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Während des Dinners ging die USS Sam Shore unauffällig auf Tauchfahrt.

Luken und Wartungsschächte wurden lautlos geschlossen und abgedichtet. Ballasttanks wurden geöffnet, die Geräusche des einströmenden Wassers jedoch höflicherweise gedämpft, um die Passagiere nicht zu beunruhigen. Der Tauchwinkel betrug ein Grad, was selbst für jene Gäste, die genau auf den Flüssigkeitsspiegel der Getränke in ihren Gläsern achteten, kaum wahrzunehmen war.

Falcon bemerkte es natürlich. Er spürte den Neigungswinkel des Decks, die Schräglage von einem Ende eines Korridors zum anderen. Durch die Sensoren in seinem Untergestell registrierte er die Veränderung in der Infraschallfrequenz der Maschine, Zeichen für eine Leistungsminderung, die jetzt, da sich das Schiff in seiner optimalen Umgebung unter Wasser bewegte, möglich war.

Falcon entging nur sehr wenig.

Nach dem Essen und vor Springers Vortrag machte er mit Webster einen Spaziergang.

Das sogenannte Servicedeck der Shore, unter dem riesigen Hangardeck, war eine Höhle voller Träger, Nieten, Schienen, Kräne und Drehbühnen, in der früher Kampfflugzeuge und Raketen mit Atomsprengköpfen betankt, gewartet und überholt worden waren. Jetzt hatte sich dieser hell erleuchtete Raum in eine Kombination aus Einkaufszentrum und Luxushotel verwandelt – mit erstaunlichen Ausmaßen, ganze anderthalb Kilometer lang.

»Sie sollten sich hier eigentlich wie zu Hause fühlen, Howard«, sagte Webster gerade. »Wäre die Queen Elizabeth nicht abgestürzt, wären Sie schließlich auch Kapitän eines Kreuzliners geworden, nicht wahr? Auf eine passende Galauniform müssten Sie heutzutage natürlich verzichten …«

Falcon ignorierte ihn und inspizierte die Einbauten. Auf dieser prestigeträchtigen Kreuzfahrt präsentierten die Schiffseigner zusammen mit der Meeresabteilung des Welternährungssekretariats hier unten eine Ausstellung über den Ozean der heutigen Zeit und dessen Nutzungsmöglichkeiten, vermutlich, um unter den betuchten Passagieren Investoren zu akquirieren. Falcon und Webster ließen den Blick über Ausstellungsobjekte, Modelle sowie holografische und animierte Bilder diverser Natur- und anderer Wunder schweifen – obwohl Falcon bezweifelte, dass man irgendetwas an den Ozeanen der Erde noch als natürlich bezeichnen konnte. Am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestand die Nahrung großer Teile der Menschheit aus den Produkten gewaltiger Plankton-Farmen, die durch den erzwungenen Aufstieg nährstoffreicher Substanzen vom Meeresboden unterhalten wurden. Da die Mineralienvorkommen an Land erschöpft waren, hatte man auch am Meeresboden umfassenden Abbau betrieben. Natürlich war sich die Menschheit in diesem Jahr 2099 der Bedürfnisse jener Geschöpfe mehr als bewusst, mit denen sie sich die Welt – und im Fall der aufgewerteten Schimps sogar die politische Macht – teilte. Aber die gesamte Erde wurde allmählich zu einer Kulturlandschaft, dachte Falcon, wie eine riesige Plantage – einer der Gründe, weshalb Leute wie er es kaum erwarten konnten, sie zu verlassen.

Sie fanden eine Tafel zum Thema berufliche Perspektiven, und Webster bückte sich neugierig. »Schauen Sie sich das an, Howard. Die Fachgebiete, in denen man sich qualifizieren kann: Seemannskunst, Ozeanografie, Navigation, Unterwasserkommunikation, Meeresbiologie …« Er richtete sich steif auf. »Wissen Sie, das Amt für Weltraum-Ressourcen nutzt einige Standorte am Meeresboden für Simulationen. Man kann dort zum Beispiel Anzüge testen, die entwickelt wurden, um dem starken Druck standzuhalten, mit dem wir es auf der Venus zu tun bekommen werden. Schade, dass wir uns die während dieser Spritztour nicht anschauen können.«

»Nein«, sagte Falcon, »dieser Pott ist nur für geringe Tiefen geeignet. Es reicht gerade, um sich vor feindlichen Flugzeugen zu verstecken …«

»Verzeihung.«

Die Frau stand allein im Halbdunkel der Galerie: schlicht gekleidet, dunkler Typ, Mitte dreißig, wie es schien. Mit seinen zwei Meter zehn überragte Falcon sie fast um einen halben Meter. Sie wirkte nervös, was vielleicht nicht weiter verwunderlich war.

