30

Mit flammendem Fusionstriebwerk hielt die Ra-Gondel auf Ceto zu.

Details der gewaltigen Flanke des Tieres glitten über Falcons Bildschirm. Dröhnende akustische Schreie und die grelle Radiosprenkelung ihrer Haut zeigten, dass Ceto sich verzweifelt bemühte, mit ihren Artgenossinnen in dieser grässlichen Schlachthausschlange zu sprechen, sie mit den Worten der düsteren Quasireligion der Medusen zu beruhigen.

Dann, nach dem Moment der größten Annäherung, ging Falcon mit der Ra in einen steilen vertikalen Steigflug – er hörte Trayne grunzen, aber der Marsianer beklagte sich nicht über diese neue Beschleunigungslast.

Falcon brachte die Gondel zu einem relativen Stillstand, sodass ihre Korrekturtriebwerke sie in einiger Entfernung von der Medusenschlange in Position hielten. Bald sah er die Fackelschiffe der »Walfänger« dieses grausigen neuen Nantucket, fliegende Funken, die im schwindenden Tageslicht um ihn herum Stellung bezogen. Aber es waren nicht genug, um ihn in diesem dreidimensionalen Himmel einzusperren, und diese Kurzstrecken-Atmosphärenfahrzeuge, die die zum Tode verurteilten Medusen aus geringer Distanz in den Käfig trieben, hatten sowieso keine Chance, sein orbitfähiges Schiff zu fangen. Er konnte jederzeit von hier verschwinden, wenn er wollte – und er war fest davon überzeugt, dass nicht einmal Maschinen so weit gehen würden, den Versuch zu unternehmen, ihn abzuschießen.

Aber selbst wenn sie es versuchten, er würde nirgendwohin gehen.

Trayne zeigte auf einen Bildschirm. »Wow. Schauen Sie sich die da an.«

Falcon drehte sich um. Er sah so etwas wie eine Flugzeugstaffel, pechschwarze Pfeilspitzen, die ein gutes Stück innerhalb des Kordons der menschlichen Schiffe nah an Cetos Flanke heranflogen. »Wie Spitfires, die einen Zeppelin attackieren.«

»Wie was?«

»Spielt keine Rolle. Ist Ihnen klar, was Sie da sehen?«

»Mantas. Vor der Flanke der Meduse sehen sie geradezu winzig aus. Dabei haben sie selbst schon einen Durchmesser von – wie viel, hundert Meter?«

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Im Jupiter hat eben alles gewaltige Dimensionen …« Der Anblick der elegant dahingleitenden Mantas versetzte Falcon unwiderstehlich zur Kon-Tiki zurück, als er die Tiere zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen bekommen hatte, und er erinnerte sich mit einiger Verlegenheit an seine übermäßig aufgeregte erste Reaktion: »Sagen Sie Dr. Brenner, dass es auf dem Jupiter Leben gibt. Und es ist ungemein groß.« Geoff Webster hatte ihm das später immer wieder aufs Brot geschmiert.

»Aber was tun die Mantas hier?«, fragte Trayne. »Auf diesem Schlachtfeld?«

Wegen der vielen Erinnerungen, die seinen nicht mehr ganz so jungen Geist vernebelten, war Falcon noch gar nicht auf die Idee gekommen, genau diese Frage zu stellen.

Trayne beobachtete alles genau. »Schauen Sie – die Mantas greifen weder Ceto noch eine der anderen Medusen an. Sie begleiten sie bloß. Aber wenn die Medusen aus der Reihe driften …«

Falcon brauchte ein paar Minuten, um zu sehen, worauf Trayne hinauswollte. »Sie haben recht. Diese Manta-Formationen jagen den Medusen bloß Angst ein – sie sorgen viel effektiver dafür, dass sie in der Schlange bleiben, als wenn die Fusionsschiffe das allein versuchen würden. Die Medusen haben sich schließlich dahin entwickelt, dass sie vor Mantas fliehen. Es muss leicht sein, sie zu erschrecken.«

»Die Betreiber dieses Schlachthauses benutzen die Mantas also, um die Medusen zu hüten«, sagte Trayne bedächtig. »So wie die Bauern im Agrarzeitalter der Erde ihre Schafe mit Hunden zusammengetrieben haben.«

