8

Es gab ein Spiel, mit dem er sich immer dann gern die Zeit vertrieb, wenn die Ärzte ihn wieder aus der Bewusstlosigkeit weckten. Würde es ihm gelingen, allein anhand der sein Gehirn erreichenden Nervensignale zu erkennen, wo er sich befand?

Die Erde war leicht. Wenn er aufwachte und eine Schwereanziehung von einem g spürte, konnte es nur ein einziger Ort im Sonnensystem sein. Andere Orte besaßen zwar eine ganz ähnliche Schwereanziehung – die Oberfläche der Venus, die äußeren Atmosphärenschichten des Saturns –, aber dort gab es gewiss keine kybernetischen chirurgischen Kliniken. Allerdings war er seit jenem Jahrzehnte zurückliegenden Drama auf der Sam Shore nur selten wieder auf der Erde gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert; die allgemeine Stimmung tendierte jetzt dazu, ihn als ein beunruhigendes Relikt aus der Vergangenheit zu betrachten, und wenn er in der Nähe seiner Heimatwelt war, blieb er lieber in der bejahrten Eleganz von Port Van Allen, tausend Kilometer weit draußen im All; dort fühlte er sich erheblich wohler. Und mit der Zeit hatte auch Hope Dhoni die zunehmenden Vorurteile registriert und die Aufsicht über Falcons Behandlung und Genesung einer medizinischen Einrichtung in der Aristarchus-Basis auf der Oberfläche des Mondes übertragen. Doch auch das war nur von kurzer Dauer gewesen, dann hatte Hope sich verpflichtet gefühlt, ihre gesamte Klinik und das Team noch weiter hinaus zu verlegen, zu der im Entstehen begriffenen menschlichen Siedlung auf Ceres.

Also, befand er sich nun auf dem Asteroiden? Die Schwereanziehung war auf jeden Fall zu gering für die Erde oder den Mond, aber nicht schwach genug für Ceres. Titan vielleicht? Es gab natürlich Siedlungen auf dem Saturnmond, aber dieser eisige Satellit wäre ein unnötig beschwerlicher Ort für eine Klinik gewesen. Oder der Jupitermond Kallisto? Ein Mond mit einer signifikanten und permanenten menschlichen Präsenz – der größten im Jupiterraum, abgesehen von Ganymed – und weit außerhalb der Strahlungsgürtel des riesigen Planeten gelegen. Dort gab es eine wissenschaftliche Einrichtung in der Tomarsuk-Station; Hope hatte sie erwähnt, denn ihre Tochter erforschte dort die Biochemie des unterirdischen Ozeans. Aber nein, diese Schwereanziehung fühlte sich sogar noch schwächer an als auf Kallisto. Schon wieder woanders – noch weiter draußen …?

»Howard? Hören Sie mich? Ich bin’s, Hope. Ich habe Ihre auditiven und vokalen Schaltkreise wieder angeschlossen. Probieren Sie mal, ob Sie reagieren können.«

»Ich höre Sie laut und deutlich.«

»Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin verwirrt. Desorientiert. Mit anderen Worten, so wie immer.«

»Das hilft mir. Haben Sie geträumt?«

Das hatte er, wie er feststellte. »Ich habe mich bloß an einen Tag erinnert, an dem ich einen Schneemann gebaut habe. Oder versucht habe, einen zu bauen.«

Falcon hörte das Klappern einer Tastatur, das Piepsen eines Bedienstifts. »Gleich schalte ich Ihr Sehvermögen ein. Nehmen Sie mein Gesicht ins Visier, wenn Sie können.«

»Das klingt, als wäre ich ein Waffensystem.«

Ein Einbruch von Helligkeit, gestaltlos und weiß. Bald gerannen Formen und Farben, und Falcon hörte das Surren fokussierender Elemente und das Klicken von Filtern, als sich sein Sehvermögen optimal auf die Umgebung einstellte.

Um ihn herum nahm ein Raum Gestalt an: klare geometrische Linien und Flächen, Wände und Decke ein Gitter aus weißen Fliesen. Auf einer Seite, ein kleines Stück entfernt, war ein Fenster, nicht mehr als ein dunkles Rechteck. Ihn selbst umgaben diverse chirurgische Gerätschaften, nigelnagelneu aussehende Roboter in sterilen, transparenten Hüllen. Doktor Hope Dhoni stand ein wenig näher als die Maschinen. Sie trug einen grünen Chirurgenkittel und eine sterile Haube, der Mundschutz hing an seinen Riemen schlaff um ihren Hals, und sie hatte die behandschuhten Hände vor dem Bauch verschränkt. Sie »stand«, aber er war jetzt sicher, dass die Umgebungsschwerkraft deutlich geringer als ein Zehntel g war. Die junge Schwester, die sich auf der Luke Air Force Base um ihn gekümmert hatte, war mittlerweile in den Sechzigern, und falls sie sich kosmetischen Eingriffen unterzogen hatte, so waren sie dezent gewesen; ihre Miene wirkte so sanft wie eh und je.

