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Seit der Reise mit der Kon-Tiki war Howard Falcon viele Male zum Jupiter zurückgekehrt.
Diesmal war er wegen der Maschinen hier.
Die Zeiten hatten sich geändert. Das Unvorstellbare war zum Normalzustand geworden. Maschinen im inneren Sonnensystem. Maschinen in den Jupiterwolken.
Es war schon dreißig Jahre her, dass die Maschinen nach fünfzigjährigem Schweigen von ihrem selbst auferlegten Exil in der Oortschen Wolke aus versuchsweise Kontakt aufgenommen hatten. Dann waren jahrelange Verhandlungen und Diskussionen zwischen den Maschinen und diversen menschlichen Fraktionen gefolgt. Die Weltregierung hatte sich noch immer nicht ganz von dem Exodus im Jahr 2199 erholt – von dem demütigenden Verlust der Kontrolle über die von ihr selbst erschaffenen autonomen Wesen und dem auf den Abzug der Gehirne des Bergbauprojekts folgenden Zusammenbruch der Versorgungskette für die flüchtigen Stoffe der KGOs, nach dem die Wirtschaft des Sonnensystems in eine lange und demoralisierende Rezession gerutscht war. Die Marsianer hatten sich unterdessen dafür eingesetzt, den Kontakt mit den Maschinen wieder aufzunehmen. Sie vertraten den Standpunkt, die Maschinen seien so oder so dort draußen, und früher oder später müsse man sich wieder mit ihnen befassen. Da sei es doch bestimmt besser, Kontakte auf der Basis friedlicher Kooperation zu knüpfen …?
Falcon hatte diese gewaltigen historischen Veränderungen selbst miterlebt.
Ein zweifelhafter, erst im Lauf der Zeit allmählich zutage getretener Vorteil seines cyborgisierten Zustands war virtuelle Unsterblichkeit. Lebensverlängerungsbehandlungen waren jetzt nichts Besonderes mehr, aber Falcon ließ sich leichter instand halten als ein normaler Mensch – leichter als etwa Hope Dhoni, die über all die Jahre seine Ärztin und Gefährtin geblieben war. Das Fehlen seiner Organe, des Magens, der Leber und der Genitalien, hatte ihm sogar größere Gelassenheit geschenkt als den meisten anderen, so schien es ihm oft. Er war ein ruhiger, leidenschaftsloser Zeuge der Jahrhunderte, die wie Flutwellen durchs Sonnensystem rollten.
Und er nahm immer noch teil an dem großen Spiel.
Jener zaghaften Wiederaufnahme des Kontakts war eine Dekade behutsamer Verhandlungen gefolgt. Dann hatte die Weltregierung durch ihre Sekretariate für Energie und Erschließung des Weltraums die ersten Lizenzen für Maschinenoperationen in den Jupiterwolken erteilt. Gewaltige schwebende Fabriken würden gebaut werden, um die feinen Spuren eines bestimmten Isotops, Helium-3, aus der Jupiterluft zu sieben. Das war der beste verfügbare Fusionsbrennstoff, und er musste aus einer Umgebung extrahiert werden, für die Maschinen, wie Falcon schon seit langer Zeit propagiert hatte, weitaus besser geeignet waren als Menschen. Die Politiker hatten sich allesamt gegenseitig auf die Schulter geklopft, als die ersten Ladungen des kostbaren Brennstoffs auf der Erde und den Koloniewelten eintrafen und dem Wirtschaftswachstum einen plötzlichen Schub versetzten.
Die optimistische Stimmung hielt allerdings nicht lange an.
Als die Operation genehmigt worden war, hätten die Extraktionsfabriken eigentlich vollautomatisch sein sollen: mit anderen Worten, nur von Maschinen bemannt, aber kontrolliert von auf den Jupitermonden stationiertem WR-Personal. Doch im Lauf der Zeit hatten die Maschinen zunehmende Unabhängigkeitstendenzen an den Tag gelegt. Die beunruhigte WR, immer mit der KGO-Flinger-Katastrophe vor Augen, holte ein marsianisches Team dazu, das die Maschinen ergänzen und ein Auge auf sie haben sollte, musste jedoch ein paar Jahre später feststellen, dass die Marsianer selbst immer mehr auf Unabhängigkeit sannen, immer schwerer zu lenken waren und, so vermutete die Erde, im Jupiter ihre eigenen Interessen verfolgten. Interessen, die rein gar nichts mit dem Abbau von Helium für die Heimatwelten zu tun hatten.
Schließlich legten die Marsianer selbst einen Plan vor, um diese Atmosphäre wachsenden Misstrauens zu bereinigen: Die Maschinen sollten als gleichberechtigte Partner an einem kühnen Unternehmen beteiligt werden, das sowohl menschliche Fachkenntnis als auch Maschinen-Resilienz erforderte. Es würde ein kooperatives Wagnis sein, ein politisches Kunststück – und überdies ein eindrucksvolles Leuchtturmprojekt, das von keiner der beiden Parteien allein bewältigt werden konnte.
Eine Reise zum Mittelpunkt des Jupiters.
Die WR konnte kaum Einspruch gegen das Projekt erheben. Aber sie brauchte einen eigenen Vertreter im Team. Jemanden mit historischen Verbindungen sowohl zum Jupiter als auch zu den Maschinen. Idealerweise jemanden, der als halbwegs neutral galt und den Welten der Menschheit nicht allzu nahe stand. Einen Bürger der WR, der dafür gerüstet war, die Bedingungen auf dem Jupiter zu überleben.
Wen sonst?
Also wurde Howard Falcon von seiner unermüdlichen Erkundung der exotischen äußeren Regionen des Jupiters abgezogen, einer Forschungstätigkeit, mit der er zufriedene Jahrzehnte verbracht hatte. Natürlich fand er die Aussicht auf eine Mission zum Kern des Jupiters verlockend, denn der Traum, tiefer als bis in die obersten Wolkenschichten hinunterzugehen, hatte ihn fast sein ganzes langes Leben lang begleitet. Dass er dazu bis zu den Ellbogen in den Schlamm interplanetarischer Politik eintauchen musste, schien ihm ein geringer Preis für die Verwirklichung dieses Traums zu sein.
Und darum war Howard Falcon nun hier, mit einem Marsianer auf seiner Brücke.