Zwischenspiel: Juni 1968
Für Seth Springer, der allein zwischen den Welten dahintrieb, war das Apollo-Kommandomodul eine zweite Heimat.
Am Startplatz hatte er nur einen kurzen Blick von seinem Raumschiff erhascht, bevor er von der Rampen-Crew hineingeführt worden war. Es sah wie eine ganz normale Apollo mit dem kegelförmigen Kommandomodul auf dem dicken Zylinder des Servicemoduls aus – nur dass sich am oberen Ende dieses Servicemoduls so etwas wie ein Zusatz befand, ein zylindrischer Kragen. Darin lag die Atombombe, Seths einzige Begleiterin auf dieser Mission.
Im Innern war die Kabine kegelförmig, ein behaglicher Verschlag. Da das Schiff ursprünglich für eine Besatzung von drei Mann gedacht gewesen war, gab es nach wie vor drei Liegen. Über diesen befanden sich mehrere Instrumententafeln, die teilweise rasch neu konfiguriert worden waren, sodass ein einzelner Mann gut an alle benötigten Elemente herankam. Unter der mittleren Liege war die untere Gerätebucht, hinter den Liegen ein Kriechraum mit Spinden und anderen Ausrüstungsgegenständen. Alles war in einem ordentlichen Schlachtschiffgrau gestrichen, und an den Wänden wimmelte es von kleinen Klettpolstern, an denen er Dinge befestigen konnte, damit sie in der Schwerelosigkeit nicht davontrieben.
Alles war hell erleuchtet und so vollgepackt mit Gerätschaften, dass immer ein Summen in der Luft hing – wie in einer Küche oder einem Wohnmobil, und genau wie im Simulator, sodass Seth sofort das Gefühl hatte, hierherzugehören.
Heute war der Starttag gewesen, ein langer, geschäftiger Tag, seit er im Mannschaftsquartier aufgewacht war. Und nachdem die Apollo von der Erde aus in den interplanetarischen Raum geschleudert worden war, bereitete Seth das Kommandomodul nun für die Nacht vor, indem er Paneele vor die Fenster setzte und das Licht dämpfte. Überraschenderweise bekam sein kleines Zuhause dadurch die Anmutung einer Kapelle.
Unter den Liegen fand er einen Platz, wo er sich ausstrecken konnte, und zu seiner neuerlichen Überraschung schlief er problemlos ein.
Am Morgen – es war Samstag, erinnerte er sich sofort – wurde er von einem verzerrten Gitarrengeheul geweckt.
Er erledigte gemächlich seine Aufgaben, machte Kaffee – ein Spritzer heißes Wasser aus einem Hahn in einen vorbereiteten Beutel – und aß Käsecracker zum Frühstück. Dann rief er den Boden. »Houston, Apollo.«
»Guten Morgen, Seth.«
»Hey, Charlie. Was zum Teufel war das denn?«
»Nicht ganz live von den Bermudas, dem Love-in. Ein Solo von Jimi Hendrix. Er nennt es ›Hymne für eine Weltregierung‹. Ein Mischmasch aus dem Star-Spangled Banner und der russischen Nationalhymne.«
»Was für ein Frevel.«
»Na, Jimi hockt ja auf dem Icarus-Bodennullpunkt, zusammen mit Ravi Shankar, Captain Beefheart, John Lennon und all den anderen. Er zeigt dir also, dass er an dich glaubt, Mann … Apropos, vielleicht solltest du mal einen Blick in dein PPK werfen, wenn du Zeit hast. Außerdem hat Vizepräsident Kennedy in den Nachrichten heute Nacht gesagt, dass er die zukünftigen Pläne der NASA akzeptiert. Der Mars bis 1990, sagt er.«
»Sofern wir Mitte nächster Woche noch da sind, schätze ich.«
»Da hast du auch wieder recht. Danke, dass wir durch dich weiter in Lohn und Brot sind, Kumpel.«
»Ja. Also umsorgt meine Jungs ordentlich, wenn sie groß sind und ins Astronaut Office kommen, okay?«
»Geht klar, Seth.«
Seth räumte seinen Abfall weg und putzte sich die Zähne. Er hatte ausführlich trainiert, wie man sich im Weltraum so rasierte, dass keine Bartstoppeln in der Kabine umherflogen, aber da er nur bis Dienstag unterwegs sein würde, beschloss er, das auszulassen.
Dieser Samstag war ein verhältnismäßig ruhiger Tag, aber Seth hatte trotzdem eine Menge zu tun: Treibstoffzellen reinigen, Batterien und Kohlendioxidspeicher aufladen. Man hatte erwogen, ihm eine Bordkamera mitzugeben, damit er etwas zur Erde oder zumindest an seine Familie senden konnte. Aber er war zu dem Schluss gelangt, dass beides zu schmerzhaft sein würde, und hatte sich davor gedrückt. Sein Arbeitsprogramm hielt ihn auch so auf Trab. Was ja vielleicht auch der Sinn und Zweck des Ganzen war.