»Ich sehe Sie, Hope. Sie sehen gut aus. Keinen Tag älter.«

»Wenn das keine Schmeichelei ist, muss Ihr bildgebendes System justiert werden.«

»Wie lange haben Sie mich diesmal unter Narkose gehalten?«

In den letzten Jahren hatte er nicht allzu viel menschliche Gesellschaft gehabt, aber er war trotzdem imstande, Hopes Lächeln zu erkennen. »Was meinen Sie wohl?«

Er hatte noch immer keine klare Vorstellung, wo er sich befand, und wusste auch nichts mehr von den unmittelbaren Umständen, die zu der Operation geführt hatten. »Kommt mir länger vor als letztes Mal. Monate statt Tage oder Wochen.«

»Machen Sie ein paar Jahre draus.«

»Jahre!«

»Es klingt schlimmer, als es war. Wir hatten mit ein paar Komplikationen zu kämpfen, das stimmt. Im Zweifelsfall ziehen wir uns lieber zurück und loten unsere Möglichkeiten aus. Sie sind zu wertvoll, als dass wir es riskieren könnten, einen Fehler zu machen.«

»Also liege ich einfach auf dem OP-Tisch, während Sie eine akademische Konferenz einberufen, um zu entscheiden, wo Sie den nächsten Schnitt machen sollen?«

»Würde es Ihnen sehr an die Nieren gehen, wenn ich Ihnen sage, dass Sie damit der Wahrheit erschreckend nahe kommen? Es gab tatsächlich ein paar brauchbare Abhandlungen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Howard – das ist immer das Motto. Außerdem hat es ein paar politische Probleme gegeben. Das Risiko war gering. Wir haben Sie kühl gehalten und Ihren Zellstoffwechsel so weit wie möglich heruntergefahren.«

Vorsichtig veränderte er den Blickwinkel, um so viel von sich sehen zu können, wie seine Position es zuließ. Er stellte fest, dass er aus einer Schrägstellung heraus mit ihr sprach, wie ein Patient, der halb aufgerichtet im Bett saß. Aber es gab kein Bett. Er war in einem stabilen Hängegerüst, das seine mechanische Anatomie trug, wieder zu sich gekommen – wieder eingeschaltet worden, um genau zu sein. In einem Gerüst, mit dem man vielleicht Raumschiffteile in einem Reinraum hin und her transportiert hatte. Er schaute nach unten und betrachtete den gepanzerten Zylinder, der jetzt für sein Lebenserhaltungssystem ausreichte: ein bronzener Zylinder, der die alte Goldene-Statuetten-Version ersetzte, von geringerer Tiefe und irgendwie schnittiger im Design, mit einer merklichen Verjüngung von oben nach unten.

Schließlich kam einiges wieder zurück. Erinnerungen an präoperative Besprechungen, lange Diskussionen mit Hope und ihrem Team. Falcon hatte sie stundenlang über sich ergehen lassen, hatte zugesehen, wie die Ärzte über Bilder und schematische Diagramme seiner Innereien diskutierten. Falcon war kein Arzt, er tat nicht so, als würde er die geplanten medizinischen Maßnahmen verstehen; die Maschinerie war eher sein Gebiet. Seine Unterstützungssysteme waren komplett neu gestaltet worden, um nicht nur ihre Zuverlässigkeit zu verbessern, sondern auch die Bandbreite der Anwendungen zu erweitern, die Falcon ohne Probleme ertragen konnte. Mit dem neuen, kompakteren Zylinder konnte sich Falcon in die kleineren, flinkeren Raumschiffe des mittleren zweiundzwanzigsten Jahrhunderts zwängen. Sein interner Fusor war das neueste Modell und würde erst in vielen Jahrzehnten ausgewechselt werden müssen. Und so weiter. Im Zuge dieser Überholung waren auch einige der lebendigen Teile, die er noch mit sich herumtrug, eliminiert und in ihren Funktionen durch kleinere, robustere und effizientere Maschinen ersetzt worden.

Sein mit Rädern versehenes Untergestell musste noch an der Basis des Zylinders befestigt werden, und er wusste, dass auch eine Reihe neuer Gehsysteme entwickelt worden waren, die er nach Wunsch einwechseln konnte. Seine neuen Arme waren jedoch bereits an Ort und Stelle, wie er sah – stärker und geschickter als ihre Vorläufer.

»Darf ich?«, fragte er, während er eine Hand versuchsweise öffnete und schloss.

