Zwischenspiel: April 1967

Die Kamera hatte nach unten geschwenkt und eine weite Fläche voller klotziger weißer Gebäude erfasst, die sich wie auf einem Campus inmitten hübscher Rasenflächen und Straßenzüge verteilten. Sie zoomte näher heran und zeigte eckige Wagen und Männer mit Anzügen, dann verengte sich der Blick auf ein Gebäude, dann auf ein Fenster dieses Gebäudes. Und schließlich ging es mit einem schwindelerregenden Sturzflug durchs Glas in ein klimatisiertes Büro. Jede Menge Fotografien und Fahnen, Schränke und gerahmte Dokumente, ein Schreibtisch mit einem Kalender und einer Aktentasche …

»Das Apollo-Mondprogramm ist gestrichen«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Aber die gute Nachricht ist, dass ihr beiden alten Knaben die Chance bekommen werdet, die Welt zu retten.« George Lee Sheridan lächelte strahlend.

Die beiden Astronauten starrten den Mann, einen großen, anmaßenden, ungehobelten Südstaatler, einfach nur an. Seth Springer wusste lediglich, dass Sheridan ein Funktionär aus dem NASA-Hauptquartier in Washington, D. C., war, einem Monument der Bürokratie, von dem sich die Astronauten geflissentlich fernhielten. Jetzt saß er hier in Houston im Büro von Bob Gilruth, dem Leiter des Manned Spacecraft Center. Mit dieser verwirrenden, verblüffenden Nachricht.

Mo Berry beugte sich zu Seth hinüber. Mo war klein und ruhig, mit sparsamen Bewegungen; ein klassischer Testpilot. Jetzt murmelte er: »Hab ich’s dir nicht gesagt? Das Büro des Chefs am Sonntag – Banditenland, Tonto.«

Seth war nicht zum Lachen zumute. Er schaute aus dem Fenster auf einen tiefblauen Texashimmel über den grünen Rasenflächen und den klotzigen schwarz-weißen Gebäuden. Erst vor ein paar Stunden hatten Pat und er geplant, ihre beiden Jungs in den Wagen zu packen und auf dem Clear Lake segeln zu gehen, einer ihrer ersten Ausflüge in diesem Jahr. Und nun das.

Seth Springer hatte einen verdammt weiten Weg zurückgelegt, um sich einfach so mir nichts, dir nichts sagen lassen zu müssen, dass es mit seiner Chance auf den Mond vorbei war.

Seth war siebenunddreißig und hatte sein Leben der NASA verschrieben. Er stammte aus einer Militärfamilie, und seine erste Anlaufstelle war die Army gewesen, bei der er West Point absolviert hatte. Dann hatte ihn jedoch von wer weiß woher die Liebe zur Fliegerei befallen, und er war bald zur Air Force gewechselt. Er hatte in Frankreich gedient, wo er im Rahmen des Trainings für Kampfeinsätze im Kalten Krieg über grünen Flusstälern herumgekurvt war. Schließlich hatte jedoch sein Drang, sich hervorzutun, zur Versetzung an die Testpilotenschule der USAF auf der Edwards Air Force Base in der Mojave-Wüste geführt – nichts als Josuabäume, Klapperschlangen und Raketenflugzeuge.

Doch selbst das hatte ihm nicht gereicht, als die NASA anfing, Astronauten zu rekrutieren. Für den ersten Kader, der die Mercurys flog, war Seth noch zu jung gewesen, aber im Juni 1963 schaffte er es mit knapper Not in die dritte Rekrutierungsrunde der NASA.