Falcon drehte sich überrascht zu ihm um. »Woher wissen Sie das denn?«

»In der Schule beschäftigen wir uns mit der Geschichte des terrestrischen Lebens. Ackerbau und Viehzucht und so.«

»Warum? Nostalgische Sehnsucht nach der Mutterwelt?«

»Nein. Damit wir es eines Tages selber richtig hinkriegen.«

»Nun, vielleicht haben wir dadurch die Möglichkeit, eine Lösung herbeizuführen.«

Trayne runzelte die Stirn. »Wie denn? Auch wenn die Ra diesen Fackelschiffen mühelos davonfliegen kann, sind sie uns zahlenmäßig deutlich überlegen.«

»Immer mit der Ruhe. Mir geht es momentan nicht darum, diese Operation zu beenden. Das überlasse ich den Behörden. Heute möchte ich nur eine alte Freundin vor den Schlachtermessern retten.«

Trayne dachte darüber nach und grinste. »Ceto.«

Falcon begann, auf einer Tastatur herumzutippen. »Ich schicke Ceto jetzt eine Nachricht … Ich glaube, Sie haben recht, Trayne. Die setzen diese Mantas als Hütehunde ein. Aber wir haben Zehntausende von Jahren gebraucht, um den Wolf zu domestizieren und einen gehorsamen, intelligenten Collie aus ihm zu machen. Diese geheimniskrämerischen Metzger hatten nur ein paar Jahre Zeit, mit den Mantas zu arbeiten. Ich setze darauf, dass man ihren Gehorsam viel leichter brechen kann.«

»Und welche Botschaft schicken Sie ihr nun?«

»Ganz einfach. ›Tut mir leid, alte Freundin. Bleib einfach ruhig. Du wirst schon wissen, was zu tun ist.‹« Er packte die Steuerhebel der Gondel. »Und jetzt machen Sie sich auf etwas gefasst …«

Mit auflodernder Zündflamme aus ultrahocherhitztem Wasserstoff-Helium-Plasma schoss die Gondel durch den Manta-Schwarm – Falcon sah einen Moment lag, wie die riesigen schwarzen Wesen erschrocken oder erzürnt davonflatterten – und hielt im Sturzflug erneut auf die Meduse zu. Als er über Cetos breiten Rücken hinwegraste, sah Falcon eine von früheren Raubtierangriffen und Unfällen zernarbte, schartige Ebene, fast wie die Oberfläche eines von Kratern übersäten Mondes. Die Haut einer Meduse war ein Symbol für Mut, Durchhaltevermögen und Überlebensfähigkeit, dachte Falcon, ein Symbol des Alters.

Und jetzt würde er einen Graben hineinbrennen müssen. »Das wird nicht hübsch, Marsianer«, warnte er.

Er zerrte an seinen Hebeln, sodass die Ra die Nase nach oben stellte und die Fusionsfackel eine brutale Brandspur über die Meduse zog. Die Haut schlug Blasen, und als darunterliegende Schwebesäcke platzten, wurden riesige Hautfetzen, Fleischklumpen und Knorpelstränge in die Luft geschleudert. Ceto stieß einen weiteren schmerzerfüllten akustischen Schrei aus.

»Autsch«, sagte Trayne mitfühlend. »So groß sie auch ist, das ist eine hässliche Wunde.«

»Wenn sie überlebt, wird die Wunde heilen. Medusen sind resilient. Das müssen sie auch sein; sie werden ihr ganzes Leben lang von Räubern bedrängt. Die Frage ist, ob es funktioniert.«

Trayne warf einen Blick auf andere Monitore. »Wenn Sie meinen, ob die Mantas ausscheren – ja, das tun sie.«

Falcon schaute zurück und sah, dass die Mantas von allen Seiten herbeigeschwärmt kamen, unwiderstehlich angezogen von den Fleischfragmenten in der Luft und dem Geruch dessen, was bei einer Meduse dem Blut entsprach. Sie begannen, die offene Wunde zu attackieren, schnappten sich Hautfetzen und Fleisch aus der Luft, griffen sich in ihrer hilflosen Gier sogar gegenseitig an.

