Zwischenspiel: Juni 1968
Selbst wenn jedermann behauptete, es sei überaus unwahrscheinlich, dass Seth Springer jemals vom Boden abheben würde, mussten die Vorbereitungen für den Start von Apollo-Icarus 6, der für den 14. Juni geplant war, weitergehen. Da nicht eine der bereits gestarteten Raketen ihr Ziel vor dem Juni erreicht, geschweige denn Icarus abgelenkt haben würde, konnte niemand wissen, ob der Plan aufgegangen war oder nicht. Die bemannte Reserve-Apollo musste also startbereit sein, nur für den Fall des Falles.
Deshalb trat die NASA-Bürokratie schon Mitte Mai knirschend in Aktion. Ein Flight Readiness Board erteilte die offizielle Startgenehmigung. Seth bekam seinen eigenen Ersatzmann zugeteilt, und nun musste sich der arme Charlie Duke in den Simulator einschließen lassen, wo er verzweifelt versuchte, sich mit dem Missionsplan vertraut zu machen.
Wie Sheridan versprochen hatte, wurden Seth und seine Familie ins Mannschaftsquartier der NASA auf Merritt Island beim Cape gebracht. Von nun an würde er hier wohnen und das letzte Training und die letzten ärztlichen Untersuchungen absolvieren, abgeschottet von den Bazillen all jener zahllosen Angehörigen der Menschheit, die er zu retten versuchen würde, und geschützt vor der Aufmerksamkeit der Medien, die überwältigende Ausmaße anzunehmen schien.
Seth war froh, dass er seine Familie bei sich hatte. Die Jungs wussten nicht, worum es bei seiner Mission in Wahrheit ging, und Seth und Pat waren entschlossen, dafür zu sorgen, dass es möglichst lange so blieb. Ihre Unterkunft war teils Luxushotel, teils liberales Kloster, mit Zimmermädchen und einem hingebungsvollen Koch, der sich als Ass in der Zubereitung von Hamburgern mit Pommes frites erwies. Aber den Jungs fiel erwartungsgemäß die Decke auf den Kopf, weil sie den ganzen Tag im Haus bleiben mussten, und Pat durfte sie, schwer bewacht von Marine-Soldaten, draußen spielen lassen und sie sogar an die Strände von Florida mitnehmen.
Der Druck der Vorbereitungen und des Trainings ließ nicht nach. Seth musste sogar ein Missionsabzeichen für seinen niemals stattfindenden Flug auswählen. Der am wenigsten alberne Entwurf zeigte eine zerbrechliche blaue Erde, geborgen in hohlen Menschenhänden.
In gewissem Maße konnte er sogar seine sozialen Kontakte pflegen, nicht nur die zu Pat und den Jungs. Andere Angehörige besuchten ihn, darunter seine Eltern und seine kleine Schwester, aber auch Kumpels von seiner Schulzeit bis zur Air Force und der NASA. Alle lächelten die ganze Zeit und bestanden darauf, dass es Auf Wiedersehen und nicht Lebewohl heißen würde. Seth kam sich vor wie ein Patient mit einer tödlichen Krankheit.
Er absorbierte den ganzen Druck, schien zu guter Letzt jedoch in ein neues Bewusstseinsstadium einzutreten. Er schwebte irgendwie über allem, als hätte er die Kontrolle aufgegeben. »Mein Leben ist zu einer einzigen langen Checkliste geworden«, sagte er zu Pat.
Sie war selber müde. »Es ist eher wie bei unserer Hochzeit«, erwiderte sie und versuchte zu lächeln. »Nicht mal das hier ist so stressig wie damals. Am Ende hat man das Gefühl, als würde man einfach irgendwie …«
»Schweben.«
Aber diese Phase des Schwebens fand ein abruptes Ende.
Icarus sollte die Erde am Mittwoch, dem 19. Juni, treffen. Am Abend des 12. Juni, genau eine Woche davor, tauchte George Sheridan mit einer Flasche Bourbon auf.
»Die Ärzte hätten bestimmt was dagegen«, sagte Seth, als George ihm einen ordentlichen Schluck einschenkte.