Vor der Katastrophe des Apollo-Kabinenbrandes im Januar hatte Seth geglaubt, hier einen guten Platz gefunden zu haben. Er war Experte für Steuerungs- und Navigationssysteme geworden. Bei einem Gemini-Flug – dem von Mo Berry – hatte er zum Ersatzteam gehört und das klaglos akzeptiert. Mo war ein wenig älter als Seth, ein Navy-Mann, der in Korea gekämpft hatte und in einer früheren Rekrutierungsrunde der NASA aufgenommen worden war. Trotz seiner wenigen Dienstjahre stand Seths Name bereits in dem von Deke Slayton, dem Leiter des Astronaut Office, aufgestellten Crew-Rotationsplan, und wenn alles gut lief, würde er zumindest die Chance bekommen, bei einem der frühen Apollo-Test-und-Entwicklungsflüge eingesetzt zu werden. Falls es danach weiter voranging, war für ihn durchaus ein Platz bei einem der Mondflüge selbst drin. Dem hatte er seine berufliche Laufbahn, ach, zum Teufel, sein ganzes Leben gewidmet.

Und jetzt erklärte ihm dieser Wichtigtuer, dass es mit alldem vorbei war? Einfach so?

»Sir – Mr. Sheridan …«

»Ach, nennt mich George, so wie alle anderen. Wir werden einander in den nächsten sechzig Wochen oder so ziemlich gut kennenlernen.«

»Sechzig Wochen …?«

»Hören Sie, hat das irgendwas mit dem Brand zu tun?«, fragte Mo düster.

Alle waren düster, wenn sie von dem Brand sprachen. Der 27. Januar würde für immer ins kollektive Gedächtnis der NASA eingeätzt sein. Durch einen Kurzschluss hatte sich die sauerstoffreiche Atmosphäre im Innern eines Prototyps der Apollo-Kapsel entzündet, drei Astronauten getötet, das Mondprogramm selbst torpediert und jeden, der mit der NASA und ihren Vertragspartnern zu tun hatte, in einen fieberhaften Rettungsmodus umschalten lassen.

Aber Sheridan winkte ab. »Nein, mein Sohn, es liegt nicht an dem Brand. Aber es ist sicher auch nicht gerade hilfreich, dass uns das hier reingeflattert kam, noch bevor wir diesen Schlag ins Kontor so richtig verwunden haben.« Er klaubte eine Zigarre aus einer Kiste und begann mit dem komplizierten Ritual, sie auszuwickeln, anzuschneiden und anzuzünden. »Denn Apollo ist zwar eine große Sache, aber auch nicht annähernd so groß, wie es Icarus werden wird.«

In diesem Augenblick hörte Seth Springer den Namen, der sein ganzes restliches Leben prägen würde, zum ersten Mal.

»Icarus?«, fragte Mo. »Was ist das?«

Als Reaktion darauf holte Sheridan ein Exemplar der New York Post vom Vortag aus seiner Aktentasche. Auf der Titelseite prangte ein Standbild aus dem alten Film Der jüngste Tag und eine knallige Schlagzeile:

VERHÄNGNIS:

TÖDLICHER STEINBROCKEN AUS DEM WELTRAUM

Während die Astronauten das alles zu verdauen versuchten, wühlte Sheridan erneut in seiner Aktentasche und brachte ein Foto von einem Loch im Boden zum Vorschein. »Kennt ihr das?«

»Klar«, sagte Mo. »Der Meteor Crater in Arizona. Wir haben da drin trainiert – wie auch in ein paar anderen Kratern, darunter einigen, die von Atombomben stammen.«

»Wisst ihr, was das ist? Wie er erzeugt wurde?«

»Meteoriteneinschlag«, meinte Seth.

»Wie der Name schon sagt, Tonto«, erwiderte Mo trocken.

»Ihr wisst alles über Einschlagskrater, nicht wahr? Weil ihr in ein paar Jahren auf dem Mond in lauter solchen Dingern rumkriechen werdet. Was den Meteor Crater betrifft, so hat meinen Informationen zufolge ein Steinbrocken mit einem Durchmesser von ungefähr fünfundvierzig Metern ein fast anderthalb Kilometer großes Loch in die Welt gemacht. Ist allerdings schon lange her. Und jetzt schaut euch das hier an.«

Er zeigte ihnen ein Foto von einem Kuppelbau vor einem sternenklaren Himmel.