»Ha! Fleischfresser, wie sie im Buche stehen. So viel zu euren Hütehunden, Nantucket.«

»Die Verantwortlichen sind bestimmt schon alarmiert«, sagte Trayne. »Ceto ist ein gutes Stück von der Schlange weggedriftet, und die Medusen vor und hinter ihr zeigen ebenfalls Anzeichen von Unruhe. Es muss gewaltige Anstrengung kosten, die Tiere auf diese Weise zusammenzutreiben, eine Tausende von Kilometern umspannende Operation …«

»Und wenn sie einmal unterbrochen ist, wird es schwer sein, sie wieder auf die Beine zu stellen. Gut.«

Trayne warf Falcon einen Blick zu. »Ich verstehe immer noch nicht, was Sie vorhaben, Commander. Mag ja sein, dass Ceto der Flenskäfig erspart bleibt, aber Ihretwegen ist sie nun wehrlos gegenüber den Mantas.«

»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Keine Meduse ist wehrlos, wenn es drauf ankommt. Schauen Sie – es geht schon los. Braves Mädchen …«

Ceto, die immer weiter von der Schlange wegtrieb, geriet jetzt allmählich in Schräglage; der Wald von ihrer Unterseite herabbaumelnder Tentakel zuckte und wogte hin und her, das schwarz-weiße Patchwork an ihrer Seite, ihre Radiostimme, pulsierte. All dies geschah unter der Begleitung eines Chors niederfrequenter Klagelaute der anderen Medusen und mit chthonischer Langsamkeit, wie es Falcon vorkam – aber in der Jupiterluft fand alles in gemessenem Tempo statt; selbst ein Manta, der mit Höchstgeschwindigkeit flog, war kaum jemals schneller als fünfzig Stundenkilometer.

Die Mantas wimmelten noch immer um die offene Wunde auf Cetos Rücken herum. Doch nun wurde die Neigung der Meduse so steil, dass es den Mantas schwerfiel, ihre Position beizubehalten. Sie glitten von der Wunde ab, jeder offensichtlich aufgebracht darüber, den Schatz seinen Rivalen überlassen zu müssen, und schlugen im Versuch, ihre Position zurückzuerobern, wie wild mit ihren eleganten Flügeln. Währenddessen summten die Fackelschiffe hilflos umher; im rasch zunehmenden Halbdunkel des Jupiterabends warfen die Funken ihrer Zündflammen strahlend helle Lichtpfützen auf die Haut der Meduse.

Falcon wusste, was als Nächstes passieren würde; seit der Reise der Kon-Tiki hatte er es viele Male mit angesehen. Er begann, auf Schaltfeldern herumzutippen und Schalter umzulegen. »Machen Sie sich bereit. Ich lege so viele elektrische Systeme wie möglich still. Es ist kein Zufall, dass der Rumpf der Ra vollständig nichtleitend ist. Sie sollten auch die Systeme Ihres Exo-Anzugs isolieren. Wenn der Schock kommt …«

Seine Warnung kam beinahe schon zu spät.

Draußen vor den Fenstern der Gondel flammte Licht auf, und aus dem Kommunikationssystem brach ohrenbetäubendes atmosphärisches Rauschen hervor. Selbst Falcons stark aufgerüstete Augen waren geblendet.

Als er hinausschaute, sah er so etwas wie einen Blitz – oder vielleicht ein Elmsfeuer –, das von der Meduse ausging, durch die Schar der gierigen Mantas schoss und sogar ein paar von den Fackelschiffen erwischte. Die Mantas stoben auseinander. Einige von ihnen waren sichtlich verwundet, und als der elektrische Lichtschein verblasste, fielen zwei, drei, vier Mantas hinab in die Tiefe, wobei sie schwarzen Rauch hinter sich herzogen. Abgeschossene Kampfflugzeuge: Das war schon immer Falcons Analogie gewesen.

