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Freitag, 25. 7., 5.06 Uhr
Nachdem der Krankenwagen da gewesen war und die
Sanitäter Berghammer mitgenommen hatten – er atmete wieder, nachdem
Mona erste Hilfe mit Herzmassage und Mund-zu-Nase-Beatmung
geleistet hatte, aber es sah trotzdem nicht besonders gut aus, wie
einer der Ersthelfer Mona mitgeteilt hatte -, saßen Mona und
Fischer allein in der Küche, vor sich die Briefe von Helga Kaysers
Sohn. Die Durchsuchung des Hauses war mehr oder weniger
abgeschlossen, die Marburger Polizei hatte das Feld geräumt, selbst
den unsympathischen KOK Fehrhaber waren sie losgeworden. Die Leiche
Helga Kaysers war abtransportiert worden und würde in ein paar
Stunden auf einem von Herzogs Obduktionstischen liegen. Das Haus
wirkte nun, nachdem die Armada an Beamten verschwunden war, sehr
einsam und leer. Vor den Fenstern dämmerte es, und eine Milliarde
Vögel freute sich lautstark auf den kommenden Tag.
»Wie sieht’s mit einem Testament von Helga Kayser
aus?«, fragte Mona ohne viel Hoffnung. Sie hatte seit vielen
Stunden nicht geschlafen und nichts gegessen, aber im Moment war
ihr das egal.
»Nichts gefunden«, antwortete Fischer. Für seine
Verhältnisse benahm er sich beinahe nett, zumindest aber endlich
einmal so kooperativ, wie es seiner Position angemessen war.
Berghammers Herzinfarkt – denn es war einer, der Notarzt hatte es
bestätigt – schien Fischer einen Dämpfer verpasst zu haben.
»Gar nichts? Nicht mal was
Handschriftliches?«
»Nur ein Testament von ihrem Mann. Er hat ihr alles
vererbt. Das Haus und 50 000 Mark auf der Bank. Von ihr: nichts.«
Fischer nahm sich eine Marlboro und hielt – Zeichen und Wunder
geschahen – Mona seine Schachtel hin. Mona zog eine Zigarette
heraus und ließ sich von Fischer Feuer geben. Sie nahm einen tiefen
Zug und blies den Rauch an die Zimmerdecke. »Das heißt ja wohl,
dass da sonst niemand mehr ist«, sagte sie.
»Du meinst irgendwelche Nachkommen?«
»Ganz genau. Helga Kaysers Sohn ist tot, und zu
ihren Enkeln hat sie keinen Kontakt. Nehme ich mal an. Sonst gäbe
es doch irgendeine Verfügung. Irgendwas. Habt ihr hier irgendein
Schriftstück gefunden, in dem die Namen... Warte mal...«, sie sah
in einem der Briefe nach, »... Ida, Ferdinand, Hannes oder Susanna
Staller vorkommen?«
»Nichts. Sind das ihre Enkel?«
»Ida und Hannes Staller sind ihre Enkel. Ferdinand
war ihr Enkel, aber der ist als Kind gestorben. Stand in diesen
Briefen drin. Der Vater, Frank, war ihr Sohn, und der ist auch tot.
Die Mutter, also Helga Kaysers Schwiegertochter, heißt Susanna.
Kapiert?«
»Ja. Und?«
»Im Nachlass von Helga Kaysers Sohn müsste sich ein
Brief befinden. Den müssen wir haben, denn in dem geht’s um
irgendein Ereignis. Irgendwas ist da passiert. Verstehst du:
»DAMALS WARST DU…« – das ist an jemanden gerichtet, der »damals«
dabei war. Ich nehme mal an, es geht um Plessen.«
»Clemens sagt aber...«
»Ich weiß, was Clemens sagt. Ich sage auch nicht,
dass der Täter kein Serientäter ist, und Serientäter haben keine
Tötungsmotive im üblichen Sinn wie Eifersucht, Rache oder Habgier,
die funktionieren ganz anders. Weiß ich alles. Aber Clemens hat
auch gesagt, dass Serientäter manchmal Botschaften vorschieben, um
ihren Tötungsdrang quasi vor sich selbst zu legitimieren.«
»Diese ganzen Mitteilungen sind nur Show?«
»Ja und nein. Ja, weil es dem Täter eigentlich um
den Akt an sich geht. Nein, weil er sich dafür... Ich meine, für
eine reine Show war der Aufwand einfach zu hoch. Er hat also ein
Motiv, das über die reinen Serientätermotive hinausgeht. Ein echtes
Motiv, kein bloß vorgeschobenes. Würde ich sagen.«
»Aber...«
»Und die Lösung könnte in dem Brief stehen, den
Helga Kayser damals ihrem Sohn geschrieben hat, und auf den der
Sohn geantwortet hat. Leider eben so, dass man seiner Antwort
nichts entnehmen kann. Wir müssen also diesen Brief finden. Den von
Helga Kayser an ihren Sohn.«
»Verstehe.«
»Das heißt: Wir müssen diese Frau und ihre Kinder
finden.« Mona verstummte. Sie dachte an ihre Idee, dass der Täter
mit seinem letzten Opfer verwandt sein könnte. Vielleicht – einer
der Enkel? Eine besonders fürsorgliche Großmutter schien sie
jedenfalls nicht gewesen zu sein. Es gab laut Fischer keinerlei
Hinweise darauf, dass sie nach dem Tod ihres Sohns den Kontakt zu
seiner Frau und seinen Kindern aufrechterhalten hatte. Keine
Briefe, die sie bekommen hatte, nichts. Sie würden noch ihre
Telefonate der letzten Monate überprüfen, aber Mona glaubte nicht,
dass etwas dabei herauskommen würde.
Warum war sie so gewesen? So kühl und abweisend
ihrer eigenen Familie gegenüber, sobald ihr eigener Sohn nicht mehr
lebte?
Mona stand auf und sammelte die Briefe sorgfältig
ein. Auch Fischer erhob sich und fuhr sich über seine kurz
geschorenen Haare. Er wirkte beinahe unsicher, als er fragte: »Und
jetzt?«
Mona gähnte herzhaft. Dann sagte sie: »Wir müssen
zurück, und zwar so schnell wie möglich. Jemand soll uns möglichst
bald zum Flugplatz fahren, und dann nehmen wir den Heli.«
»Und Martin?«
»Martin wird nicht transportfähig sein. Die werden
ihn hier behalten. Wir machen einen Abstecher zur Klinik, um zu
sehen, wie’s ihm geht. Ich werde seiner Frau Bescheid sagen.«
»Okay.«
»Organisierst du das mit dem Heli?«
»Ja.« Fischer verschwand ins Wohnzimmer, und kurze
Zeit später hörte sie ihn telefonieren. Mona lehnte sich ans offene
Küchenfenster. Das Vogelgezwitscher schien immer lauter zu werden,
und inzwischen hatte sich der Horizont rötlich verfärbt. Der Himmel
war wolkenlos, und soweit sie das beurteilen konnte, würde es nach
dem kurzen Regen-Intermezzo wieder ein heißer Tag werden. Die
Sommerpause war vorbei. Sie nahm ihr Handy und suchte Berghammers
Privatnummer in ihrem gespeicherten Verzeichnis. Sie kannte Frau
Berghammer und wusste, es würde kein leichtes Gespräch werden. Aber
es musste erledigt werden, und je weniger sie vorher darüber
nachdachte, desto besser.