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Montag, 21. 7., 12.26 Uhr
Fritz Lachenmeier war ein mittelgroßer, schwerer
Mann mit dickem, wahrscheinlich von Medikamenten aufgeschwemmtem
Gesicht. Kaum hatte er sich hingesetzt, fasste er mit einer
ungeschickten, aber völlig selbstverständlichen Bewegung in Dr.
Baums Kitteltasche und holte ein grünes Einwegfeuerzeug heraus.
Damit zündete er sich eine Zigarette an und hielt anschließend Mona
und Bauer die Schachtel hin. Mona nahm eine Zigarette und ließ sich
von Lachenmeier Feuer geben. Sie ergriff sein Handgelenk, als sie
sah, dass es ihm sein Tremor unmöglich machte, das Feuerzeug ruhig
zu halten (auch ihre Mutter rauchte wie verrückt, sobald sie
einigermaßen auf dem Posten war, und auch ihre Hände zitterten
ständig wegen der Medikamente).
Lachenmeier sah sie dankbar an. Sie fing einen
nachdenklichen Blick von Dr. Baum auf und wandte sich sofort
ab.
»Wissen Sie, wer wir sind?«, fragte sie
Lachenmeier.
»Polizei«, sagte Lachenmeier sofort. Seine Stimme
war dunkel und kehlig, seine Aussprache undeutlich. Er begann,
leicht hin und her zu schaukeln. Mona erkannte, dass es ziemlich
schnell gehen musste. Lange würde er sich nicht konzentrieren
können.
»Können Sie sich an Fabian Plessen erinnern?«
Das Schaukeln wurde stärker. Aber immerhin
antwortete er: »Ja.«
»Wie war die Behandlung? Fanden Sie sie gut?«
»Ja.«
»Wie gut? Was hat Herr Plessen gemacht?«
Eine Pause entstand; Lachenmeier hörte auf zu
schaukeln und schien angespannt auf etwas zu lauschen. »Er hat
immer Recht«, sagte er schließlich. »Widerspruch zwecklos.«
Letzteres klang beinahe ironisch, so als wollte er jemanden
nachmachen.
»Wer hat das gesagt?«, mischte sich Bauer ein.
Lachenmeier sah ihn verständnislos an.
»Widerspruch zwecklos«, zitierte Bauer. »Hat das
Plessen zu Ihnen gesagt? Oder zu jemandem anders?«
»Nicht gesagt. Gemacht. So lange geredet, bis man
alles geglaubt hat. Dann hat man es nicht mehr rausgekriegt. Aus
dem Kopf. Dann war es drin.«
»Was ist denn drin in Ihrem Kopf?«, fragte Mona
behutsam.
Lachenmeier hob die Hände und legte sie an seine
Ohren. Er begann wieder zu schaukeln, vor, zurück, vor,
zurück.
»Herr Lachenmeier? Was ist in Ihrem Kopf?«
»Mein Großvater. Er ist wieder lebendig. Fabian, er
hat ihn lebendig gemacht. Jetzt will er nicht mehr ins Grab zurück.
Versteht man ja.« Lachenmeier begann hastig zu kichern. »Er macht
mir Angst«, sagte er plötzlich.
»Wer? Der Großvater?«
»Er. Und alle anderen. Da kommen ja noch viel
mehr.«
»Noch mehr? Wer kann das denn sein?«
»Die Kameraden. Harte Jungs. Machen keine
Faxen.«
»Was für Kameraden?«, fragte Mona, doch in
derselben Sekunde ging ihr ein Licht auf. Sie rechnete zurück – die
Zeit stimmte. Lachenmeiers Blicke flogen im Zimmer herum, er begann
hektisch ein- und auszuatmen, auf seiner Oberlippe erschienen
Schweißtropfen. Dr. Baum legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm,
griff aber nicht ein. »Die Kameraden von Ihrem Großvater«, sagte
Mona hartnäckig. »Waren die vielleicht von der SS?«
»Nein!«
»SA? Gestapo?«
»Nein! Nein!« Aber Lachenmeier schien nun kaum noch
zu bändigen. Er bekann zu keuchen, tief, heiser und verzweifelt.
Mona sah Dr. Baum an, der die Arme um seinen Patienten legte und
den schweren Mann wiegte wie ein kleines Kind. »Fabian Plessen »,
sagte Mona, entschlossen, das Maximum an Informationen aus diesem
Mann herauszuholen, bevor er endgültig wieder in seine Wahnwelt
abtauchte.
»Ich hasse ihn!« Die Worte kamen undeutlich aber
doch verständlich genug.
»Wen hassen Sie? Fabian Plessen?« Mona beugte sich
vor, versuchte, seinen unsteten Blick einzufangen. Lachenmeier sah
an die Decke und schien dort ein Muster auszumachen. »Ich war ein
glücklicher Mensch, bevor Fabian das Grab aufgemacht hat in meinem
Kopf«, sagte er schließlich.
»Haben Sie Angst vor Fabian?«
»Vor seinen Freunden.«
»Freunde? Wer soll das sein?« Aber im selben
Augenblick fielen Mona die fünf Menschen ein, die anwesend waren,
als sie und Bauer die Plessens in ihrem Haus vernommen
hatten.
