59

Es brauchte den albtraumhaften Druck von abertausend Kilometern der oberen Atmosphäre, um Wasserstoff in diesem extremen flüssig-metallischen Zustand zu erhalten – aber vom Volumen her war der größte Teil des Jupiterinnern so. Die den Menschen, Maschinen und Medusen bekannten seichten Regionen der Atmosphäre waren eine Außenhaut, die den wahren Jupiter umhüllte; selbst der gewaltige Ozean aus molekularem Wasserstoff war lediglich eine Hülle. Jetzt erst konnte Falcon mit einigem Recht behaupten, diese Welt zu kennen, in die er sich vor so langer Zeit zum ersten Mal hineingewagt hatte. Die seichten Regionen hatte er weit hinter sich gelassen, und er akzeptierte den Preis für dieses Wagnis gern. Und statt gegen den wachsenden Druck anzukämpfen, empfing er ihn mit offenen Armen, wie einen alten Freund.

Das Metallmeer war teerschwarz – und doch erlebte Falcon die verschiedensten Wetterphänomene. Adam übersetzte elektromagnetische, chemische und thermische Daten sowie Strahlungs- und Druckwerte in ein Feuerwerk visueller und taktiler Impressionen. Falcon spürte die Tropfen des Helium-Neon-Regens, so angenehm auf seiner imaginären Haut wie ein sommerlicher Schauer nach einem heißen Tag, und Sonnenuntergangsfarben fluteten über ihn hinweg – schimmerndes Gold, zartes Bernsteingelb, wildes, kupfernes Orange und tieferes Rostrot, alles in verschiedenen Abstufungen. Er fror nie, und ihm war auch nicht unangenehm warm.

Diese synthetischen Erinnerungen an Wetter und Jahreszeiten riefen in ihm dennoch eine unbeschreibliche Sehnsucht wach, denn er wusste mit absoluter Sicherheit, dass er so etwas in der Realität nie wieder erleben würde. Dennoch, am Leben zu sein – und sei es auch nur in diesem allerengsten Sinn – war immer noch mehr, als er sich hätte erhoffen können. Am Leben zu sein und das hier zu sehen.

Es gab so viel Platz im Jupiter! Ein Universum an Raum, eingeschlossen in einer einzigen dicken Welt. Falcon hatte das immer gewusst, aber erst jetzt fühlte er es und schwelgte darin und erkannte die grenzenlosen Möglichkeiten. Wozu sich streiten, wenn es doch dieses ganze Potenzial gab? Hier unten konnten Menschen und Maschinen beide ihren Träumen bis zum deliriösen Rand der Vernunft nachjagen, und es gäbe immer noch genug Platz …

Aber Falcon spürte zunehmend, dass Adam und er in diesem gewaltigen Panorama nicht allein waren.

In diesen leitfähigen Schichten hatte die gewaltige Magnetosphäre des Jupiters ihren Anker und ihren Motor, hier bezog sie ihre Kraft aus den Gezeiten und Strömungen, die vom heißen Herzen dieser Welt erzeugt wurden. Und hier war Orpheus auf etwas gestoßen, was er mühevoll zu beschreiben versucht hatte. Details. Schönheit. Eine verschachtelte Kaskade elektromagnetischer Strukturen durch alle Ebenen hindurch, von der atomaren bis zur planetarischen.

Jetzt bekam es auch Falcon zu sehen.

Da waren Knoten und Ränder, wo Feldlinien sich schnitten und ineinander verschlangen. Stellares Geglitzer und Protuberanzen, dunkle Falten und Spalten, Kräuselungen und Strudel, die sich bewegten, sich neu kombinierten und in divergierende Strukturen auftrennten. Falcon musste an geomagnetische Stürme denken, an Ionenvorhänge, gefangen auf magnetischen Feldlinien. Vielleicht neigten die Menschen dazu, Sinn und Bedeutung in Dinge hineinzuinterpretieren, die nichts dergleichen besaßen – aber man konnte sich einfach nicht des Gefühls erwehren, dass diesem Spiel von Kraft, Materie und Energie etwas Vorsätzliches innewohnte. Es schien sogar um Adam und ihn herum zu pulsieren, immer näher heranzukommen und an Schwung zu gewinnen.

