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Mittwoch, 16. 7., 12.43 Uhr
Bei einer Durchschnittstemperatur von zwanzig bis
fünfundzwanzig Grad dauert es etwa drei Tage, bis der
Verwesungsgrad einer Leiche so weit fortgeschritten ist, dass der
Geruch auch außerhalb einer verschlossenen Wohnung wahrnehmbar ist.
Oft vergehen dann noch ein paar weitere Tage, bis jemand den
Hausmeister alarmiert, der dann meist sofort die Polizei anruft.
Denn kaum ein Mensch hat den Mut, den zu erwartenden desaströsen
Anblick allein zu verkraften.
In diesem Fall dauerte es länger. Das lag daran,
dass viele Bewohner im Urlaub waren; zufälligerweise war also genau
das Stockwerk, in dem die Tote wohnte, wochenlang fast verwaist.
Eine vierundzwanzigjährige Studentin, die eine Woche Billigferien
in Agadir inklusive Durchfall und Fieber hinter sich hatte,
bemerkte bei ihrer Rückkehr den mittlerweile infernalischen
Gestank. So lag die Leiche bereits mehrere Tage in der Küche, bevor
die zwei Polizisten gemeinsam mit dem Hausmeister die Wohnung
betraten.
Die Wohnung bestand neben Küche und Bad aus drei
Räumen, von denen zwei abgesperrt waren. Das einzige begehbare
Zimmer befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Das breite
Ehebett war ungemacht, das schmuddelige Bettzeug lag teilweise auf
dem Boden. Der Fernseher lief mit abgestelltem Ton. Vergammelte
Pizzakartons lagen auf den beiden Nachttischchen rechts und links
neben dem Bett und der Fensterbank gegenüber: Da war jemand
wochenlang nicht einkaufen gewesen und hatte ständig den
Pizzadienst bemüht. Überall lag verschmutzte Kleidung herum,
Schuhe, Strümpfe, sogar einzelne Schmuckstücke. Der Kleiderschrank
stand offen, war halb leer, und es sah aus, als hätte jemand im
verbliebenen Rest der Kleidung herumgewühlt.
Die Polizisten und der Hausmeister begaben sich in
die Küche, wo der Geruch sich ins Unerträgliche steigerte. Eine
Frau, deren Gesicht so aufgequollen war, dass man seine Züge
bereits nicht mehr erkennen konnte, lag rücklings wie gefällt auf
dem grau-weiß geflammten Linoleum. Sie trug eine durch die
Leichenflüssigkeit dunkel verfärbte Jogginghose und ein überweites
T-Shirt, dessen ursprüngliche Farbe ebenfalls nicht mehr
festzustellen war. Auch in der Küche stapelten sich alte
Pizzakartons; in einer Pfanne befand sich etwas, das auf den ersten
Blick aussah wie schwarze Spaghetti. Alles schien vor Schmutz zu
starren.
»Scheiße«, sagte einer der beiden Polizisten.
»Fassen Sie bloß nichts an«, sagte der andere zu
dem kreidebleichen Hausmeister. Der schüttelte stumm den Kopf. Um
nichts in der Welt hätte er hier irgendetwas berührt.
Als sie die Wohnung zu seiner grenzenlosen
Erleichterung wieder verließen, vorerst ohne die beiden
verschlossenen Räume gewaltsam zu öffnen, fragte er den Größeren
der beiden: »Habt ihr das öfter. Solche – äh – Vorfälle?«
»Klar.« Der Polizist war jung und blond und sah
sehr gut aus, was in dieser Uniform eine echte Leistung war. Auch
er war blass um die Nase, hielt sich aber bemerkenswert tapfer. Der
andere war älter und dicker und schien sich von nichts mehr
schockieren zu lassen.
Sie traten auf den Gang hinaus, und der Hausmeister
lud sie hastig ein, zur Klärung der Einzelheiten (diesen
Ausdruck hatte er sich sorgfältig zurechtgelegt) mit in seine
Wohnung zu kommen – sie war zwar nicht aufgeräumt, und
normalerweise wäre ihm das vor Fremden peinlich gewesen, aber
nichts erwies sich im Moment so stark wie sein Wunsch, so schnell
wie möglich diese Stätte des Grauens zu verlassen, ohne sich eine
Blöße zu geben.
»Du bleibst hier«, sagte der Ältere zu dem
Jüngeren. »Ich ruf Todesermittlung und Mordkommission an.«
»Okay«, sagte der andere mit wenig begeisterter
Miene.
»Bis die kommen, rührst du dich hier nicht
weg.«
»Nein. Weiß ich schon.«
Der Hausmeister stand bereits an der Treppe, als
der Ältere endlich auf ihn zukam. Gemeinsam gingen sie die zwei
Etagen hinunter ins Erdgeschoss. Es gab zwar einen Lift, aber der
Hausmeister fürchtete, dass sein Magen selbst diese kurze Fahrt zur
Rebellion nutzen würde.
