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Magnetische Entitäten legten Fittiche aus Kraft und Energie um eine goldene Fracht.
Falcon spürte die außerordentliche Fragilität seiner neuen Inkarnation – ein zerbrechliches, schwaches, hastig improvisiertes Konstrukt ohne die Vorteile jener Mega-Jahre der Evolution, die biologische Geschöpfe prägten. Die Wesen, die dieses Konstrukt – und Falcon/Adam mit ihm – nun umschlossen, hielten es jedoch mit außerordentlicher Sorgfalt umfangen.
Die magnetischen Entitäten verdankten ihre Existenz den titanischen elektrischen Kräften, die in dem Meer aus metallischem Wasserstoff wurzelten. Doch auf lokaler Ebene waren sie auch die Herren und Gestalter dieser Kräfte, imstande, die Strömungen dieses Meeres mit einschüchternder Präzision zu organisieren und zu koordinieren. Jetzt zwangen sie Adam, mit zunehmender Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung zu reisen. Aber das taten sie, indem sie das Medium beschleunigten, durch das Adam sich bewegte, statt Adams fragile Gestalt direkt zu berühren.
Wir fallen also nicht mehr, sagte Falcon.
Nein.
Wir treiben auf immer schneller werdenden Strömungen aus metallischem Wasserstoff … Falcon hatte ein Bild im Kopf: ein Kind, das über das Geländer einer Holzbrücke spähte und darauf wartete, dass der Fluss einen Stock von der anderen Seite wieder zum Vorschein brachte.
Ja, so ist es, erwiderte Adam. Und ist es nicht wundervoll? Was war das übrigens für ein Bild? Eine Brücke über einem Fluss …
Ein Buch, das ich einmal gelesen habe.
Das würde ich gern sehen. Vielleicht suche ich in deinem Gedächtnis, bis ich den eidetischen Eindruck finde.
Viel Glück.
Falcon wusste, dass er nun seinerseits auf bestimmte Erfahrungen und Erinnerungen Adams zugreifen konnte. Wieso auch nicht, wo sie jetzt eine gemeinsame mentale Architektur besaßen? Ihre Gedanken vermischten sich und verschwammen ineinander. Es gab weiterhin einen Falcon, und es gab weiterhin einen Adam, aber das waren Reiche mit durchlässigen Grenzen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er bereits kurze Blicke von Dingen erhascht, die nur Adam gekannt haben konnte – Bilder von Zeiten und Orten aus der Erfahrungswelt der Maschinen.
Wenn es nur Zeit genug gäbe, um diese neue Beziehung zu erforschen.
Adam sagte wieder etwas. Wir bewegen uns jetzt sehr schnell. Und sinken erneut. Ich glaube nicht, dass es noch sehr weit ist bis zum Inneren Jupiter unter uns.
Werden wir lange genug am Leben bleiben, um ihn zu sehen?
Ich hätte Nein gesagt … aber unsere Gastgeber scheinen andere Vorstellungen zu haben. Sie bringen uns tiefer hinunter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Gastgeber? Sind wir Gefangener oder Gast?
Vielleicht ein wenig von beidem. Aber immerhin sind wir noch bei Sinnen. Das ist doch ermutigend, nicht wahr?
Du sprichst von den Sonden, die ihr heruntergeschickt habt …
Andererseits haben die Botschafter es vielleicht gar nicht bemerkt, als sie den Verstand verloren haben.
Ermutigender Gedanke, Adam.
Die magnetischen Entitäten stürzten mitsamt ihrer fragilen Fracht weiter in die Tiefe. Die falschen Himmel um sie herum waren dunkler geworden, hatten Schattierungen von Purpur und Rot durchlaufen, bis das Rot schließlich eine violette Tönung angenommen und sich dann allmählich in das satte Dunkelblau von Buntglas verwandelt hatte.
