Zwischenspiel: November 1967

Von der Pressetribüne aus gesehen, war die Saturn V im strahlenden Sonnenschein dieses Herbstmorgens in Florida eine stattliche weiße Säule, in krassem Gegensatz zu den industriellen Rohrleitungssystemen und Metallstreben der klobigen Startrampe, an der sie sich immer noch festklammerte.

Aber Startplatz 39-A war mehrere Kilometer entfernt. Obendrein wurde die leise Stimme des Sprechers, der gelassen die Punkte auf der Start-Checkliste des Vogels abhakte, halb von der blechernen Musik übertönt, die aus dem Transistorradio irgendeines Pressefuzzis drang. Als Seth sich darüber bei Mo Berry und George Lee Sheridan beschwerte, die mit ihm auf der Tribüne standen – sie trugen alle Mütze, Sonnenbrille und Freizeitkleidung und versuchten, inmitten dieser Horde von Presseleuten unerkannt zu bleiben –, lachten sie ihn aus.

Mo boxte ihm gegen den Arm. »Hey, was ist denn heute los mit dir? Ich weiß, es ist der erste Saturn-Start, und wir sind alle nervös …«

»Nicht so nervös wie Wally Schirra und seine Jungs«, sagte Sheridan trocken.

»Daran liegt es nicht. Es ist die verdammte Musik.«

Mo lachte. »Frevel, Mann. Das ist Colonel John Glenn’s Lonely Hearts Club Band. Also wirklich, ich bin älter als du, aber manchmal denke ich, ich bin zehn Jahre jünger. Es gab nie einen besseren Soundtrack für das Ende der Welt.«

»Machst du Witze? Irgend so ein Engländer, der was von einem Weibsbild im Himmel mit Diamanten jault?«

Sheridan intervenierte diplomatisch. »Eure Geschmäcker sind offensichtlich verschieden, Seth.«

Seth zuckte die Achseln. »Ich steh mehr auf ältere Sachen. Als ich klein war, hab ich mich durch die Schallplattensammlung meines Vaters gewühlt – er hat sie immer zusammengehalten, egal, wohin wir versetzt wurden, sogar in Übersee.«

Mo schnitt eine Grimasse. »Ray Conniff und Mantovani. Hab ich recht?«

»Fresse, Hippie. Louis B. Armstrong ist für mich der Größte.«

Sheridan grinste. »Satchmo! Gute Wahl, mein Sohn.«

»Klar«, sagte Mo. »Aber dieses Jahr hören die Kids die Beatles. Und dann gibt’s noch Jefferson Airplane, The Who, Janis Joplin, Motown …«

»Mir reichen die Aufnahmen der Hot Five – danach hätte Edison sein Grammofon zusammenklappen und sich vom Acker machen können.«

Sheridan grunzte. »Hoffen wir mal, dass wir alle nächstes Jahr um diese Zeit noch da sind, um uns über Pop-Platten zu streiten. Dafür haben wir uns schließlich den Arsch aufgerissen.«

Mo nickte. »Stimmt. Aber, Mann, ich brauch jedenfalls mal einen freien Tag …«

In dem Punkt waren er und Seth einer Meinung.

Aber Sheridan schnaubte. »Das hier ist ein freier Tag.«

Für jeden bei der NASA und für zehnmal so viele weitere Arbeitskräfte, die in der Industrie für das Raumfahrtprogramm schufteten, war der Sommer der Liebe ein Sommer der Arbeit gewesen wie noch nie zuvor.

Mit bewundernswerter Schnelligkeit und Entschlossenheit hatte man einen Plan aufgestellt, der weniger auf dem Gekritzel zweier mäßig intelligenter Astronauten in Bob Gilruths Büro an jenem denkwürdigen Aprilsonntag beruhte, als vielmehr auf der parallel stattfindenden Arbeit in Großunternehmen, an Universitäten wie dem MIT und in diversen NASA-Zentren überall im Land.