Webster schnippte mit den Fingern. »Ich erinnere mich an Sie. Schwester Dhoni, stimmt’s? Sie waren im Militärhospital auf der Luke Air Force Base in Arizona, als wir …«

»Als Commander Falcon von der Queen Elizabeth eingeliefert wurde, ja.«

Jene Tage – jene Jahre – der Genesung waren in Falcons Albträumen noch immer sehr lebendig. Er gab sich alle Mühe, nicht zurückzuweichen. »Ich erinnere mich nicht an Sie, Schwester, tut mir leid.«

»Inzwischen bin ich Doktor. Ich habe ein fachübergreifendes Studium absolviert und mich auf Neurochirurgie spezialisiert …«

»Warum sind Sie hier?«, fragte Falcon barsch.

Sie wirkte betroffen, und Webster funkelte ihn an.

»Nun ja, Ihretwegen, Commander«, sagte Dhoni. »Nachdem der Stab der Präsidentin Sie eingeladen hatte, hielt man Ausschau nach Freunden, Angehörigen und so weiter, in deren Gesellschaft Sie sich wohlfühlen würden. Und ich bin die Einzige von Ihrem damaligen medizinischen Team, die noch in diesem Beruf tätig ist. Die anderen sind in Pension gegangen oder haben umgesattelt, und einer ist gestorben – Doktor Bignall, falls Sie sich noch an ihn erinnern.«

»Sie hätten nicht kommen müssen.«

»Herrgott noch mal, Howard«, knurrte Webster.

»Nein, Administrator Webster, ist schon okay.« Es klang, als wäre es alles andere als okay, aber sie behielt die Nerven. »Ich musste Sie sehen, Commander. Nachdem Ihre Heldentaten auf dem Jupiter Schlagzeilen gemacht hatten, habe ich einige Nachforschungen angestellt. Ihr letzter ordentlicher Check-up liegt schon schrecklich lange zurück, von einer Überholung ganz zu schweigen.«

Plötzlich war Falcon misstrauisch. Er funkelte Webster an. »Haben Sie das eingefädelt, Sie alter Esel?«

Webster sah aus, als wollte er sich herausreden, aber dann gab er bereitwillig nach. »Na ja, Howard, ich wusste ja, dass Sie nicht auf mich hören würden.« Mit den Knöcheln klopfte er auf die Schale aus gestärktem Leichtmetall, wo Falcons Brust hätte sein sollen. »Das Äußere ist in Ordnung. Einzelne Komponenten können wir problemlos austauschen. Aber das Innere war anfangs ganz schön ramponiert, und es wird nicht jünger. Wie alt sind Sie jetzt, fünfundfünfzig, sechsundfünfzig …?«

Dhoni streckte unsicher die Hand nach Falcon aus und ließ sie dann sinken. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie schlafen Sie?«

Falcon schob den Unterkiefer vor. »So wenig wie möglich.«

»Es gibt jetzt neue Behandlungsmethoden. Wir können Ihnen einiges anbieten …«

»Sind Sie deshalb hier? Um mich wieder als Laborratte zu benutzen?«

Damit durchbrach er ihre letzten Schutzmechanismen. Ihr Mund arbeitete, und sie schluckte. »Nein. Ich bin hier, weil mir etwas an Ihnen liegt. Genauso wie damals.« Sie drehte sich um und ging steifbeinig davon.

Falcon schaute ihr nach. »Sie wäre ja fast in Tränen ausgebrochen.«

»Nein, wäre sie nicht, Sie Dummkopf. Sie wäre fast handgreiflich geworden, und das wäre Ihnen recht geschehen. Ich habe Sie damals gesehen, Howard. Ich weiß, es war ein Albtraum. Aber sie war die ganze Zeit dabei, Hope Dhoni. Noch ein halbes Kind. Die ganze Zeit.« Er schien nach Worten zu ringen. »Sie hat Ihnen die Stirn abgewischt. Ach, zum Teufel mit Ihnen. Ich brauche was zu trinken.« Er ging davon und rief zurück: »Viel Spaß bei Springers Egotrip. Momentan habe ich die Nase voll von Helden. Aber wenn Sie diese Frau wiederfinden, dann entschuldigen Sie sich bei ihr, hören Sie?«

Die Medusa-Chroniken
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