»Möchten Sie einen Schnaps?«, fragte er den
Polizisten, als sie glücklich in seinem Domizil angekommen
waren.
»Nein. Danke. Aber Sie, trinken Sie ruhig einen.
Sie haben’s bestimmt nötig.«
»Das können Sie laut sagen. Setzen Sie sich ruhig
hin, ich bin gleich wieder da.« Er schlurfte in seine kleine Küche
und holte sich eine Flasche Williamsbirne, sein Lieblingsgetränk,
das er normalerweise nur an Feiertagen anrührte. Den heutigen Tag
konnte man schwer als solchen bezeichnen, aber es war immerhin auch
keiner wie jeder andere. So gesehen etwas Besonderes, das man auf
irgendeine Weise zu würdigen hatte. Der Hausmeister hatte trotz
seines Alters – er war neunundfünfzig – noch nie einen Toten
gesehen, und seinetwegen hätte es so bleiben können, bis er selbst
ins Gras beißen musste.
Er schenkte sich gleich in der Küche ein Glas ein,
kippte es hinunter, atmete tief durch und nahm Flasche und Glas ins
Wohnzimmer mit, wo der Polizist am Fenster stand und bereits eifrig
in sein Telefon sprach. Das ging noch ein, zwei Minuten so, dann
wandte er sich an den Hausmeister, der sich mittlerweile hingesetzt
und sich das dritte Glas genehmigt hatte. Er war ein wenig
betrunken, aber das war ihm ganz recht so, denn zumindest hatte
sich die Übelkeit gelegt. Der Geruch allerdings war noch immer in
seiner Nase, versteckte sich in seinen Kleidern, seinen Händen.
Vielleicht wurde man ihn nie wieder los. Er goss sich ein viertes
Glas ein.
»Die Frau«, sagte der Polizist, in der linken Hand
einen kleinen Block, in der rechten einen Kugelschreiber, der über
dem weißen Papier schwebte. »Wie heißt die?«
»Sonja Martinez«, sagte der Hausmeister.
»Allein stehend?«
»Verheiratet. Ihr Mann hat sie verlassen. Zusammen
mit der Tochter.« Diese Information war wichtig, so viel war auf
jeden Fall klar, und er hatte die ganze Zeit auf diesen Augenblick
gewartet, um sie endlich loszuwerden. Der Hausmeister war jetzt ein
Zeuge. Vielleicht würden Journalisten mit ihm reden wollen, und er
käme in die Zeitung oder ins Fernsehen – zumindest ein angenehmer
Aspekt an dieser unangenehmen Geschichte.
»Verlassen?«, fragte der Polizist mit
uninteressiertem Gesicht und kritzelte in seinen Block.
»Ja. Vor, also, ich würde mal sagen sechs, sieben
Wochen. Da stand plötzlich der Transporter vor der Tür, und ich hab
den Martinez die Sachen rausräumen sehen, und seine Tochter saß
schon im Wagen.«
»Die sind richtig umgezogen?«
»Sah jedenfalls so aus.«
»Haben Sie während dieser Zeit mal mit der – äh -,
mit dem Opfer gesprochen?«
»Schon, aber... Ich meine, sind Sie wahnsinnig, ich
werd die doch nicht drauf anreden!«
»Von sich aus hat sie nichts erzählt?«
Das hörte sich so an, als würden die wirklich
wichtigen Informationen fehlen, und als sei er schuld daran. Was er
nicht war. »Ich hab die doch kaum gesehen in der letzten Zeit! Die
hat doch das Haus überhaupt nicht mehr verlassen!«
»Ist ja gut«, beschwichtigte ihn der Polizist. Sein
Gesicht war so gelangweilt, als fände er jeden Tag eine grässlich
stinkende Leiche. »Wo ist der Mann von ihr? Herr... Wie heißt der
noch mal?«
»Robert Martinez. Ist, glaube ich, Spanier.«
»Mhm. Und wo ist dieser Martinez jetzt, wissen Sie
das?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf.
»Hatten die Kontakt zu irgendwelchen Nachbarn? Er
oder sie?«
»Also wenn das so wäre, dann wären Sie doch längst
hier gewesen.«
Der Polizist schien das erst zu schlucken, dann
schoss er plötzlich scharf. »Sie hätten sich ja vielleicht auch mal
in das Stockwerk begeben können. Als Hausmeister. Oder?«
Der Hausmeister lächelte. »Ich war eine Woche in
Urlaub, auf den Kanaren. Bin gestern zurückgekommen. Können Sie
alles nachprüfen.« Sein Ticket lag im Schlafzimmer, er konnte es
sofort holen, falls jemand einen Beweis verlangte. Doch das tat
niemand, denn in diesem Moment klingelte es an der
Wohnungstür.
»Kollegen«, sagte der Polizist trocken, und es
klang irgendwie triumphierend. »Machen Sie denen mal auf, die
wollen sicher noch’ne Menge wissen.«