Zu Mittag gab es Hühnersuppe und Lachssalat.
Als er dann doch einmal für ein paar Minuten die Hände in den Schoß legen konnte, sah er sich sein PPK an, sein »Personal Preference Kit«. Alle Astronauten durften eine Tasche mit persönlichen Dingen auf ihre Flüge mitnehmen: Andenken, Fotos, Souvenirs und dergleichen. Da Seth sich nicht entscheiden konnte, was er mitnehmen sollte, hatte er diese Aufgabe seinen Angehörigen und Freunden überlassen. Deshalb öffnete er die Tasche nun mit einer gewissen nervösen Vorfreude.
Der sperrigste Gegenstand war ein kleines tragbares Tonbandgerät. Dann kam ein winziges Fotoalbum, zusammengestellt von Pat, mit Fotos von ihr, den Kindern und der ganzen Familie. Ein kleines goldenes Medaillon, das früher einmal seiner Großmutter gehört hatte – es trug das Familienwappen der Springers, einen Springbock im Sprung –, mit Haarlocken der Kinder darin. Er beschäftigte sich eine ganze Weile mit diesen Dingen, und es war ihm egal, was sie unten bei Mission Control von seiner Reaktion hielten.
Ein Brief des Präsidenten.
Ein Brief von Louis Armstrong! »Gott sei mit Ihnen, Sie großartiger junger Mann …«
Auf dem Tonbandgerät stand, von Hand geschrieben: TONTO. Als er es einschaltete, hörte er zu seiner Überraschung Mo Berrys Stimme.
»Sei mir gegrüßt, Tonto. Wenn du das hier abspielst, hat mich das Finanzamt am Wickel, und deshalb lassen sie dich mein Raumschiff fliegen. Also, Kumpel, ich kann mir keinen Besseren in diesem Sitz vorstellen, außer mich selbst, natürlich. Und ich habe wohl einige meiner letzten Augenblicke in Freiheit damit verschwendet, dieses Band für dich zusammenzustellen.
Ich habe mich von Pat beraten lassen und ein paar Sachen aus den Zeiten der Hot Five, der Hot Seven sowie eine Auswahl der Stücke auf Ella and Louis draufgespielt. Dieser Scatgesang könnte ein Feuer löschen, das gebe ich zu. Und ich hab auch noch ein Lieblingsstück von mir draufgepackt. Du weißt ja, ich höre mir ganz gern auch mal das neue Zeug an, die Musik, die diese Langhaarigen heutzutage so machen. Sagen wir, es sind sublimierte Vatergefühle – na ja, so hat es mir mal ein NASA-Seelenklempner erklärt. Aber was ist falsch daran? Irgendwie bist du jetzt deshalb da draußen. Also viel Spaß damit, Tonto, und versuch, nicht vom Pferd zu fallen, bevor die Schießerei losgeht …«
Das zusätzliche Stück begann mit sentimentalen Streichern im Sechsachteltakt, und Seth fragte sich, ob das ein letzter Scherz von Mo war, ob er das Band schließlich doch mit lauter Mantovani-Sachen gefüllt hatte. Aber dann begann Louis B. zu singen, und zwar, wie Seth einer Titelliste in der Hülle entnahm, einen Song mit dem Titel »What a Wonderful World«. In den Staaten war er letztes Jahr anscheinend ein Flop gewesen, in Europa aber ein großer Chart-Erfolg: ein Hit für Satchmo, im Zeitalter von Jimi Hendrix. »Und ich kannte ihn nicht mal. Danke, Kumpel.«
Dann brachte ihn der Text dazu, an seine Kinder zu denken, und er musste das Band anhalten.
Sonntag, Montag.
Zwei weitere Tage im All, Tage voller Routine. Er war erleichtert, dass keine der Aufgaben, die man ihm stellte, sich als zu schwierig für ihn erwiesen, zum Beispiel die kniffligen Positionsbestimmungen nach Augenschein oder die einzige Kurskorrektur, die er ungefähr nach der Hälfte des Fluges vornehmen musste. Solange er bis zu dem Rendezvous noch ein, zwei Mal schlafen konnte, kam es ihm irgendwie so vor, als wäre alles bloß ein Trainingsdurchlauf. Aber die Zeit lief erbarmungslos ab; dieser große, böse Steinbrocken raste noch schneller auf ihn zu, als er selbst sich bewegte.
Am Montag sprach er zum letzten Mal mit Pat unten im Mission Control Center. Am Dienstag hatte er einen Job zu erledigen, und er glaubte nicht, dass er das tun und mit Pat sprechen konnte. Das war ein harter Moment.
Dann verwandelte er sein Kommandomodul erneut in eine nächtliche Kapelle, schlief ein und wachte ein weiteres Mal auf, und es war Dienstag.
Icarus-Tag.