»Fabian hat Freunde. Die rufen an und
schimpfen.«
»Wie? Was sagen die denn, wenn sie
schimpfen.«
»Die wollen keine Kritik.« Und das sollte sein
letzter klarer Satz für heute gewesen sein.
»Keine Kritik? Haben Sie Fabian kritisiert?«
Ein ängstlicher Blick von unten herauf:
»Nein!«
»Aber seine Freunde haben Sie angerufen?«
»Nein! Nein, nein!«
Mona versuchte es anders. »Wenn Sie glücklich
waren, bevor Sie Fabian konsultiert haben, was war dann der Sinn
und Zweck des Ganzen? Warum haben Sie an seinem Seminar
teilgenommen?«
Lachenmeier begann leise, ja beinahe lautlos zu
weinen. Er antwortete nicht auf die Frage und auch auf keine andere
mehr. Nach ein paar Minuten vergeblichen Bemühens ließen sie ihn in
Ruhe. Dr. Baum gab dem Pfleger, der stumm an der Tür wartete, ein
Zeichen. Lachenmeier weinte immer noch, als der Mann ihn hochzog,
und sanft hinausführte. Mona hätte sich am liebsten ebenfalls
sofort verabschiedet. Bauer sah aus, als stünde er kurz vor einem
Zusammenbruch.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Dr. Baum nach einer
Pause mit teilnehmender Stimme.
»Ja«, sagte Mona. »Sicher.« Sie nahm sich zusammen.
»Sein Großvater war bei der SS oder einem ähnlichen Verein,
stimmt’s?«
Dr. Baum nickte. »Waffen-SS. Sie werden das den
Gesprächsprotokollen entnehmen können. Dieser Plessen hat während
seiner Therapie offenbar eine frühkindliche Erinnerung geweckt.
Fritz’ Großvater war Fotograf und Mitglied der Waffen-SS und in
Warschau zurzeit des jüdischen Gettos stationiert. In den
Sechzigerjahren hat er dem damals Sechs- oder Siebenjährigen einige
seiner Fotos gezeigt, wo es um Erschießungen jüdischer
Widerstandskämpfer ging. Das war wohl nach der pädagogischen Devise
So geht es einem, wenn man nicht brav ist gedacht.«
»Mein Gott«, sagte Mona. »Das ist...«
»Fritz war ein Kind«, sagte Baum. »Er konnte nach
diesem Vorfall nächtelang nicht schlafen. Schließlich hat er das
vergessen oder verdrängt oder wie immer man das nennen mag, und das
war vielleicht gar nicht so schlecht. Er blieb zwar ängstlich und
zwanghaft, auch als Erwachsener. Aber immerhin, er hatte einen Job,
eine Frau, zwei Töchter... Dieses Seminar hat er eigentlich nur
gemacht, um etwas, na ja, mutiger und lebenslustiger zu werden.«
Dr. Baum seufzte. »Tja, stattdessen wurden dabei jede Menge
schlafende Hunde geweckt.«
»Was ist danach passiert?«, fragte Mona.
»Fritz hat recherchiert wie ein Besessener. Und
seine Befürchtungen haben sich als wahr erwiesen. Er hat sogar
diese grauenvollen Bilder wieder gefunden, verpackt in einer Kiste
bei seinen Eltern auf dem Speicher. Anschließend begann dieser
Verfolgungswahn. Fritz ist regrediert.«
»Regre…?«
»Er ist sechs Jahre alt, und sein Großvater droht
ihm, weil er nicht brav war. Wieder und wieder.«
»Er hasst Plessen«, stellte Bauer fest.
»Das kann man ihm wohl kaum verübeln.«
»Ist er in der geschlossenen Abteilung?«, fragte
Mona.
»Nein. Aber unter ständiger Aufsicht.
Ausgeschlossen, dass er etwas mit diesen Taten zu tun hat.«
»Das sagt sich leicht. Da gibt es Fälle...«
»In seiner Akte befinden sich seine Tagespläne. An
den fraglichen Terminen hatte er einmal Gruppenstunde und einmal
Einzeltherapie. Und er besitzt ja nicht einmal ein Auto.«
»Der Mord an Samuel Plessen passierte in der Nacht.
Theoretisch wäre ein heimlicher Abgang sehr wohl möglich gewesen.
Schließlich gibt es die Bahn.« Aber Mona wusste, wie gering die
Wahrscheinlichkeit war. Die notwendige akribische Planung, all die
strategischen Feinheiten – in seinem derzeitigen Zustand war
Lachenmeier dazu nicht in der Lage. Es sei denn, er simulierte
perfekt. Aber wer brachte das schon fertig, drei Monate lang, Tag
für Tag, eine halbe Ewigkeit?
»Was meinte er mit Plessens Freunden?«, fragte sie
zuletzt.
»Keine Ahnung«, sagte Dr. Baum. »Er hat noch nie
von denen gesprochen.«
»Hat er je Angst gehabt, bedroht zu werden? Egal
von wem?«
»Nur von seinen Schimären. Da waren nie reale
Person darunter, wenn Sie das meinen.«
Mona stand auf, und Bauer schloss sich ihr sofort
an, sichtlich erleichtert, diesen Ort hinter sich zu lassen. Sie
verabschiedeten sich hastig von dem etwas überrascht wirkenden Dr.
Baum. In Monas Kopf hatten sich Informationen zusammengefügt, die
ein beunruhigendes Bild ergaben.