90
Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, gab Straw Gas, drehte das Steuer herum und fuhr in den Sturm hinaus. »Festhalten«, sagte er.
Sobald sie die Lee von Devil’s Limb verloren, wurde das Boot vom Brüllen brechender Wellen umtost, Regenfahnen klatschten an die Fenster, Gischt flog durch die Luft. Die Wellen türmten sich auf, heftige Windwellen ritten auf größeren Wellen, die wiederum auf einer tiefen, furchterregenden Dünung liefen, deren Wogen in gleichmäßigem Rhythmus dahinmarschierten. Ihre brechenden Kämme wurden vom Sturm zurückgepeitscht, der inzwischen Orkanstärke hatte.
Der Wind hatte gedreht und kam nun von Osten, so dass sie die Wellen nun achtern Backbord trafen und das Boot vorwärts- und seitwärtsschoben. Ihr Vater kämpfte gegen die Schraubbewegung, indem er geschickt Gas gab und wegnahm. Jeder Wellenkamm stieg unter dem Boot empor, zog den Bug nach vorn, immer steiler, während ihr Vater volle Fahrt gab, damit das brechende Wasser das Heck nicht hinunterdrückte. Sobald die Welle unter ihnen durch war, kippte das Boot wieder hoch, der Bug erhob sich in die Luft und sank dann dem Trog der nächsten Welle entgegen. In der Lee des Wellentals wurde es dann einen Augenblick lang unheimlich still, und dann hob die nächste Woge sie in den Sturm empor. Mit ihrem Vater, dem erfahrenen Seemann, am Steuer schien das Boot einen guten Rhythmus zu finden, dessen Berechenbarkeit beruhigend wirkte. Abbey beobachtete genau ihr Fortkommen über die Bucht, und endlich, als sie den geschützten Kanal vor Muscle Ridge erreichten, ließ der Seegang dramatisch nach.
»Abbey«, ordnete ihr Vater an, »sieh nach dem vorderen Kielraum. Ich sehe hier, dass die Lenzpumpen fast ununterbrochen laufen.«
»Klar.«
Sie kletterte die Treppe in die Kajüte hinunter, öffnete die Luke und spähte mit einer Taschenlampe hinein. Sie sah Wasser herumschwappen. Sie schob die Taschenlampe tiefer hinein und bemerkte, dass das Wasser schon weit über dem Schalter stand, der automatisch die Lenzpumpen in Gang setzte.
Sie beugte sich noch weiter vor, richtete den Lichtstrahl ins schmutzige Wasser und streckte dann die Hand hinein, um den gebogenen Rumpf von innen abzutasten. Ihre Finger stießen auf einen Riss, und sie spürte, wie das Wasser hereinströmte. Der Riss war nicht breit, aber lang, und schlimmer noch, die schraubende Bewegung des Bootes bewegte die beiden Randstücke gegeneinander, so dass der Riss sich langsam, aber sicher weiter öffnete. Obwohl die Pumpe ununterbrochen lief, stieg das Bilgewasser an.
Sie kletterte wieder hoch. »Das Wasser dringt schneller ein, als die Pumpe es rausschaffen kann«, sagte sie.
»Bilde mit Jackie eine Eimerkette.«
Abbey holte einen Plastikeimer unter der Spüle hervor. Jackie bezog Position an der Kabinentür, während Abbey den Eimer in die Bilge tauchte und Jackie reichte. Die kippte das Wasser über Bord. Das war eine anstrengende Arbeit auf sehr beengtem Raum. Das Bilgewasser enthielt Motoröl und Diesel, und bald waren sie beide verschmiert und stanken danach. Doch sie kamen offenbar über den Berg: Langsam, aber sicher sank der Wasserspiegel. Bald war der lange Riss zu sehen.
»Bring mir dieses wasserfeste Spezialklebeband«, sagte Abbey.
Jackie reichte ihr die Rolle, und sie riss einen Streifen ab. Abbey schob sich tief in die schaukelnde Bilge, die nach Diesel und Öl stank, und wischte den Kunststoff mit einem Lappen sauber. Dann verklebte sie das Leck, horizontal und vertikal, in mehreren Schichten übereinander und drückte das Band kräftig an. Es schien zu halten. Die Lenzpumpe, die immer noch auf Hochtouren lief, wurde jetzt allein mit dem Wasser fertig, ohne die Unterstützung durch ihre Eimerkette.