»Nur zu.«

Er hob die Hand vor sein Gesicht und staunte über die Komplexität und Präzision von Gelenken und Aktuatoren. »Früher habe ich Geoff Webster mit Kartentricks beeindruckt. Ich wünschte fast, hier drin wäre eine Fliege. Dann könnte ich Sie beeindrucken, indem ich sie aus der Luft fange.«

»Keine Fliegen auf Makemake, Howard.«

Er sah sie einen Moment lang an und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Makemake!« Ein Zwergplanet: eine Eiskugel im Kuipergürtel, weit von der Sonne entfernt. »Das erklärt die Schwerkraft. Lassen Sie mich raten: ungefähr ein Dreißigstel der normalen Erdschwerkraft?«

»Ein Achtundzwanzigstel, soweit ich weiß, nicht dass ich den Unterschied jemals erkennen würde. Diese Ihre Fähigkeit beunruhigt mich allmählich – niemand sollte eine so gute Propriozeption haben.«

»Ich weiß nicht mehr, wie ich hierhergekommen bin.«

»Sie waren schon in Narkose. Es hatte keinen Sinn, Sie aufzuwecken. Aber wir wollten eigentlich gar nicht auf Makemake operieren. Der ursprüngliche Vorschlag war Ceres, wissen Sie noch?«

Seine Erinnerungen wurden mit jeder Sekunde klarer. »Ich erinnere mich sogar noch an den Anflug und die Landung. Also, was ist passiert?«

»Seit wir Sie in Narkose versetzt haben, sind weitere politische Veränderungen eingetreten. Zuerst nur auf der Erde, dann jedoch auch im gesamten Sonnensystem. Es gibt einen neuen …« – sie suchte nach den richtigen Worten – »sozialen Konservatismus. Eine immer stärker werdende Gegenbewegung gegen bestimmte Trends in der modernen Kybernetik.«

»Womit Sie mich meinen. Aber man betrachtet mich ja schon seit Jahrzehnten mit Argwohn.«

»Es ist weitaus extremer als zuvor. Wie Sie wissen, mussten wir schon nach Ceres umziehen, um Sie zu betreuen. Es hat Bestrebungen gegeben, weitere Operationen an Ihnen gänzlich zu untersagen: Petitionen an die Weltregierung, Vetos im Sicherheitsrat. Nicht lange nachdem wir Sie in Narkose versetzt hatten, geriet Ceres unter Druck, unsere chirurgische Stiftung aufzulösen. Dort treibt man Handel mit dem Mars, und der Mars ist eine der größten Hochburgen des neuen Konservatismus, abgesehen von der Erde selbst. Psychologisch ist das alles sehr interessant und komplex.«

»Wie schön.«

»Ich denke, die Menschen auf der Erde klammern sich an eine autochthone Natur, die sie nahezu verloren haben, während die Marsianer in einer völlig unmenschlichen Umgebung an ihrer Menschlichkeit festhalten … Zu unserem Glück hat sich Makemake eingeschaltet. Sie waren bereit, uns eine alternative Einrichtung hier auf der Trujillo-Basis zur Verfügung zu stellen.«

»Nett von ihnen.«

»Dieses Labor ist brandneu – nicht einmal die besten Einrichtungen auf Ceres können mit dem mithalten, was es hier gibt. Und die hiesigen Kolonisten profitieren ebenfalls davon. Sie, Howard, sind genau das Prestigeprojekt, das sie brauchten, um ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Und wie es der Zufall will, hat sich Makemake auch noch aus einem ganz anderen Grund als gute Wahl erwiesen.«

»Aus welchem?«

»Wir befinden uns hier am Rand des Kuipergürtels. Offenbar gibt es da draußen ein Problem, mit dem Sie sich auf Wunsch der verschiedenen Regierungsbehörden befassen sollen.«

»Regierungsbehörden, die es in Anbetracht der allgemeinen Stimmung zweifellos vorzögen, wenn sie mich los wären?«

»Dass Sie denen in mancher Hinsicht Kopfschmerzen bereiten, heißt ja nicht, dass man Sie nicht in anderer Hinsicht gebrauchen könnte.«

»Und da wundert man sich, weshalb die Leute zynisch auf Politiker reagieren. Also gut. Sagen Sie’s mir ohne Umschweife. Wer hat sich in Schwierigkeiten gebracht und findet nun nicht mehr heraus? Wieder einer dieser verdammten Springers?«

»Die nicht. Und nicht wer. Was. Es hat etwas mit den Maschinen zu tun. Den Robotern. Den schönen neuen Kindern von Conseil. Daran sollten Sie sich eigentlich noch erinnern. Schließlich waren Sie nicht ganz unbeteiligt an ihrer Entstehung.«

»Schön, so viel Anerkennung zu genießen«, sagte Falcon.

Hope nickte. »Ja, nicht wahr? Also – tut es weh, wenn ich das hier mache?«

Die Medusa-Chroniken
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