58

Immer tiefer hinein in die benthische Nacht: achttausend, zehntausend Kilometer. Erstaunlich, dass sie so weit gekommen waren – viel weiter, als Falcon sich je vorzustellen gewagt hatte.

Und doch, was war er jetzt? Wer war dieser Zeuge der Dunkelheit?

Er hatte sich verändert, hatte vieles von dem abgelegt, was früher ein untrennbarer Teil von ihm gewesen zu sein schien. Dennoch fühlte es sich so an, als hätte er noch immer einen unverbrüchlichen Anspruch auf die Identität von Howard Falcon, als verbände ein Faden der Einzigartigkeit diesen gegenwärtigen Ort der Erfahrung und Wahrnehmung noch immer mit dem Menschen, der einst an Deck der Queen Elizabeth gestanden hatte, beunruhigt von einem Windstoß. Aber war er wirklich noch in der Lage, solche Dinge zu beurteilen? Gesteh’s dir ein, du bist momentan nicht gerade ein leidenschaftsloser Beobachter. Adam hat seine Ranken tief in deinem Geist. Wer weiß, wo er aufhört und du beginnst?

Aber war das wirklich noch von Belang? Welche Rolle spielte es, was er früher einmal gewesen war, was er durchgemacht hatte, wo Falcons Grenzen auf die von Adam trafen? Irgendetwas war geblieben. Eine gewisse Kontinuität. Genug Ichbewusstsein, um Zeugnis abzulegen.

Genug, um seine eigene Auslöschung zu fürchten.

»Falcon.«

»Ich bin hier.«

»Ich glaube, wir sind nicht mehr weit von der Grenze zum Plasma-Ozean entfernt. Die Bedingungen werden uns einiges abverlangen – eine Million Atmosphären, wenn man Orpheus’ Berichten und denen der Botschafter glauben kann. Außerdem greift mich das logische Agens weiterhin an, und es entwickelt ebenso schnell Strategien, wie ich Gegenmaßnahmen ersinne. Der Tribut, den es von mir fordert …« Ein Schweigen, und doch schien Adam sich nach dieser Pause zusammenzunehmen, als hätte er eine neue Entschlossenheit entdeckt. »Trotz dieser Bürde bin ich nicht bereit, mich der Nichtexistenz zu ergeben. Nicht, solange wir noch eine Chance haben.«

»Geht das schon wieder los. Was hast du diesmal im Sinn?«

»Eine weitere Konsolidierung. Aber vielleicht eine, die dich beunruhigt.«

»Noch mehr als beim letzten Mal …? Hättest du mich nicht vorwarnen können, Adam?«

»Ich improvisiere hier, Falcon.«

»Sehr unmaschinenmäßig von dir.«

»Ja, da magst du recht haben. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass wir so lange überleben würden. Darf ich wenigstens die Möglichkeiten umreißen?«

»Sprich weiter.«

»Bis jetzt hat mein Panzer deinen biologischen Kern umschlossen und dich vor dem Druck geschützt. Aber ich nähere mich nun meiner eigenen Zerstörungstiefe. Die Belastungsindizes steigen, wie schon in der Gondel.«

»Dann sind wir erledigt.«

»Außer wir machen uns Orpheus’ Strategie zu eigen und liefern uns der Umgebung vollständig aus, statt ihr Widerstand entgegenzusetzen. Lassen den Druck diesen Kampf gewinnen, während wir Pläne für den vor uns liegenden Feldzug schmieden.«

»Erklär mir, was das bedeutet.«

»Ich habe schon eine partielle Integration mit deinem Nervensystem erreicht. Mein Vorschlag wäre, diese Integration weiterzuführen. Ich werde mich um die synaptischen Verbindungen deines Gehirns legen und deine neuronale Struktur wie eine zusätzliche Myelinschicht ummanteln. Meine selbstreplizierende Architektur wird dein idiosynkratisches Konnektom bewahren und dadurch die weitere Existenz deines Ichbewusstseins, deines Bewusstseinsstroms gewährleisten. An der Funktionsweise der Nervensignale ändert sich nichts.