Jackie rief zu ihr hinein: »Abbey, dein Vater will dich an Deck haben. Wir erreichen die Kabbelung.«
Abbey kletterte die steile Treppe hoch zur Steuerkabine. Sie hatten den Kanal hinter sich gelassen, und die Wellen türmten sich wieder auf. Voraus konnte Abbey ein Feld weißer Schaumkronen sehen, wo die Kabbelung begann, der Ripp Island seinen Namen verdankte. Das war eine klassische Kreuzsee, denn die Wellen liefen hier der vorherrschenden Richtung von Wind und Strömung entgegen, wodurch gewaltige stehende Wellen, Strudel und brutale Kabbelung entstanden.
»Festhalten«, sagte ihr Vater und gab Gas. Als das Boot auf die Gegenströmung traf, wurde es langsamer, und George Straw gab mehr Gas, um gegenzuhalten. Die Wellen schoben das Heck voran, und die Strömung wollte die Marea II um den Bug drehen. Das Boot bekam einen heftigen, unvorhersehbaren Schubs, den ihr Vater auszugleichen versuchte, indem er das Steuer hin- und herriss. Kraftvolle kleine Wellen preschten über den Bug hinweg und schossen über das Deck, während schwere Wogen gegen das Heck drückten und Wasser durch die Speigatten hereinpressten. Das Boot bebte unter den starken Verwindungskräften, denn das donnernde Wasser hämmerte aus zwei verschiedenen Richtungen gegen den Rumpf.
Stumm stand ihr Vater am Steuer. Die Beleuchtung der Instrumente tauchte sein angespanntes Gesicht in gespenstisches grünes Licht, seine muskulösen Arme arbeiteten am Steuer. Es war ein aussichtsloser Kampf. Das Wasser, das ins Heck einbrach, konnte nicht durch die Speigatten ablaufen, und mit jeder Welle, die über das Deck hereinbrach, schwappte mehr Wasser ins Cockpit.
»Du meine Güte, ich glaube, wir laufen voll«, sagte Jackie und wollte mit einem Eimer zum Heck laufen.
»Bleib hier!«, rief Straw. »Du wirst von Bord gespült!«
Der Motor dröhnte und rang mit dem zusätzlichen Gewicht, das Boot bebte und plagte sich in den Wellen. Abbey konnte das Knarren und Schrammen des gerissenen Rumpfs hören. Es klang nicht gut.
Sie stieg hinunter in die Kabine.
Sie öffnete die Luke und sah, dass der Riss sich wieder geöffnet hatte, noch größer als vorher. Wasser schoss herein. Sie schnappte sich das Klebeband und schälte einen Streifen ab, den sie über den Riss zu kleben versuchte, aber der lag wieder unter Wasser, und der erste Flicken war abgerissen. Der Druck des einströmenden Wassers machte es unmöglich, den Sprung abzudichten.
»Die Eimerkette, los!«, rief ihr Vater.
»Es fließt zu schnell nach!«
»Dann schafft die Bugpumpe achtern! Jackie, mach schon!«
Jackie schob sich durch die vordere Luke und kam gleich darauf mit der Bilgepumpe, einer Rolle Schlauch und ein paar Drähten wieder hervor.
»Schlauch und Drähte durchschneiden«, wies Straw an. »Verdrahtet sie direkt mit einer Batterie und schließt sie an, und den Schlauch schiebt ihr durch ein Bullauge.«
»Verstanden.«
Das Boot ächzte und stöhnte in den Wellen, während sie arbeiteten wie verrückt. Fünf Minuten später waren sie fertig und schoben den Abflussschlauch durch ein Bullauge nach draußen.
Die Pumpen brummten. Das Wasser im Kielraum hörte zu steigen auf und sank dann sogar.
»Es funktioniert!«, schrie Jackie und klatschte Abbey ab.
In diesem Moment krachte eine riesige Welle donnernd gegen den Rumpf, und Abbey hörte ein scharfes Kracks! Plötzlich sprudelte das Wasser nur so in den Kielraum, Luftbläschen blubberten darin auf.