Und Falcon/Adam bemerkten etwas Milchiges unter sich, eine Fläche, die sich erst undeutlich abzeichnete. Falcon musste an den Plasmavorhang der Maschinen denken – aber natürlich konnten nicht einmal die Maschinen Anspruch auf diese unglaublichen Tiefen erheben. Nein: Die milchige Fläche war das Antlitz einer Welt, die langsam aus den dunkelblauen Schleiern hervortrat.
Endlich sahen sie ihn, den Ort, von dem Orpheus in diesen letzten, fast unglaublichen Übertragungen gesprochen hatte. Den Inneren Jupiter – den festen Kern des Gasriesen. Einen Kern aus Gestein und Eis von zwanzig Erdmassen, mit einem Durchmesser von vollen 28 000 Kilometern, mehr als doppelt so viel wie die Erde. Und doch war es absurd, von solchen Banalitäten wie Gestein und Eis zu sprechen, Vergleiche mit Erdmassen anzustellen und den primitiven Maßstab von Kilometern anzulegen, wenn der Himmel aus Metall bestand, das einen Druck von dreißig Millionen Atmosphären ausübte, und die Temperaturen höher waren als auf der Sonnenoberfläche … Die menschliche Sprache war nicht für den Inneren Jupiter geschaffen.
Wir sollten tot sein, bemerkte Falcon.
Willst du dich beklagen?
Ob ich mich beklagen will? Nein. Aber ich bin verwirrt.
Genieße jeden Augenblick. Es könnte unser letzter sein.
Bereust du irgendetwas, Adam?
Nur, dass wir diese Expedition nicht schon früher unternommen haben, als Freundschaft statt Kriegsdrohungen den Anstoß hätte geben können. Und …
Ja?
Ich hätte mich nicht von dir abwenden sollen. Ich habe dich einmal Vater genannt. Ich hatte angefangen, mich meiner Ursprünge zu schämen, und dich verleugnet. Jetzt wünschte ich, es wäre anders gewesen.
Es ist noch nicht zu spät, Adam. Es ist nie zu spät …
Der Innere Jupiter gewann an Detailreichtum, als sie sich näherten.
Unter dem gnadenlosen Druck der Atmosphäre hätte er ein runder Himmelskörper ohne jegliche Merkmale sein sollen, so glatt poliert wie eine Kugellagerkugel. Aber Orpheus hatte von Bergen gesprochen, von einer kristallinen Geografie, von Flüssen und Meeren. Von künstlichen Dingen und Konnektivität … Die Fantasien eines versagenden Geistes?
Nicht ganz, erkannte Falcon jetzt.
Getragen von Winden aus Metall, flankiert von einer Heerschar magnetischer Entitäten, flog die Falcon/Adam-Gestalt über eine Landschaft hinweg, die sowohl vertraut als auch quälend fremdartig war. Es gab Gipfel, Berghänge, Hohlwege, Geröllhalden, Teiche, Wasserfälle, Täler, Flussdeltas, Meere. Ebenen und Hochland, Küsten und Halbinseln. Die Farben und Texturen, die Falcon/Adam sahen, waren Phantome, Übersetzungen einer kaum vorstellbaren Physik und kaum vorstellbarer Aggregatzustände für ihre quasimenschlichen Sinne. Aber das Ganze wirkte wie ein funkelndes, prismatisches Winterreich, verblüffend in dieser vernichtenden Hitze; alle denkbaren Schattierungen von blassem Türkis, Himmelblau und Grün glitzerten und schimmerten in barocker kristalliner Pracht unter einem Himmel vom schönsten, herrlichsten Dunkelblau. Es hätte eine polare Region auf der Erde sein können.
