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Auf Io war der letzte Evakuierungstermin gekommen und vergangen.
Durch die Fenster einer Beobachtungsgalerie im medizinischen Komplex sah Surgeon-Commander Lorna Tem zu, wie die Shuttles von ihren Startplätzen abhoben. Jedes war ein emporsteigender Funke, der auf dem sauberen Flammenstrich eines asymptotischen Antriebs balancierte und erst langsam, dann jedoch immer schneller zu dem Abwehrschirm emporkletterte, der Io umhüllte. Auch dieser Schirm selbst wurde nun entfernt. Er stellte ein Hindernis für die Evakuierung dar – und außerdem war es inzwischen egal, was aus der Oberfläche von Io wurde. Die Maschinen konnten die Kruste so lange bombardieren, bis sie sich in ein Lavameer verwandelte, aber die Maschine im Innern des Mondes würde weiterarbeiten.
Tem war ein Platz in einem dieser abreisenden Schiffe zugesichert worden, aber selbst wenn ihr diese Möglichkeit noch offenstand – nicht alle Shuttles waren bereits gestartet –, hatte sie ihre Entscheidung getroffen und sich in ihr Schicksal ergeben. Ihre verbliebenen Mitarbeiter, die sich allesamt freiwillig bereit erklärt hatten zu bleiben, waren jetzt bei den Patienten und gaben sich alle Mühe, sie zu trösten. Keiner von ihnen war gesund genug, um die Belastungen beim Notstart eines Shuttles auszuhalten, selbst wenn es genug Platz für sie alle gegeben hätte. Das medizinische Personal hatte entschieden, keine Euthanasie durchzuführen und keine Lebenserhaltungssysteme abzuschalten, sofern die Patienten es nicht selbst verlangten – zumindest so lange nicht, bis Io zu seinem Todessturz in die Jupiterwolken ansetzte und sie schon die Höllenfeuer spürten.
Und wenn dieser Moment kam, dann, so hatte Tem beschlossen, würde sie sich bereitwillig demselben Schicksal unterwerfen, zusammen mit ihren Mitarbeitern, die ebenfalls diesen Weg wählten.
Jetzt – und nicht zum ersten Mal in den letzten paar Stunden – lief ein tiefes, seismisches Dröhnen durch die Struktur des Komplexes, durch den Fußboden und in ihre Knochen. Tem, die an ihrem Fenster stand, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren – es fühlte sich an, als würde der Boden kippen. Das war dieses Ding im Innern von Io; es erwachte zum Leben. Sie schalteten es für immer längere Zeiträume ein, und seine Wirkung verstärkte sich. Dann erstarb das Dröhnen. Sie zweifelte nicht daran, dass es wiederkehren würde, jedes Mal länger und stärker – und Ios Umlaufbahn wurde schon jetzt verändert.
Es war eine außergewöhnliche Situation, dachte sie. Als sie damals von ihrem Zuhause auf der Laputa im Innern des Saturns zum Biowissenschaftlichen Institut auf Mimas und damit zu jener Reise aufgebrochen war, die sie bis in die höchsten Ränge der interplanetarischen medizinischen Gemeinschaft geführt hatte, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, dass sie zum Abschluss ihrer Karriere auf einem Mond in den Tod fliegen würde …
Sie dachte an Falcon. Ob er noch lebte?
Er hatte sich nicht mehr gemeldet, seit er unter die Radiostreuschicht der Maschinen abgetaucht war. Sie hatte ihr Bestes für ihn getan, gar keine Frage. Sie hatte ihn auf die Strapazen der Expedition vorbereitet – und dann versucht, ihm einen Hinweis zu geben, was die Springer-Soames mit ihm im Schilde führten.
Sie empfand keine großen Sympathien für die Maschinen, war ihnen gegenüber aber auch nicht besonders feindselig eingestellt. Was sie verabscheute, war Krieg, egal, womit er gerechtfertigt wurde. Und waren die Maschinen wirklich so fremdartig? Als Kind hatte sie auf der Hindenburg das Menschliche in Howard Falcon gesehen, bei einem Blick in seine mechanischen Augen – ein flüchtiger Kontakt, der ihr Leben veränderte. Wenn die Leute sich irrten, was Falcon betraf, irrten sie sich dann auch in Bezug auf die Maschinen? Immerhin waren sie von den Menschen erschaffen worden.
Nun, das war jetzt eine rein akademische Frage. Falcons Expedition hatte nichts erbracht – weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, nur Stille. Und dieser Krieg würde vielleicht trotzdem bis zum schrecklichen Ende ausgefochten werden. Zumindest würden die Maschinen zurückschlagen können, wenn sie nicht bereits ausgeschaltet worden waren, aber der Mond selbst schien so oder so zum Untergang verurteilt zu sein. Adieu, kleine Io, dachte Tem. Als Galileo dich entdeckte, hast du unsere Fantasie angeregt – und deine Bodenschätze haben uns jahrhundertelang gute Dienste geleistet. Aber wenn Krieg herrscht, bist du letzten Endes auch nur, was wir füreinander sind.
Entbehrlich …
In diesem Moment ertönte ein Glockensignal aus einem Wandlautsprecher.
»Surgeon-Commander Tem in ihr Dienstzimmer. Anfrage zu einer Fallaufzeichnung eingegangen. Bitte beachten.«
Tem runzelte die Stirn. Eine Fallaufzeichnung – jetzt? Ernsthaft? Einer dem Tode geweihten Ärztin auf einem Mond geschickt, der binnen Kurzem zerstört werden würde? Aber die Prioritäten einer interplanetarischen Gesundheitsbürokratie machten eben nicht einmal vor dem Krieg zwischen Menschen und Maschinen halt.
Wieder die gebieterische Aufforderung. »Surgeon-Commander Tem in ihr Dienstzimmer. Anfrage zu einer Fallaufzeichnung von Surgeon-Adjutant Purvis auf Ganymed. Bitte beachten …«
Purvis. Dieser Name änderte alles. Natürlich, Purvis. Er hätte kaum einen schlechteren Zeitpunkt wählen können … Oder, je nach Standpunkt, einen besseren.
Grinsend machte sie sich auf den Weg vom Beobachtungsdeck zu ihrem Zimmer.