Mo und Seth hatten allerdings weitgehend richtig gelegen. Icarus sollte von einer Abfolge nuklearer Detonationen abgelenkt werden; Apollo-Raumschiffe würden die Bomben zum Zielort befördern. Für diese Strategie gab es im Mai offiziell grünes Licht. Bis zum Juni stand das Konzept, und schon im Juli hatte die Herstellung der zusätzlichen Saturn-Trägerraketen und der modifizierten Apollo-Raumfahrzeuge begonnen, die auf ihnen reiten würden – denn eine Saturn war nicht dazu gedacht, ohne eine Apollo zu fliegen. Das klang einfacher, als es war. So musste beispielsweise der Navigationscomputer der Apollo aufgerüstet werden, damit er ohne menschliche Eingaben während des Fluges auskam, und das Kommunikationssystem musste verbessert werden, um den Kontakt zur Erde halten zu können, die vielleicht achtzigmal so weit entfernt sein würde, wie je ein Mondastronaut zu reisen erwartet hatte.

Und dann war da die Frage, wie man an die Trägerraketen für diese Missionen kommen sollte. Der alte, nun vergleichsweise betulich wirkende Plan, bis 1970 einen Menschen auf den Mond zu bringen, hatte die Herstellung von insgesamt fünfzehn Saturn-V-Boostern vorgesehen, von denen bis zum Juni 1968, wenn der Steinbrocken auf der Erde einschlagen würde, erst sechs verfügbar gewesen wären. Jetzt versprach ein beschleunigter Plan die Bereitstellung von acht Boostern, von denen sechs für reale Raumflüge gedacht waren. Einer sollte für Tests am Boden dienen, um Kopplungs- und Steuerungsprozeduren zu prüfen – und einer, eine kostbare Apollo-Saturn, würde bei dem einzigen Testflug geopfert werden, der heute stattfinden sollte, bevor es im nächsten April ernsthaft zur Sache ging.

Das Problem bestand jedoch nicht nur in der Beschleunigung von Produktionsabläufen. Die Saturn war noch nie geflogen, und vor weniger als einem Jahr hatte eine Apollo ihre Crew am Boden getötet. Wie Mo oftmals gesagt hatte: »Das ist hier ja schließlich keine Fließbandproduktion von Model-T-Fords.« Also herrschte fieberhafte Aktivität in den Zentren, wo die diversen Komponenten der riesigen Schiffe hergestellt wurden: bei North American Rockwell in Kalifornien; auf von Brauns Basis in Huntsville, Alabama, wo die mehrstufige Trägerrakete entwickelt und getestet wurde; sogar am MIT in Boston, wo man die Verbesserungen für das Navigationssystem entwickelte. Hier am Cape selbst wurden unterdessen neue Startrampen für die Saturn-Raketen aus dem Boden gestampft. Selbst die DSIF, die Deep Space Instrumentation Facility, das weltweite Horchnetz der NASA von der Mojave-Wüste bis nach Australien, war aufgemöbelt worden, um für die zahlreichen bevorstehenden Raumflüge gerüstet zu sein; wie sich herausstellte, war das System nur für jeweils ein einziges Schiff im Weltraum ausgelegt.

Zuletzt hatte man eine präzise Abfolge von Saturn-Starts festgelegt. Von Anfang April 1968 bis zu jenem klimaktischen Juni sollte es sechs Flüge geben. Der erste würde die Kapazitäten der Apollo-Saturn bis an ihre Grenzen ausschöpfen: eine Sechzig-Tage-Mission, um Icarus abzufangen, wenn er noch mehr als dreißig Millionen Kilometer von der Erde entfernt war. Aber Icarus kam schnell näher; die letzte Mission – Start Mitte Juni – würde nur vier Tage brauchen, um Icarus zu erreichen, der bis dahin nur noch wenig mehr als anderthalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt sein würde, nur viermal so weit wie der Mond.