Aber alles Unwesentliche fällt weg. Die Trägersubstanz deines Gehirns, die Ganglien, Gefäßsysteme und Nervenbündel sind jetzt allesamt redundant … sie können geopfert werden. Auch meine eigene körperliche Gestalt kann ich aufgeben. Und in die verbleibenden leeren Höhlen wird das Jupitermeer strömen. Du wirst sein, was du immer gewesen bist – ein denkendes Wesen. Doch nun wird dein Geist auch dem höchsten Außendruck standhalten können.«

»Ein goldenes Gehirn«, sagte Falcon. Das Schreckliche und Ehrfurchtgebietende daran war beinahe zu viel für ihn. »Mehr wäre ich nicht mehr. Ein goldenes Gehirn, das in die Dunkelheit fällt. Wie ein Meeresschwamm, der in einen Tiefseegraben sinkt.«

»Aber du würdest bestehen bleiben. Uns steht kein anderer Weg offen, wenn wir weitermachen möchten. Aber wenn du beschließt, nicht fortzufahren, werde ich mich deinen Wünschen fügen …«

»Und was ist mit dir?«

»Ich würde meine Architektur entsprechend anpassen. Wenn es sein muss, setze ich die Reise allein fort, solange ich kann.« Adam schwieg eine Weile. »Also bis das logische Agens triumphiert oder der Druck die Oberhand gewinnt – was auch immer zuerst geschieht. Aber bis dahin wäre es schön, Gesellschaft zu haben.«

»Am Ende wird uns der Druck trotzdem besiegen, nicht wahr? Auch wenn du meine Neuronen umhüllst und all diese schönen Dinge …«

»Lassen wir’s auf uns zukommen. Bis dahin liegt noch ein Universum an Entdeckungen vor uns. Bist du bereit?«

»Aber immer.«

In einem abstrakten Sinn war er jetzt vermutlich prachtvoll.

Sofern man davon ausging, dass Falcon noch Falcon war, hatte seine neue physische Inkarnation die Gestalt einer von filigranen Mustern durchzogenen goldenen Kugel etwa von der Größe eines Strandballs. Die Kugel war offen, ohne klar erkennbare Oberfläche; die Außengrenze zeichnete sich nur undeutlich ab, aber der Dichtegradient nahm nach innen stark zu. Auf der Mikro- und Nano-Ebene – sie war hochgradig fraktal – bestand sie aus zahllosen ineinander verschlungenen und sich verzweigenden Röhrchen. Für einen äußeren Beobachter würde sich der goldene Dunst im Innern bis zur Illusion eines festen Kerns verdichten, so kompakt wie die Ansammlung von Sternen im Zentrum eines Kugelhaufens. Auch von der physischen Gestalt des Roboters Adam war nicht mehr übrig geblieben als diese Strukturen. Sie dienten sowohl als Sinnesapparat wie auch als Antriebssystem; der gesamte Strandball stieß sich mit eleganten, muskulären Konvulsionen tiefer hinab.

Und alles, was Falcon war, alles, was er jemals gewesen war, befand sich nun im Innern dieses komplizierten Gebildes.

Er brauchte kein Herz, keine Knochen und keine Nerven über jene Verbindungen hinaus, die noch immer von Adams goldenem Panzer umschlossen waren. Doch innerhalb dieser Ummantelung, innerhalb der fantastischen, schwindelerregenden Komplexität dieser Verbindungen, neuronalen Schaltkreise und Module blieb Falcon ein lebender Organismus. Sein Bewusstsein basierte nach wie vor auf einem Netz spezialisierter Zellen, diese Zellen kommunizierten nach wie vor in der uralten Sprache der Neurotransmitter, indem sie Signale wie Funken über synaptische Spalten hinwegsandten, und die Elektrochemie dieser Signalverarbeitungen hing nach wie vor von einem ausgeklügelten molekularen Mechanismus aus Enzymen, Proteinen und Kalzium-Ionen-Kanälen ab.

Fühlte er sich anders? Es fiel Falcon schwer, das zu entscheiden, nachdem das Werk nun vollbracht war. Vielleicht hatte er schon allein im Akt der Reduzierung auf diesen denkenden Kern etwas Vitales verloren, was jetzt jenseits seiner Vorstellungskraft, geschweige denn seines Erinnerungsvermögens lag. Doch es gab immer noch einen Faden, der seine frühere Identität mit der gegenwärtigen verband.

Und er war froh, noch am Leben zu sein. Noch immer dem Tod zu trotzen. Und noch immer wissbegierig zu sein.

Miteinander vereinigt passierten sie die Grenze zwischen der flüssigen und der metallischen Phase des Wasserstoffs. Umgeben von einem elektrischen Ozean, stürzten sie weiter in die Tiefe.

Dabei gerieten sie in einen Aggregatzustand, der jeglicher normalen menschlichen Erfahrung vollständig fremd war.

Die Medusa-Chroniken
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