»Scheiß auf die Ärzte«, sagte Sheridan. »Ich bin deren Boss. Prost. Also. Haben Sie die Nachrichten verfolgt, während man Sie in diesem Luxusschuppen verwöhnt hat?«
»Ich hab gesehen, dass Humphrey auf seiner Wahlkampftour erschossen worden ist.« Hubert Humphrey war LBJs Vizepräsident.
»Ja, der Hammer, was? Das hat uns gerade noch gefehlt.«
»Und in den Zeitungen habe ich die von Palomar aufgenommenen Icarus-Bilder gesehen.«
»Natürlich war das der Startschuss für die Hamsterkäufe und den allgemeinen Aufbruch in die Appalachen. Nicht dass alle weglaufen würden. Die Bermudas sind die dem Einschlagspunkt am nächsten gelegene größere Landmasse, und da veranstalten sie gerade ein Rockkonzert. Hippies und Flower Power. Man sollte sie von Gesetzes wegen zwingen, sich die verdammten Haare zu schneiden.«
»Dann wäre sicher alles anders, wenn Icarus runterkommt, Sir.«
Sheridan musterte ihn. »Tja, wir haben die Resultate. Alle drei Atombomben, die bisher dort eingetroffen sind, wurden mit absoluter Präzision abgeworfen, die Explosionen waren traumhaft schön, und die Monitore haben alles gesehen, während sie durch die Trümmerwolke geflogen sind. Die Bomben haben diesem Steinbrocken einen Stoß versetzt. Aber nicht heftig genug, verdammt noch mal. Jetzt sagen die Astronomen, der Steinbrocken sei vielleicht gar keiner; es sei vielleicht bloß ein Haufen kleiner Steine, die alle aneinanderklebten, wie ein Schutthaufen, und die Bomben komprimierten die Masse irgendwie nur …«
»Was ist mit Pat und den Jungs, George?«
Sheridan blickte ihm in die Augen. »RFK wird sich persönlich drum kümmern. Gleich nach dem Start bringt er Ihre Familie nach Hickory Hill – sein Haus in McLean, Virginia. Das hat er seinem großen Bruder abgekauft. Und am Icarus-Tag, wenn LBJ in der Air Force One sitzt, nimmt RFK Ihre Familie zu NORAD in Colorado mit. Dort werden sie unter einem verdammten Berg, keine zwanzig Meter von Kennedys Familie entfernt, abwarten, bis alles vorbei ist.«
»Die Jungs werden eine Heidenangst haben.«
»Dagegen kann man nichts machen. Aber sie werden in Sicherheit sein, stimmt’s?« Sheridan sah ihn an. »Sie wissen, ich kann Ihnen nicht befehlen, das zu tun, mein Sohn, nicht einmal jetzt. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Dass ich Mist baue und die ganze Welt dabei zusieht. Heilige Scheiße. Wollen Sie sich diesen Bourbon etwa für eine andere Gelegenheit aufsparen, George …?«
Am Donnerstag ließen sie Seth und Pat und die Jungs aus dem Käfig, und die Familie verbrachte den Tag schwer, aber diskret bewacht am Strand. Seth konzentrierte sich ausschließlich auf die lebhaften Sinneseindrücke dieses Sommertags, die Sonne, den Sand, den frischen, salzigen Geruch des Wassers – das Gelächter der Jungs, für die dies ein Tag wie jeder andere in einer langen Reihe glücklicher Tage mit Mom und Dad war.
Am Abend, nach ihrer Rückkehr ins Mannschaftsquartier, aßen sie etwas, spielten ein wenig und sahen im Pyjama fern. Dann brachten Seth und Pat die Jungs gemeinsam ins Bett. Es gab keinen Abschied, nur einen Tag, der endete.
Pat konnte es nicht ertragen, in dieser Nacht bei Seth zu bleiben.
Zu seiner eigenen Überraschung schlief er ziemlich gut. Vielleicht lag es an der Seeluft.
Und als Charlie Duke um sechs Uhr morgens dezent an die Tür klopfte und ihn aufweckte, war es Freitag, der 14. Juni.
Starttag.