Dennoch war all dies nichts anderes als Wasserstoff, rief Falcon sich ins Gedächtnis, vom Druck verfestigter Wasserstoff, Natur, die mit müheloser, geradezu unverschämter Leichtigkeit dasselbe erreichte wie die protonische Technik, mit der Adam geprahlt hatte. Wasserstoff mit einer Spur jedes anderen Elements, das es in den Kernen der Gesteinsplaneten gab, von Kohlenstoff bis Eisen, von Aluminium bis Germanium. Ein großer Teil dieser Verunreinigungen war hier äonenlang gefangen gewesen, seit der Entstehung des Jupiters, aber es hatte auch einen stetigen Regen neuer Stoffe gegeben, die, mitgebracht von Kometen und Asteroiden, in die obere Atmosphäre fielen und dann durch die dazwischenliegenden Schichten allmählich herabsanken, Atom für Atom: ein Regen der Elemente, der den Kern mit jeder stabilen Konfiguration von Neutronen, Protonen und Elektronen anreicherte, die zu erlauben die Natur für angebracht hielt.
Ich könnte jetzt sterben, sagte Falcon. Dass mir dieses Geschenk gewährt wurde, dieser seltene Moment …
Und doch, direkt im Anschluss an diesen Gedanken: Wenn der Tod heute auf dem Programm stünde, sollte er bereits tot sein. Tja, wenn das so war – was kam dann wohl als Nächstes?
Sie sanken rasch tiefer. Die Landschaft stieg zu ihnen empor. Es fühlte sich an, als wären sie ungeheuer schnell.
Und dann stürzten sie in einen Spalt in der Kruste.
Rasten den Spalt entlang, hoch aufragende Steilwände aus diamantenem Eis zu beiden Seiten, Felswände und Vorsprünge aus funkelndem Graublau.
Unter Bogen aus Pseudo-Eis hindurch.
Dann ging es die ansteigenden Flanken von Gebirgsausläufern hinauf, und sie stiegen wieder nach oben und erreichten die Kämme eisiger Gebirgsketten. Es war ein verwirrendes, wildes Durcheinander.
Hinweg über Hochplateaus.
Über Felder von Geysiren, die Ströme dampfender Fullerene in den Wasserstoffhimmel spien.
Über ineinandergreifende Kristallformationen, die Escher-Treppen oder den Überresten eines riesigen, zerstörten Puzzles glichen.
Über endlose, schläfrige Savannen, wo Herden stelzenläuferähnlicher Formen mit der Langsamkeit von Wolken grasten. Tiere! Konnte es hier eine vollständige Ökologie geben, »Pflanzen«, »Pflanzenfresser« und »Fleischfresser«, eine Räuber-Beute-Pyramide – galten die universellen Gesetze des Lebens sogar hier?
Und dann tauchten sie wieder hinab, stürzten übergangslos in rubinrot gefleckte Kohlenstoffmeere, in den unvorstellbaren Druck unendlicher Tiefen, sahen eine komplette Unterwasserlandschaft, so zart und wundervoll wie diejenige über der Oberfläche. Auch in diesen Meeren gab es Wesen, die sich bewegten, kleine und große Schwärme wie auch einsame Sucher.
Kurze Eindrücke, mehr nicht, von Wundern, mit deren Erforschung man ein ganzes Leben verbringen konnte.
Hier gibt es mehr zu entdecken und mehr zu lernen, als wir je geahnt haben, bemerkte Falcon. Dagegen wirkt der Rest des Jupiters – der Rest des Sonnensystems – wie ein Appetithappen. All unsere Abenteuer, all unsere Entdeckungen – von dem Moment an, als wir Afrika verlassen haben, bis zu Orpheus … Wir hatten noch nicht einmal richtig angefangen!
Es ist wahrscheinlich gut, dass wir keine Gelegenheit mehr haben werden, anderen von dieser Entdeckung zu erzählen, sagte Adam. Uns würde ohnehin niemand glauben.
Nun kam etwas anderes.
Sie näherten sich einem Berg, der ganz für sich allein stand und höher aufragte als alle anderen. Der abgeflachte Gipfel rief eine gemeinsame Erinnerung in Falcon/Adam wach – die Erinnerung an Orpheus’ letzte, unzusammenhängende Botschaft, an diese letzten Worte, die jahrhundertelange Kontroversen unter den Gemeinwesen der Menschen und der Maschinen ausgelöst hatten.