»Palomar«, sagte Seth sofort.

»Genau. Das weltberühmte Observatorium im San Diego County.« Sheridan zog ein Informationsschreiben aus seiner Aktentasche zurate. »Im Juni 1949 machte ein Astronom namens Walter Baade eine Entdeckung, ein Lichtstreifen auf einem Foto, das mit einer Schmidt-Kamera aufgenommen wurde, und fragt mich nicht, was das ist. Wie sich herausstellte, war der Streifen – die Masse, die sich während der Belichtungszeit durchs Blickfeld bewegte – ein neuer Asteroid. Und zwar nicht irgendeiner. Die meisten dieser Babys treiben gefahrlos draußen im Asteroidengürtel herum, der sich irgendwo jenseits des Mars befindet – habe ich recht? Der hier war nur rund sechs Millionen Kilometer von der Erde entfernt, als Baade ihn gesehen hat.« Er zeigte ihnen eine Grafik von der Bahn des Objekts, ein Diagramm, das die Astronauten sofort verstanden: eine Ellipse, die durch die Kreise der Planetenbahnen schnitt. »Und man hat ihn Icarus genannt.«

Mo beugte sich fasziniert vor. »Dieser Steinbrocken beschreibt also eine sehr exzentrische Umlaufbahn. Sein Aphel liegt draußen im Asteroidengürtel, und im Perihel kommt er dann näher an die Sonne heran als der Merkur.«

Sheridan musterte ihn. »Sein Ap-was?«

Seth grinste. »Weißer Mann spricht mit gespaltener Zunge. Der sonnenfernste und sonnennächste Punkt, Sir.«

Mo blickte auf. »Kein Wunder, dass sie ihn Icarus genannt haben, wenn er der Sonne so nahe kommt. Und kein Wunder, dass er sich auch der Erde nähert. Er schneidet unsere Umlaufbahn – das heißt, er täte es, wenn er sich auf derselben Ebene befände.«

»Richtig. Dieses Baby dreht seine Runde in etwas weniger als einem Jahr, und meistens ist die Erde dann ganz woanders. Aber alle neunzehn Jahre kommt es nah heran. Und aus irgendeinem Grund erfolgt die größte Annäherung immer im Monat Juni.«

»Neunzehn Jahre«, sagte Seth. »Nach 1949 also … Juni 1968. Das ist die nächste Begegnung. Nächstes Jahr.«

»Genau«, sagte Sheridan. »Aber noch einmal, Icarus sollte eigentlich immer einen Abstand von mindestens sechs Millionen Kilometer einhalten.«

Seth runzelte die Stirn. »Er sollte eigentlich …?«

Sheridan nickte. »Was ich euch gleich erzähle, unterliegt der Geheimhaltung. Im Krieg habe ich bei RCA gearbeitet, der Radio Corporation of America. Ehrliche Kriegsarbeit. Nach dem Krieg bin ich dort geblieben, als sie das spätere BMEWS entwickelt haben …«

»Das Ballistic Missile Early Warning System. Ein Frühwarnsystem für die Raketenabwehr.«

»Sehr starkes Radar. Die NASA hat mit der Air Force bereits an noch stärkeren Systemen gearbeitet. Die Anwendungsmöglichkeiten für die Raumforschung liegen auf der Hand. Man könnte bemannte und unbemannte Raumfahrzeuge verfolgen …«

»Unsere oder ihre«, sagte Mo ruhig.

Sheridan sah ihn unverwandt an. »Am besten, man verzichtet auf Spekulationen, Flieger. Jedenfalls, vor ein paar Wochen haben wir beschlossen, uns auf die Suche nach Icarus zu machen, als Test. Er ist ein hübsches großes Ziel, wir kennen seine Bahn, und obwohl er momentan noch höllisch weit weg ist, dachten wir uns, wir sollten ein Echo von ihm kriegen.«

»Aber es gab keins«, riet Seth.