»Orpheus hat hier Strukturen gesehen«, sagte Falcon. »Leben, gewoben aus den Interaktionen elektromagnetischer Felder. Aber nichts Bewusstes. Nichts mit Vernunft Begabtes.«

»Ja, so hat er es berichtet«, sagte Adam.

»Aber wenn etwas aus dem Jupiter gekommen ist, um euch herauszufordern …«

»Was auch immer Orpheus geweckt hat, es kann nicht richtig wach gewesen sein. Die Reaktionen waren unkoordiniert, und nichts deutete auf eine intelligente Vorgehensweise hin. Aber das ist lange her …«

Die Gebilde legten sich enger um den goldenen Brennpunkt, den Falcon und Adam darstellten, und der Tanz von Formen und Gradienten gewann neue Lebhaftigkeit. Erneut hatte Falcon den deutlichen Eindruck, beobachtet, prüfend und erstaunt gemustert zu werden, ungefähr so, wie ein sinkender Schatz nach einem Schiffbruch die verblüffte Aufmerksamkeit von Meeresgeschöpfen auf sich lenken würde. Da draußen gab es nichts Festes, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis – nur Knoten von elektromagnetischem Potenzial, lokale Konzentrationen von Energie und Impuls im Medium des Wasserstoffozeans. Es war, als hätte Meerwasser die Gestalt von Kobolden und Elfen angenommen.

Und es ging immer weiter abwärts. Eine in die Tiefe stürzende Strömung von metallischem Wasserstoff riss sie mit sich. Jetzt waren sie diesem Strom auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Selbst wenn sie hätten Widerstand leisten wollen, seine Macht war zu groß. Falcon fragte sich, wie viel tiefer sie noch hinuntergehen, wie viel länger sie noch am Leben bleiben konnten.

Nicht lange, wie sich herausstellte, bis Adam erneut Alarm schlug.

»Der Druck steigt schneller, als ich erwartet hatte. Bald wird er meine Stützstruktur aus Mikrotubuli zerquetschen. Das wird dein Ende als biologischer Organismus sein. Aber es muss nicht unser Ende sein.«

»Hast du noch einen weiteren Trick auf Lager? Eine weitere existenzielle Transformation …?«

»Ich habe deine neuronalen Impulse nachgebildet. Mittlerweile denke ich, dass ich deine mentalen Prozesse bestens verstehe. Trotz der Bürde des logischen Virus bin ich zuversichtlich, dass ich dich … emulieren kann.«

»Emulieren?«

»Ich meine damit, dass es im Bereich meiner Fähigkeiten liegt, deine Nervensignale durch kybernetische Transmissionen zu ersetzen. Dein Muster wird bleiben. Aber das Medium, das dieses Muster aufrechterhält, hat seine Nützlichkeit überlebt. Wenn ich deine verbliebene lebende Materie nicht abstoße, wenn ich keine höhere Kompaktifizierung meiner Mikrotubulus-Strukturen erreiche …«

»Du meinst … du spülst mich raus?«

»Es ist nicht leicht zu beschreiben. Wir müssen ein vollständig kybernetisches Wesen werden. Oder sterben.«

Falcon dachte darüber nach. Wie leicht ihm seine früheren Opfer nun im Rückblick erschienen. Teile seines Körpers aufzugeben – weshalb hatte er überhaupt gezögert? Aber diese letzte Konsolidierung, seine letzten lebendigen Überreste wegzuwerfen wie ein Abfallprodukt?

Doch er wollte trotzdem am Leben bleiben. Die Reise war noch nicht vorüber.

»Geht das schnell?«, fragte er.

