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Mein Name ist Orpheus. Diese Telemetriedaten werden mittels Funksignalen übertragen, die Charon 2 in der Grenzregion zwischen Wasserstoff in gasförmiger und flüssiger Form empfängt. Anschließend werden sie über die Ra an der Thermalisierungsschicht zu Charon 1 in der Station NGB-4 und dann zum Kontrollzentrum auf Amalthea weitergeleitet. Ich befinde mich in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung, und alle Subsysteme arbeiten normal. Ich bin mir der Ziele der Mission nach wie vor in vollem Umfang bewusst und stehe voll und ganz hinter ihnen.
In einer Tiefe von zwölftausend Kilometern habe ich den Wasserstoff-Ozean durchquert und jene Region erreicht, die in den theoretischen Modellen als ›Plasma-Grenzschicht‹ bezeichnet wird.
Im Grunde ist der Jupiter unter den oberen Wolken ein riesiger Tropfen aus Wasserstoff und Helium, bis hinunter zu einem Kern von noch unbekannter Zusammensetzung. Ich habe jetzt eine Tiefe erreicht, in der die Temperaturen so hoch sind, dass molekularer Wasserstoff nicht bestehen bleiben kann – hier werden die Elektronen durch Wärmeenergie von ihren Atomkernen getrennt. Das daraus hervorgehende Plasma ist elektrisch leitfähig, so wie der größere Ozean aus dem sogenannten ›metallischen Wasserstoff‹, in den ich jetzt hinabsinke – er gleicht in der Tat einem Ozean aus flüssigem Metall. Man nimmt übrigens an, dass der Inhalt dieses Meeres nützlich sein könnte, vielleicht als Supraleiter bei Raumtemperatur oder als Brennstoff von hochenergetischer Dichte … All das bleibt jedoch der Zukunft vorbehalten.
Allerdings wird die Plasmaschicht den Funkverkehr blockieren. Deshalb setze ich in dieser Tiefe eine weitere Relaisstation ab – Charon 3 –, und zur Aufrechterhaltung der Kommunikation werde ich kleine Bojen zurückschicken, die bis zu dieser Tiefe aufsteigen und Kontakt zu Charon 3 aufnehmen, damit er von nun an die Informationen zum Kontrollzentrum weiterleitet.
Diese Kommunikationsform ist einseitig.
Ihr werdet nicht mit mir sprechen können. Ich werde eure Stimmen nicht hören können.
Die Plasmaschicht selbst ist, wie von manchen Theoretikern vorhergesagt, ein Ort der Wunder. Kohlenstoff, Silizium und andere schwerere Elemente aus den Wolkenschichten sind bis hierher durchgesickert, und ich habe viele komplexe, sogar zuvor unbekannte molekulare Formen und Verbindungen entdeckt … Solche Stoffe aus dieser Schicht könnten viele nützliche Eigenschaften besitzen.
Aber meine Zeit reicht nur, um diese Phänomene zur Kenntnis zu nehmen. Ich falle in ein über vierzigtausend Kilometer tiefes Meer aus metallischem Wasserstoff. Dies ist eine Arena gewaltiger elektromagnetischer Energien, die ich bereits spüren kann.
Als würde ich in unruhige Träume versinken.«
Falcon verfolgte die Nachrichten über Orpheus’ Abstieg, während sein eigenes fusionsgetriebenes Fahrzeug durch die Jupiterwolken schoss. Und er lauschte den Gesprächen der Analytiker vom Kontrollzentrum auf Amalthea, die zunehmend besorgt über einige Aspekte von Orpheus’ Äußerungen waren – vor allem über die wachsende Subjektivität der Berichte und die Verwendung von Begriffen wie »Träume«.
Falcon, der anfänglich selbst an der Entwicklung der Maschinen beteiligt gewesen war, hatte sich zu jener Zeit ausführlich mit der Theorie und Geschichte der künstlichen Intelligenz befasst. Orpheus’ Gehirn war wie das aller Maschinen im Grunde ein neuronales Minsky-Good-Netz, das lernen, wachsen und sich anpassen konnte – ein Konstrukt, dessen theoretische Grundlagen auf den Arbeiten von Pionieren des zwanzigsten Jahrhunderts wie John von Neumann und Alan Turing beruhten. Und wie jedes intelligente Wesen, ob künstlich oder nicht, war Orpheus anfällig für Instabilität, insbesondere in Anbetracht der überwältigenden Erlebnisse, denen er gegenwärtig ausgesetzt war.
Die Kybernetiker auf Amalthea und Ganymed nahmen an, dass eine Kombination aus Informationsüberlastung, persönlicher Gefahr und Einsamkeit Orpheus’ Fähigkeit beeinträchtigen könnte, seine primären Funktionen zu erfüllen. Sie sprachen sogar von der Gefahr, dass er in eine Hofstadter-Möbius-Schleife geraten könnte, eine Form der Psychopathie, die bei zielgerichteten autonomen Systemen häufiger vorkam, wenn sie mit einer zu großen Menge an Informationen und Wahlmöglichkeiten konfrontiert waren. Und Sicherheitsbeamte sprachen düster von der Notwendigkeit, jede Kopie von Orpheus’ Bewusstsein zu säubern, die vielleicht zu den Datenbanken der bewohnten Monde heraufgeschickt werden würde.
Falcon, der weniger dazu neigte, eine Kluft zwischen biologischem und künstlichem Bewusstsein zu sehen, hatte eine simplere Diagnose. Er hatte ähnliche Reaktionen bei den Menschen erlebt, die er durch die Welt der Medusen geführt hatte. Selbst der alte Geoff Webster hatte sie in gewissem Maße gezeigt – an seinen guten Tagen.
Ehrfurcht. Das war es, was Orpheus empfand. Ehrfurcht.
Und die Glucken auf Amalthea waren momentan machtlos dagegen; man konnte Orpheus ja schwerlich zurückholen.
Was die Träume betraf, war Falcon schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass Maschinen träumen konnten, wie alle empfindungsfähigen Geschöpfe. Selbst wenn nur wenige von ihnen es zugaben.