»Nein, es gab keins. Hat eine ganze Weile gedauert, bis wir das verdammte Ding gefunden hatten, und als wir es dann ein wenig verfolgten, um seine neue Bahn zu bestimmen …«

»Wie zum Teufel kann ein Asteroid seinen Kurs gewechselt haben?«, wollte Mo wissen.

Sheridan zuckte die Achseln. »Da kann ich auch nur raten. Vielleicht hat Icarus im Asteroidengürtel selbst einen Treffer abgekriegt. Wie eine Kugel beim Billard.«

Seth ging mit einem Mal ein Licht auf. »Er wird einschlagen, oder?«

Mo schaute schockiert drein. »Scheiße am Tannenbaum, Tonto.«

»Deshalb reden wir darüber. Diesmal wird er die Erde nicht um sechs Millionen Kilometer verfehlen. Er wird einschlagen – mein Gott, nächstes Jahr im Juni?« Dieser Monat hatte eine besondere Bedeutung für ihn, und er brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden. In diesem Monat würde Joseph, sein älterer Sohn, das erste Schuljahr beenden …

»Das sind Ihre sechzig Wochen«, sagte Mo grimmig.

»Sie haben’s erfasst«, sagte Sheridan.

»Und wenn dieses Ding wirklich einschlägt …«

»Erinnern Sie sich an den Meteor Crater? Erzeugt von einem Steinbrocken mit einem Durchmesser von fünfundvierzig Metern? Icarus hat einen Durchmesser von mehr als anderthalb Kilometern. Der wahrscheinlichste Einschlagspunkt liegt mitten im Atlantik, östlich der Bermudas …«

In seiner Aktentasche des Schreckens hatte Sheridan auch einige vorläufige Folgenabschätzungen. Seth war entsetzt. Der Steinbrocken würde zwanzig bis dreißig Mal so viel Energie freisetzen wie ein totaler Atomkrieg und einen Krater mit einem Durchmesser von vielleicht vierundzwanzig Kilometern in den Meeresboden schlagen. Über hundert Meter hohe Flutwellen würden die Karibik, Florida und die Atlantikküsten von Amerika wie auch Europa überspülen. Und etwa hundert Millionen Tonnen Felsgestein würden verdampft und in die Atmosphäre geschleudert werden und eine das Sonnenlicht filternde Staubschicht in der Luft bilden, die womöglich jahrelang bestehen bleiben und einen tödlichen Winter hervorrufen würde.

Sheridan beobachtete sie, um ihre Reaktionen abzuschätzen. »Mir scheint, ihr beiden kapiert das erheblich schneller als ich. Hat einige Überzeugungsarbeit gekostet, bis ich akzeptiert habe, dass es nicht bloß ein Sturm im Wasserglas ist.«

Mo schüttelte den Kopf. »Wir müssen dieses Biest stoppen, Sir.«

»Richtig«, sagte Sheridan. »Also, erklärt mir, wie wir das machen.«

»Wir?«

»Ihr. Ich sage euch mal, was in den paar Tagen passiert ist, seit wir das rausgefunden haben. Wir haben es über die NASA-Hierarchie nach oben weitergeleitet, zum wissenschaftlichen Berater des Präsidenten. Und der ist damit zum Präsidenten gegangen.«

»Und der Präsident …?«, setzte Mo nach.

»LBJ hat Jim Webb gebeten«, den NASA-Direktor, »ihm Vorschläge zu unterbreiten, wie die NASA darauf reagieren könnte. Deshalb hat Jim mich gebeten, die Sache zu übernehmen, und jetzt …«

Mo warf Seth einen Blick zu. »Und jetzt bittet er uns, Tonto.«

»Morgen Mittag wird sich der Präsident von der Pressestelle hier in Houston aus an die Nation wenden. Warum von hier aus? Weil LBJ der Welt erzählen wird, wie die Raumfahrtagentur, für deren Gründung er so viel getan hat, dieser Gefahr aus dem Weltraum entgegentreten wird. Und da ich mit diesem heißen Eisen betraut worden bin, habe ich schon alle möglichen Leute drangesetzt, von College-Kids vom MIT bis zu den Mercury Seven. Aber momentan muss ich mich auf euch beide stützen, und ich habe euch ausgesucht, weil Deke Slayton mir erklärt hat, ihr wärt die Besten der Besten …«

Oder eher, dachte Seth verdrießlich, weil an diesem Sonntagmorgen sonst niemand da war.