Adams Ton war freundlich. »Wenn du es wünschst.«

»Nein, wünsche ich nicht. Ich möchte spüren, wie ich mich verändere, wenn es da eine Veränderung gibt.«

»Wir haben noch etwas Zeit. Noch sind wir nicht ganz an der nächsten Zerstörungsschwelle.«

»Dann mach es stufenweise. Stück für Stück. Und wenn es nicht klappt, erhalte dich, mit allen Mitteln. Lass mich zurück.«

Adam antwortete nicht.

So begann es. Die letzte Konsolidierung, die letzte Vermählung des Organischen mit dem Mechanischen stand ihnen beiden bevor. Stufe für Stufe ersetzte Adam die neuronale Verdrahtung von Falcons Geist durch eine rein kybernetische Emulation. Ein Gehirnschaltkreis nach dem anderen, ein Modul nach dem anderen, vom Hippocampus bis zum Neocortex. Im Verlauf jeder Transfiguration entwich ein gräulicher Ausfluss in die Matrix aus flüssigem metallischem Wasserstoff um sie herum: eine Prise seltener chemischer Verbindungen, dachte Falcon – eine neue Geschmacksnote, die sich sofort auflöste und zu nichts verdünnte. Ein menschlicher Fleck im Jupiter, der bald weggewaschen wurde.

Er sprach ein stummes Mantra vor sich hin. Ich bin immer noch Howard Falcon. Ich bin immer noch Howard Falcon … Wenn es ihm gelang, diesen Gedanken ohne jede Unterbrechung festzuhalten, dann konnte er sich vielleicht einreden, dass es eine Kontinuität gab, dass seine Seele, was auch immer das sein mochte, vom Organischen zur Maschine migriert war.

Und wenn sich herausstellte, dass er unrecht hatte, spielte das dann überhaupt noch eine Rolle? Jedenfalls nicht mehr lange. Ganz gleich, welche Veränderungen Adam an sich selbst vornahm, seiner Anpassungsfähigkeit würde eine Grenze gesetzt sein, eine Grenze, jenseits derer Adam selbst nicht überleben konnte, ob er Falcon nun beschützte oder nicht.

»Die Hälfte deiner neuronalen Verdrahtungen ist jetzt ausgetauscht worden«, sagte Adam schließlich. »Hast du dir ein Gefühl deiner Identität bewahrt?«

»Das ist eine verdammt blöde Frage.«

»Hmm. Dann bist du also immer noch der Alte.«

Er glaubte schon. Und obwohl ihm rein intellektuell durchaus klar war, dass ein Teil seiner Gedanken jetzt durch den goldenen Webstuhl von Adams Geist raste, statt durch klebrige Gewebebündel zu kriechen, kam es ihm so vor, als hätte sich fast nichts verändert.

Fast nichts.

»Ich fühle mich … klarer. Sauberer. Es gibt kein richtiges Wort dafür. Als wäre ich mit dem Gegenteil eines Katers aufgewacht. Ich glaube, das wird mir jetzt zum ersten Mal bewusst. Es ist, als hätte ich mein ganzes bisheriges Leben lang immer nur durch ein verschmutztes, ein wenig unscharfes Objektiv geblickt.«

»Ich kann ein paar stochastische Fehler in deine Signalverarbeitung einbauen, wenn du dich dann wohler fühlst.«

»Nein, danke«, sagte Falcon trocken. »Mach einfach weiter.«

Die Transfiguration nahm ihren Fortgang. Der graue Schmutz seines ehemaligen sterblichen Körpers verrauchte in den Jupiter, bis der Ausfluss endgültig versiegte.

So beendete Howard Falcon die lange Reise, die mit dem Absturz der Queen Elizabeth begonnen hatte. Lange genug hatte er zwischen zwei Welten gestanden, zwischen jener der Menschen und jener der Maschinen – nützlich für beide, ohne dass ihm auch nur eine vertraute.

Von beiden gleichermaßen gefürchtet.

Jetzt war er eins mit den Maschinen.

Und plötzlich waren Adam und er umzingelt.

Die Medusa-Chroniken
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