Aber an diesem strahlend hellen Morgen kam Seth das alles völlig unwirklich vor.

Vermutlich war dies auch die Stimmung in der Bevölkerung: eine Art Ungläubigkeit. Er wusste, dass die Regierung in aller Stille Evakuierungspläne für die Atlantikküste ausarbeitete und Nahrungs- und Arzneimittelvorräte anlegte. Einheiten der Nationalgarde wurden bereitgestellt, obwohl diese nach einem Sommer voller Studentenproteste, Rassenunruhen und Anti-Kriegs-Demonstrationen ohnehin schon unter Druck stand. Es gab sogar Gerüchte, dass reguläre Truppen still und heimlich aus Vietnam zurückgeholt wurden. Unterdessen machte die übrige Welt im Großen und Ganzen genauso weiter wie immer. Im Juni hatten die arabischen Staaten Israel angegriffen, und niemand wusste, ob das etwas mit Icarus zu tun hatte oder nicht. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen herrschte nach wie vor Hochbetrieb.

Trotzdem hatte Seth den Eindruck, als hätten sich die meisten Amerikaner nach einem kurzen Ausbruch von Hysterie beruhigt und wären wieder an die Arbeit gegangen oder zu ihren vielfältigen Freizeitbeschäftigungen zurückgekehrt.

Aber Icarus kam. Die Astronomen sagten, der Asteroid habe bereits das Aphel passiert, den Punkt, an dem er am weitesten von der Sonne entfernt war. Im Mai würde er der Sonne am nächsten sein und dann wieder herausgeschossen kommen, auf direktem Kurs zur Erde.

Die Astronauten hatten sich wie alle anderen NASA-Angehörigen in das Eilprogramm gestürzt. Das galt auch für Mo und Seth, die mit ihren T-38 über dem Land herumflogen.

Aber die beiden hatten ein Geheimnis. Sie mussten sich auch auf ihren eigenen bemannten Flug vorbereiten.

Sheridan hatte sie unmittelbar nach LBJs Pressekonferenz im April damit überfallen. Eine neue Aufgabe, hatte er gesagt.

»Ihr wisst ja, wie das bei der NASA so läuft. Wir haben immer Ausweichpläne. Wenn das Kommandomodul auf dem Weg zum Mond leckschlägt …«

»Wir üben Ausweich-Optionen in den Simulatoren«, blaffte Mo. »Und?«

»Und was für Ausweich-Optionen haben wir bei Icarus? Denkt darüber nach. Wir schicken unsere Schiffe zu einer heiklen Rendezvous-Mission durchs Sonnensystem, gesteuert von Computern, die so dumm sind wie Schifferscheiße. Und die einzige denkbare Ausweichmöglichkeit besteht darin …«

»Eine Crew loszuschicken«, hauchte Seth.

»Oh, ich glaube, ein Mann würde reichen. Ein zweiter würde wahrscheinlich schon das zulässige Gesamtgewicht übersteigen. Ein Mann, der die letzte Icarus-Rakete mitsamt deren Atombombe fliegt, wenn es sein muss. Kann natürlich nur ein ausgebildeter Apollo-Astronaut sein.« Er packte sie beide vergleichsweise sanft an der Schulter. »Also einer von euch beiden. Wer der Hauptpilot und wer der Ersatzmann sein soll, überlasse ich euch.«

Seth hatte das noch nicht einmal ansatzweise verdaut, als Mo auch schon ganz ruhig sagte: »Ich setze mich auf den heißen Stuhl. Du hast deine Kinder, Tonto. Außerdem bin ich der bessere Pilot. Keine Widerrede.«