»Also, raus mit der Sprache. Wie können wir mithilfe der Apollo-Saturn-Technologie einen Asteroiden ablenken?«

Mo stand auf und marschierte hin und her. »Wir sind eine Atommacht«, sagte er schlicht. »Wir greifen ihn mit Atombomben an.«

»Aber wie sprengt man einen Asteroiden?«, überlegte Seth. »Theoretisch würde man wohl eine Bombe nehmen, die stark genug ist, um einen Krater von der Größe des Steinbrockens zu erzeugen – in diesem Fall also anderthalb Kilometer. Das ist etwa zehnmal so tief wie der Meteor Crater.« Er stand auf, ging über Bob Gilruths dicken Florteppich zu einer Wandtafel, wischte etwas ab, was wie Notizen zum Apollo-Brand aussah, und begann zu kritzeln. »Soweit ich mich entsinne, ist der Meteor Crater um die hundertfünfzig Meter tief. Mr. Sheridan, haben Sie das Megatonnen-Äquivalent des Einschlags, der ihn erzeugt hat?«

Sheridan schaute in seinen Papieren nach. »Zehn Megatonnen.«

»Okay.« Seth kritzelte Zahlen hin. »Wir werden also erheblich mehr brauchen. Irgendjemand in der Waffenindustrie muss doch schon mal das Verhältnis von Energieaufwand und Kratertiefe untersucht haben …«

Mo nickte. »Für zehn Megatonnen kriegt man also ein Hundertfünfzig-Meter-Loch. Scheiße. Schon bei einer schlichten linearen Skalierung bräuchten wir hundert Megatonnen: zehnfache Tiefe, zehnfache Kraft. Bei einer umgekehrt proportionalen quadratischen Skalierung bräuchten wir … ähm …« Und schon hatte Mo seinen Rechenschieber zur Hand, ohne den er nie unterwegs war. »Eine Gigatonne. Und bei einer umgekehrt proportionalen kubischen Skalierung …«

Seth sah Sheridan offen an. »Ich glaube, wir brauchen eine Regel, Sir. Keine Geheimnisse zwischen uns.«

»Sprechen Sie weiter«, sagte Sheridan vorsichtig.

»Gut möglich, dass eine einzelne Hundert-Megatonnen-Bombe nicht reichen würde. Also, ich bin in der Air Force. Ich weiß, wir haben Fünfzig-Megatonnen-Atombomben im Arsenal, oder zumindest in der Entwicklung …«

»Ich könnte euch Hundert-Megs besorgen.« Sheridan seufzte. »Es gibt Programme, die sich beschleunigen ließen.«

»Aber keine Gigatonnen«, sagte Mo.

»Wir werden mehr als eine Bombe haben. Aber ihr seid die Raumfahrer – wenn ihr eine Gigatonne braucht, warum schicken wir dann nicht zehn solche Dinger zu einem Rendezvous bei dem Asteroiden rauf, so wie ihr eure Gemini-Raumschiffe im All miteinander gekoppelt habt? Und zünden sie alle gleichzeitig.«

Seth war skeptisch. »Das Timing wäre entscheidend – wenn eine Atombombe auch nur eine Mikrosekunde zu früh hochgeht, würde sie ihre Schwestern zerstören, bevor sie ebenfalls Gelegenheit hätten zu detonieren.«

»Es ist nicht nur das.« Mos Stimme klang zerstreut, der Rechenschieber in seinen Händen war ein verschwommener Fleck. »Zunächst mal könnten wir die Bomben gar nicht zu dem Steinbrocken bringen. Nicht, wenn wir dort abbremsen und sie aussetzen sollen. Unsere einzige Rakete, die eine tonnenschwere Bombe durch den interplanetarischen Weltraum befördern könnte, ist die Saturn V.«

»Die allerdings noch keinen einzigen Flug absolviert hat«, betonte Seth.