Jetzt erreichten Falcon/Adam diesen Gipfel.
Adam, ich glaube …
Und wie Orpheus vor ihnen wurden sie von sich beschleunigenden Strömungen in die glattwandige Öffnung eines senkrechten Schachts gespült.
Der Berg war hohl.
Sie fielen, schnell und tief. Um sie herum waren geäderte Wände aus milchigem Violett, die immer schneller vorbeirasten. Vor ihnen wuchs ein Weiß, wie die Lichtflut am Ende eines Tunnels.
Ihre ohnehin schon halsbrecherische Geschwindigkeit verdoppelte und vervierfachte sich.
Das flüssige Medium, das sie umhüllte, bot einen gewissen Schutz vor den Beschleunigungskräften, aber Falcon/Adam spürten, wie ihre innere Architektur bis zum Zerreißen beansprucht wurde. Doch auch die Gastgeber-Entitäten drängten sich enger um sie, umschlossen ihren Gast und begannen schließlich, ihren Einfluss auf das Innere der goldenen Aura auszudehnen, indem sie ihre magnetische Einwirkung an die physische Struktur der neuronalen Architektur von Falcon/Adam koppelten.
Und tief im Innern dieser Architektur versuchten die auf Quantenebene arbeitenden Trägheitsmessgeräte einer Maschine noch immer, deren Bewegung zu quantifizieren. Hundert g … tausend g … und noch mehr. Wir sollten tot sein, Falcon! Außerdem hätten wir bei den Geschwindigkeiten, die wir erreichen, mittlerweile auf der anderen Seite des Inneren Jupiters herauskommen müssen …
Vielleicht gibt es keine andere Seite, sagte Falcon.
Wenn das zutrifft, haben wir es hier mit einer ganz anderen Dimension der Technik zu tun – mit einer technischen Manipulation der Raumzeit-Metrik selbst. Während wir Maschinen Welten zerlegt und an der Struktur der Materie in den oberen Wolkenschichten herumgespielt haben, hatte jemand anders bereits das hier gebaut … Wir waren wie Affen, wir haben uns vor lauter Selbstzufriedenheit auf die Brust getrommelt, weil wir ein paar Kratzer in den Stein gemacht hatten, während über uns bereits die Pyramiden aufragten, ohne dass wir es bemerkt hätten.
Nimm’s nicht so schwer. Selbst Affen müssen irgendwo anfangen.
Du musst es ja wissen, Falcon.
Das Weiß schwoll jetzt an und verschlang einen immer größeren Teil des Schachts vor ihnen.
Weißt du, Falcon, es heißt, die Sterbenden sehen einen Tunnel. Mit weißem Licht am Ende.
Ich bin noch nicht bereit zu sterben, Adam.
Vielleicht hat das Universum da andere Vorstellungen …
Das Weiß schloss sich um sie wie ein sanfter, einschläfernder Nebel.
Die physische Struktur von Falcon/Adam gab den Kampf gegen den Druck, die Temperatur und die Beschleunigungslast endlich auf. Howard Falcon, der einst ein Mensch gewesen war – und der sich in diesen letzten Stunden schließlich als reine Maschine akzeptiert hatte –, war einen Moment lang nicht mehr als ein Abdruck, ein Informationsmuster, eine Fußspur im Sand.
Und dennoch wahrnehmungsfähig.
Falcon spürte, wie er von etwas Gewaltigem kalt und gründlich gemustert wurde. Hoffnung und Furcht lagen weit hinter ihm.
Ein weißes Meer spülte über diesen Abdruck hinweg, absorbierte ihn, löschte ihn aus.
Da war nichts. Nicht einmal die Erinnerung daran, dass er gelebt hatte.
Und dann …