So hatte es angefangen. Der gewaltige operative und verwaltungstechnische Apparat der NASA war angelaufen, und die Arbeit begann: Sie verbrachten Stunden in Planungssitzungen, mit der Entwicklung von Checklisten und mit Simulatorübungen. Sie genossen jede Menge Unterstützung, denn ihr Flug war der einzige bemannte Flug im Terminkalender der NASA, abgesehen vom heutigen. Mit einem Mal wurde Seth in das Leben zurückversetzt, das er sich immer erträumt hatte, ins Epizentrum der Vorbereitungen auf einen bemannten Weltraumflug. Er hatte es seiner Frau erzählt, sobald er an ein Telefon kam. Und das Erste, was er damals im April aus Sheridan herausgeholt hatte, war das Versprechen gewesen, seine Familie ab sofort unter Bewachung zu stellen und sie noch in der Minute, in der die Nachricht an die Öffentlichkeit gelangte, an einen sicheren Ort zu bringen.

Dabei drückten sich Seth und Mo und alle in ihrer Umgebung immer um eine simple, unverdauliche Wahrheit herum: Wenn dieser sechste Vogel flog, würde derjenige, der ihn flog, ganz gleich, wer es war und ob er mit diesem letzten verzweifelten Versuch, Icarus abzulenken, Erfolg hatte oder nicht – ob die Erde überlebte oder unterging –, nicht mehr nach Hause kommen.

Schließlich näherte sich der störungsfrei ablaufende Countdown dem Ende. Der Kerl mit dem Transistorradio schaltete endlich wie zum Zeichen seines Respekts John Lennon und all die anderen aus, sodass die Stimme des Sprechers ungestört über die Pressetribüne hallen konnte.

Sheridan schien neugierig zu sein. »Ihr seid beide so nervös.«

»Ja, zum Teufel«, sagte Mo. »Wegen der Art, wie wir das angehen. Wir testen alles auf einmal, die ganze verdammte Trägerrakete zugleich. Nicht so, wie man es bei der Navy draußen in Patuxent River macht …«

Der Countdown endete mit null. Seth sah Feuer aus dem Heck der Saturn strömen. Er wusste, dass jede Sekunde drei Tonnen Treibstoff verbrannt wurden, von jedem der großen fünf F-1-Triebwerke der ersten Stufe.

»… Wenn man ein neues Kampfflugzeug testet, rammt man das verdammte Ding nicht gleich beim ersten Flug durch die Schallmauer. Man bringt es hoch, man bringt es runter. Dann bringt man es wieder hoch, probiert ein paar Steuerelemente aus, von denen man beim ersten Mal noch die Finger gelassen hat, und bringt es wieder runter …«

Die Saturn hatte sich noch immer nicht gerührt. Aber zu beiden Seiten wogten Rauch und Flammen von Beton-Reflektoren in die Höhe – wie zwei Hände, die das zerbrechliche Raumfahrzeug umfassten, dachte Seth.

»Hier dagegen testen wir drei unerprobte Booster-Stufen übereinander, die ein unerprobtes Raumfahrzeug mit drei Trotteln in unerprobten Raumanzügen tragen …«

Und endlich hob die Rakete ab, entfernte sich zentimeterweise von der Startrampe, das Feuer strahlend hell wie ein Tropfen Sonne, der sich in den Himmel zurückkämpfte. All das war lautlos vonstattengegangen, doch nun erreichte sie das Geräusch der Saturn – es war nicht so sehr ein Geräusch als vielmehr ein Gefühl, als würde ihm jemand gegen die Brust schlagen, dachte Seth, während der Boden unter seinen Füßen erbebte. Jedermann auf der Pressetribüne jubelte und klatschte, und Seth konnte die Worte des Sprechers kaum verstehen: »Viel Glück, Crew von Apollo Zwei, viel Glück, Schirra, Eisele und Cunningham, auf eurer historischen Reise.«

»Drei Trottel«, brüllte Mo, »einmal um den gottverdammten Mond herum!«

Aber Seth, der mit den anderen zusammen jubelte und jauchzte, hörte ihm nicht mehr zu.

Und Sheridan sagte: »Das war’s. Zurück an die Arbeit.«

Die Medusa-Chroniken
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