»Stimmt«, sagte Mo. »Und selbst wenn wir eine Saturn V mit nur einer einzigen Bombe hätten, könnten wir nicht abbremsen. Wir bekämen höchstens einen Vorbeiflug hin – ein schnelles Abfangmanöver.«

Sheridan rieb sich das Kinn. »Tja, das könnte trotzdem klappen, wenn man das Ding mit zehn Atombomben zugleich trifft und zehn Saturn V losschickt. Oder nicht?«

»Wir haben keine zehn Startrampen …«, wandte Seth ein.

»Wir könnten noch welche bauen. Geld wird kein Hindernis sein, glauben Sie mir.«

»Wir haben auch keine zehn Saturns. Ich glaube, bis Juni ’68, wenn dieses Ding einschlägt, werden wir nur … wie viele, fünf oder sechs? … gebaut haben.«

»Wir können weitere Saturn-Raketen bauen …«

»Es wird nicht klappen«, beharrte Mo. »Ein Hochgeschwindigkeits-Vorbeiflug in Formation, simultane Detonationen – es ist einfach zu kompliziert, verdammt noch mal. Selbst wenn wir die Saturns und die Rampen bauen. Wir können sie bestenfalls nacheinander losschicken, alle paar Tage, sodass sie an dem Steinbrocken vorbeisegeln und ihre Atombomben eine nach der anderen zünden.«

»Und was bringt das?«, fauchte Sheridan. »Sie haben doch gerade gesagt, ein Hundert-Megatonnen-Sprengkopf wäre zu klein, um das Ding zu zerstören.«

»Dann zerstören wir’s eben nicht.« Mo sah Seth an. »Wir lenken es ab.«

»Es ablenken?«

»Überleg doch mal. Wir zünden die Bombe im Augenblick der größten Annäherung, unmittelbar über der Oberfläche.«

Seth starrte ihn an. »Mein Gott. Ja. Aber wie viel Delta-V brächte das?«

»Kommt drauf an, wie weit draußen wir dieses Ding treffen können …«

Sie kritzelten zehn Minuten lang Berechnungen an die Tafel. Seth nahm undeutlich wahr, dass Sheridan sich zurücklehnte und wohlweislich den Mund hielt.

Schließlich drehten sie sich zu ihm um. »Okay«, sagte Mo mit schwerer Stimme. »Wahrscheinlich wird irgend so ein Superhirn vom MIT das alles im Nachhinein anzweifeln, aber wir denken, dass wir’s schaffen können. Wie viel Druck eine Atombombe ausüben kann, hängt davon ab, wie nah man an den Steinbrocken rankommt, wie die Oberfläche beschaffen ist und so weiter.«

»Außerdem«, sagte Seth, »je weiter der Steinbrocken zum Zeitpunkt der Einschläge noch von der Erde entfernt ist, desto besser, weil die Ablenkung dann umso geringer sein kann, um ihn beiseite zu schubsen. Die Systeme in Apollo-Saturn haben ein Limit von sechzig Tagen; das heißt, wir können Icarus ohnehin erst erreichen, wenn er auf zweiunddreißig Millionen Kilometer herangekommen ist …«

Sheridan schnitt ihm das Wort ab. »Wie viele Detonationen braucht ihr?«, blaffte er.