»O Gott.«
Abbey sah entsetzt zu, wie das Wasser hereinschoss und hochwirbelte. Binnen Sekunden lief es aus der Luke und flutete die Kabine.
»Schließ die Luke!«, kreischte Jackie.
Abbey knallte die Luke zu und zerrte die Hebel herum, während das Wasser an den Rändern hervorquoll, und gleich darauf war sie dicht. Aber das half nicht lange. Die Schotten, durch die Kabel und Schläuche liefen, waren nicht wasserdicht, und Abbey konnte das Wasser im Motorraum gurgeln hören.
»An Deck!«, brüllte ihr Vater.
Sie krabbelten die Leiter hinauf.
»Dad!« Sie richtete sich auf. »Wir sinken …«
»Rettungswesten anlegen. Sofort. Sobald das Wasser über die vorderen Schotten steigt, sind wir erledigt.«
Er versuchte, so viel Schwung wie möglich aufzunehmen, und drückte den Gashebel bis aufs Armaturenbrett. Das Boot röhrte an Ripp Island vorbei, und Abbey erhaschte einen Blick auf die Lichter im Haus des Admirals, die trübe durch dichte Regenschleier schimmerten. Selbst mit der höchsten Drehzahl wurde das Boot rasch langsamer und bekam Schlagseite. Der Motor kämpfte und brüllte.
»Wir sinken!«, schrie Abbey.
Eine Welle brach über die Seite, kippte das Boot halb um, und es blieb schief im Wasser liegen. Es schleppte sich mühsam voran, das hereinströmende Wasser war zu schwer für den Motor. Abbey blickte auf die schäumenden Fluten vor ihnen, die Strömung, die gewaltige Brandung, die sich am felsigen Ufer brach – wenn das Schiff sank, würden sie das nicht überleben.
Ihr Vater riss das Steuer herum und nahm direkten Kurs auf die Felsen von Ripp Island. Jetzt droschen die Wellen seitlich auf das Boot ein, Wasser schwappte über die Schandecks. Ein Funkenschauer lief bogenförmig über das Motorpanel. Mit einem lauten Pop erlosch sämtliche Elektronik, und der Gestank von angesengter Isolierung erfüllte die Steuerkabine. Gleichzeitig hustete der Motor, zuckte ein letztes Mal und starb. Dampf schoss aus dem Motorraum und brachte den Geruch von Öl und Diesel mit sich. Das Boot glitt durchs Wasser, mehr von der Strömung als vom eigenen Schwung getragen, und die Wellen brachen hoch über die Seiten. Es blitzte, und Donner grollte laut.
Das Boot schwenkte auf die hämmernde Brandung zu, von den Wellen auf die weiße Linie aus Gischt zugetragen.
»Ihr zwei, an den Bug und bereit zum Abspringen!«, befahl ihr Vater.
Das Boot, das nun manövrierunfähig im Wasser hing, schwappte am letzten Ausläufer der Kabbelung vorbei, der nächste sich aufbäumende Brecher erwischte es am Heck und trug es auf den Mahlstrom zu.
»Los!«
Abbey und Jackie klammerten sich an den Haltegriffen und der Reling fest und schwankten zum Bug. Vor ihnen brüllte die Brandung wie hundert Löwen, eine gewaltige, strudelnde Masse, aus der riesige Gischtfontänen drei, vier, fünf Meter in die Höhe schossen. Ihr Vater blieb am Steuer stehen und versuchte, das Boot halbwegs in Linie zu halten.
»Ich kann das nicht«, sagte Jackie mit starrem Blick nach vorn.
»Wir haben keine Wahl.«
Eine weitere gewaltige Welle brach, erfasste das Heck und trug das Boot vorwärts, vorwärts; als der Wellenkamm auf sie herabdonnerte, wurde das Boot in die schäumende Brandung geschleudert. Ein schreckliches, knirschendes Krachen, beinahe wie eine Explosion, erschütterte alles, als sie gegen die Felsen prallten. Doch das Deck hielt, und die nächste Welle hob das Boot an und trug es über die schlimmste Brandung hinaus. Es stürzte mit einem weiteren furchtbaren Krachen auf die Felsen, der Kiel brach, und das Deck hing plötzlich schief.
»Jetzt!«, brüllte ihr Vater.