Er sah jedoch, dass auch einige der Fackelschiffe von den elektrischen Abwehrvorrichtungen der Meduse ausgeschaltet worden waren. Die meisten hielten Abstand, aber eine Handvoll stürzte mit brennender Zündflamme ab, offenkundig außer Kontrolle geraten – sie folgten den zum Tode verurteilten Mantas hinab zu den tieferen Wolkenschichten und den Geheimnissen, die sich darunter verbargen.

»Das kommt davon, wenn man sich mit einem Verteidigungssystem von einer Million Volt anlegt«, murmelte Falcon. »Viel Spaß bei eurem Besuch in der Thermalisierungsschicht, Jungs. Wahrscheinlich werden sie’s schaffen, mit dem Fallschirm abzuspringen. Ich bin kein Killer, Trayne. Aber wenn Sie mich fragen, haben es die Piloten dieser Schiffe nicht anders verdient, ob sie nun Marsianer oder Maschinen sind.«

»Commander«, sagte Trayne trocken, »ich freue mich schon darauf, Sie vor dem Untersuchungsgericht zu unterstützen. Aber zunächst mal hat es funktioniert.« Er zeigte hin.

Ceto war jetzt weit von der Schlange entfernt, sah Falcon. Die Fackelschiffe der Schlächter waren eifrig damit beschäftigt, im Rest der zusammengetriebenen Medusen-Herde wieder für Ordnung zu sorgen. Die großen Tiere zeigten Anzeichen extremer Erregung, was ihn nicht überraschte; ihre Lieder kündeten von Verwirrung und Not – aber jetzt, dachte Falcon, vermittelten sie auch ein wenig Hoffnung. »Tut mir leid, dass ich euch nicht alle retten kann«, sagte er leise. »Diesmal nicht. Aber zumindest Ceto hat es geschafft.«

»Wir müssen an unsere eigene Sicherheit denken, Sir«, mahnte Trayne, der einen Monitor im Auge behielt.

»Wieso?«

»Die Berichte, die wir zum Ganymed geschickt haben, haben Wirkung gezeigt. Die Konsulin der Weltregierung in Anubis sagt, sie habe schon die Genehmigung von den Bermudas bekommen.«

Die Erde war gegenwärtig vierzig Lichtminuten vom Jupiter entfernt. »Das ging ja ausnahmeweise mal sehr schnell«, sagte Falcon. »Aber die Genehmigung wofür?«

Trayne las rasch von einem Bildschirm ab. »Sie sagen, diese ›Walfang‹-Operation sei illegal nach den Gesetzen, die die Jupiterökologie und insbesondere die Rechte der Medusen schützen, wie sie in ihrem provisorischen Status als Rechtspersonen (nichtmenschlicher Art) gemäß internationalem Recht juristisch verankert sind …«

»Ha! Ich wusste es.«

»Und die Lieferungen des Medusentrans zum Mars stellten einen Verstoß gegen die Embargos der Weltregierung dar. Im Lichte dessen, im Vorgriff auf weitere Beratungen und Nachforschungen, und blablabla …« Trayne blickte auf. »Hellas! Das ist keine politische Bekanntmachung, Commander. Es ist eine Warnung. Anubis wird die Walfang-Anlage vernichten. Sie haben die Raketen schon abgeschossen!« Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass es auf Ganymed überhaupt Raketen gibt.«

Falcon erinnerte sich jedoch daran, wie er in der Galileo Lounge zusammen mit Hope Dhoni einen kurzen Blick auf geheime militärische Operationen erhascht hatte. »Jetzt gibt es sie. Aber diese Warnung gilt auch uns. Und den Medusen – wir müssen auch sie warnen, damit sie so schnell wie möglich von hier verschwinden, Mantas hin oder her. Trauen Sie es sich zu, diesen Kahn zu steuern, trotz hoher Beschleunigung und so weiter?«

Trayne grinste. »Ich dachte schon, Sie würden mich nie fragen.«

Sie tauschten die Positionen. Trayne übernahm die Steuerung der Gondel, und Falcon trat an die Kommunikationskonsole. Während er seine Funkbotschaft an die Medusen vorbereitete, blickte er nervös zum Himmel hinauf und hielt Ausschau nach den Kondensstreifen der Raketen vom Ganymed.

Die Medusa-Chroniken
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