Mo und Seth wechselten einen Blick. Dann sagte Mo: »Vielleicht würde eine schon reichen. Eine Hundert-Meg. Möglicherweise. Aber vielleicht auch nicht, und außerdem könnte eine einzelne Atombombe versagen. Wir sollten eine ganze Serie von den Dingern raufschicken …«

»Und wir bräuchten irgendwelche Überwachungssonden, um die Ablenkung zu messen …«

Sheridan klappte seine Aktentasche zu. »Ich habe genug gehört. Verdammt noch mal, meine Herren, ob ihr nun die Welt gerettet habt oder nicht, mir habt ihr auf jeden Fall den Arsch gerettet. Ich rufe den Präsidenten an.«

Er eilte geschäftig hinaus, mitsamt seiner Aktentasche.

Mo sah Seth an. »Tja, Tonto, jetzt haben wir den Salat.«

»Und wenn wir uns irren?« Seth warf einen Blick auf die Tafel. »Wenn wir Mist gebaut haben …«

»Das wäre wirklich schlimmer als der Weltuntergang. Aber hey, ziemlich bald wäre alles vorbei.« Er grinste. »Iss, trink und sei fröhlich, Tonto.«

Seth war jedoch nicht zum Scherzen zumute. Mo war Junggeselle. Er selbst sah auf einmal nur noch die Gesichter seiner kleinen Jungen vor sich.

»Trotz aller Anstrengungen, die ich und andere beim Aufbau der NASA und ihrer diversen Einrichtungen unternommen haben, ist Amerika jedoch nicht die einzige Weltraummacht der Welt. Vielleicht schaffen wir es allein, aber mit einem Partner an der Seite ist jeder stärker. Deshalb rufe ich unsere sowjetischen Kollegen auf, sich vertrauensvoll und freundschaftlich mit uns an einen Tisch zu setzen, damit unser beider Experten in einem gemeinsamen Projekt unter der Leitung von Senator Kennedy herausfinden können, wie sich unsere Ressourcen am besten bündeln lassen, um dieses gewaltige Ziel zu erreichen …«

Vierundzwanzig Stunden nach einem Sonntag, den Seth Springer eigentlich auf einem Segelboot hatte verbringen wollen, war er nun hier, keine paar Meter von Lyndon Baines Johnson persönlich an seinem Präsidentenpult entfernt. Der New Yorker Senator Robert Kennedy stand an Johnsons Seite, mit NASA-Chef Webb, George Lee Sheridan und zwei herumblödelnden Astronauten dahinter.

Mo grinste und flüsterte: »LBJ, LBJ, how many kids did you save today?«

Seth brachte ihn zum Schweigen. »Aber diese Fernsehscheinwerfer. Johnson sieht nicht mal so aus, als würde er schwitzen.«

»Liegt bloß am Make-up«, sagte Sheridan leise. »Glaubt mir, er schwitzt innerlich. Er will nicht der Präsident sein, der es nicht geschafft hat, den Weltuntergang zu verhindern. Andererseits tritt er ’68 nicht wieder an. Und wer ist sein wahrscheinlichster Nachfolger für die Nominierung bei den Demokraten?«

»Bobby Kennedy«, hauchte Mo. »Den LBJ auf den Tod nicht ausstehen kann. Und den er gerade zu seinem Icarus-Sonderbeauftragten ernannt hat.«

»LBJ! Was für ein Typ! Auf einen Streich beansprucht er die Lorbeeren für die Gründung der NASA, die jetzt die Welt retten wird, entschärft den Kalten Krieg, indem er die Russen zum Mitmachen einlädt, und sorgt auch gleich noch dafür, dass sein aussichtsreichster Nachfolger für die Präsidentschaft das nächste Jahr damit verbringen wird, auf Raketengleichungen zu starren, statt eine Kampagne zu führen.«

Mittlerweile hatte der Präsident seine Rede beendet und sah sich nun mit einem wilden Durcheinander von Fragen aus dem Publikum konfrontiert.

Sheridan legte den Astronauten seine schweren Arme um die Schultern. »Also, das wär’s. Jetzt lasst uns von hier verschwinden und Deke Slayton aufstöbern. Ich habe einen weiteren Auftrag für euch beide …«

Die Medusa-Chroniken
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