Beide sprangen ins wirbelnde Wasser und suchten Halt. Eine Welle schwappte über die Marea II hinweg, doch das Boot fing die meiste Wucht ab, so dass ihnen gerade genug Zeit blieb, sich aufzurichten.
»Dad!«, kreischte Abbey. Es war stockdunkel, und sie konnte nichts sehen außer dem vagen grauen Umriss des Bootes. »Dad!«
»Hier rauf!«, schrie Jackie.
Abbey krabbelte aufwärts, halb schwimmend, halb rutschend nach oben getragen, und gleich darauf hatte sie es auf einen schräg aus dem Wasser ragenden Felsen geschafft. Sie sah eine Gestalt im Wasser, einen hellen Arm, und ihr Vater kam unter dem Brecher zum Vorschein, einen Arm um einen Felsen geschlungen.
»Dad!« Abbey rutschte zu ihm hinunter, packte ihn am Arm und half ihm, sich hochzuziehen. Sie brachten sich über die Felsen in Sicherheit und erreichten keuchend eine kleine Wiese dahinter. Einen Augenblick lang sahen sie in stummem Entsetzen zu, wie die Marea II hoch auf die Felsen gehoben und praktisch in zwei Hälften gespalten wurde. Die beiden Trümmerteile wurden wieder in die Brandung hinausgezogen, sie kreiselten und schaukelten auf dem brodelnden Wasser, Kissen und aller mögliche Müll tanzte auf den Wellen. Abbey sah ihrem Vater ins Gesicht. Es war seinem untergehenden Boot zugewandt, doch der Ausdruck war nicht zu deuten.
Er wandte sich ab. »Sind alle heil geblieben?«
Sie nickten. Es war ein Wunder, dass sie alle drei überlebt hatten.
»Und jetzt?«, fragte Jackie und wrang sich das Haar aus.
Abbey blickte sich um. Die mit Schindeln verkleidete Villa ragte über den Bäumen auf, die Fenster im oberen Stock hell erleuchtet. Über die Wiese hinweg, hinter ein paar Bäumen, konnte sie den Steg in der Bucht der Insel erkennen. In einer geschützten Ecke lag eine große weiße Yacht vor Anker.
Jackie folgte ihrem Blick. »O nein«, sagte sie. »Auf gar keinen Fall.«
»Wir müssen es tun«, sagte Abbey. »Wir müssen es zumindest versuchen. Diese außerirdische Maschine will offenbar unsere Aufmerksamkeit erregen, sie will von uns hören, und Gott allein weiß, was sie tun wird, wenn von uns nichts kommt.«
Ihr Vater stand auf. »Also schön. Wir kapern die Yacht.«
Sie erhoben sich und gingen über die Wiese zur Bucht. Der Wind peitschte die Baumwipfel herum, und das Haus stand schmal und hoch im verwehten Regen. Sie gingen zum Ende des Stegs. Ein Beiboot war auf den Schwimmsteg gezogen. Sie ließen es wieder zu Wasser und kletterten hinein. Ihr Vater nahm die Ruder und pullte, legte sein ganzes Gewicht in jeden Zug. Das Boot glitt über die kabbelige Bucht, und rasch hatten sie die Schwimmplattform erreicht. Er sprang heraus, hielt das Boot fest und hievte die beiden anderen hoch. Die Steuerkabine war nicht abgeschlossen.
Der Schlüssel steckte nicht im Zündschloss. Sie suchten danach, und Jackie griff nach einem Segeltuchbeutel und kippte ihn auf dem Kartentisch aus. Geld, kleine Werkzeuge, ein Flachmann und ein Schlüsselbund kullerten heraus.
»Sieh mal einer an«, sagte Jackie grinsend.
Abbeys Vater übernahm das Steuer, strich mit der Hand über das Motorpanel und legte alle Schalter um. Er überprüfte den Treibstoff- und Ölstand, steckte die Schlüssel in die Zündschlösser und ließ nacheinander die Motoren an.
Sie reagierten mit einem tiefen, kehligen Grollen.
Abbey sah Licht am Steg aufflackern. Hundert Meter entfernt rannten Leute den Steg entlang, brüllten und gestikulierten. Die Flutlichtanlage wurde eingeschaltet, und der kleine Hafen war auf einmal taghell. Ein Schuss krachte.
»Ablegen!«, schrie Straw.