber der ist als Kind gestorben. Stand in diesen Briefen drin. Der Vater, Frank, war ihr Sohn, und der ist auch tot. Die Mutter, also Helga Kaysers Schwiegertochter, heißt Susanna. Kapiert?«
»Ja. Und?«
»Im Nachlass von Helga Kaysers Sohn müsste sich ein Brief befinden. Den müssen wir haben, denn in dem geht’s um irgendein Ereignis. Irgendwas ist da passiert. Verstehst du: »DAMALS WARST DU…« – das ist an jemanden gerichtet, der »damals« dabei war. Ich nehme mal an, es geht um Plessen.«
»Clemens sagt aber...«
»Ich weiß, was Clemens sagt. Ich sage auch nicht, dass der Täter kein Serientäter ist, und Serientäter haben keine Tötungsmotive im üblichen Sinn wie Eifersucht, Rache oder Habgier, die funktionieren ganz anders. Weiß ich alles. Aber Clemens hat auch gesagt, dass Serientäter manchmal Botschaften vorschieben, um ihren Tötungsdrang quasi vor sich selbst zu legitimieren.«
»Diese ganzen Mitteilungen sind nur Show?«
»Ja und nein. Ja, weil es dem Täter eigentlich um den Akt an sich geht. Nein, weil er sich dafür... Ich meine, für eine reine Show war der Aufwand einfach zu hoch. Er hat also ein Motiv, das über die reinen Serientätermotive hinausgeht. Ein echtes Motiv, kein bloß vorgeschobenes. Würde ich sagen.«
»Aber...«
»Und die Lösung könnte in dem Brief stehen, den Helga Kayser damals ihrem Sohn geschrieben hat, und auf den der Sohn geantwortet hat. Leider eben so, dass man seiner Antwort nichts entnehmen kann. Wir müssen also diesen Brief finden. Den von Helga Kayser an ihren Sohn.«
»Verstehe.«
»Das heißt: Wir müssen diese Frau und ihre Kinder finden.« Mona verstummte. Sie dachte an ihre Idee, dass der Täter mit seinem letzten Opfer verwandt sein könnte. Vielleicht – einer der Enkel? Eine besonders fürsorgliche Großmutter schien sie jedenfalls nicht gewesen zu sein. Es gab laut Fischer keinerlei Hinweise darauf, dass sie nach dem Tod ihres Sohns den Kontakt zu seiner Frau und seinen Kindern aufrechterhalten hatte. Keine Briefe, die sie bekommen hatte, nichts. Sie würden noch ihre Telefonate der letzten Monate überprüfen, aber Mona glaubte nicht, dass etwas dabei herauskommen würde.
Warum war sie so gewesen? So kühl und abweisend ihrer eigenen Familie gegenüber, sobald ihr eigener Sohn nicht mehr lebte?
Mona stand auf und sammelte die Briefe sorgfältig ein. Auch Fischer erhob sich und fuhr sich über seine kurz geschorenen Haare. Er wirkte beinahe unsicher, als er fragte: »Und jetzt?«
Mona gähnte herzhaft. Dann sagte sie: »Wir müssen zurück, und zwar so schnell wie möglich. Jemand soll uns möglichst bald zum Flugplatz fahren, und dann nehmen wir den Heli.«
»Und Martin?«
»Martin wird nicht transportfähig sein. Die werden ihn hier behalten. Wir machen einen Abstecher zur Klinik, um zu sehen, wie’s ihm geht. Ich werde seiner Frau Bescheid sagen.«
»Okay.«
»Organisierst du das mit dem Heli?«
»Ja.« Fischer verschwand ins Wohnzimmer, und kurze Zeit später hörte sie ihn telefonieren. Mona lehnte sich ans offene Küchenfenster. Das Vogelgezwitscher schien immer lauter zu werden, und inzwischen hatte sich der Horizont rötlich verfärbt. Der Himmel war wolkenlos, und soweit sie das beurteilen konnte, würde es nach dem kurzen Regen-Intermezzo wieder ein heißer Tag werden. Die Sommerpause war vorbei. Sie nahm ihr Handy und suchte Berghammers Privatnummer in ihrem gespeicherten Verzeichnis. Sie kannte Frau Berghammer und wusste, es würde kein leichtes Gespräch werden. Aber es musste erledigt werden, und je weniger sie vorher darüber nachdachte, desto besser.
Damals warst du still
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