1

April

Jetzt kam es darauf an, durch die Hintertür nach drinnen und mit dem Karton die Treppe hinaufzukommen, und zwar lautlos. Das Haus war zweihundert Jahre alt, und man konnte kaum einen Schritt tun, ohne dass es irgendwo knarrte und quietschte. Abbey Straw zog leise die Tür hinter sich zu und schlich über den Teppich im Flur zum Fuß der Treppe. Sie konnte ihren Vater in der Küche herumwerkeln hören, und im Radio lief leise der Kommentar eines Red-Sox-Spiels.

Sie drückte den Karton mit beiden Armen an sich, stellte den Fuß auf die erste Stufe, verlagerte langsam das Gewicht darauf, dann auf die nächste, und die nächste. Die vierte Stufe ließ sie aus – die kreischte wie eine alte Hexe – und rückte zur fünften, der sechsten, der siebten vor … Und als sie schon dachte, sie hätte es geschafft, gab die Stufe einen Knall von sich, so laut wie ein Schuss, gefolgt von einem langgezogenen Todesstöhnen.

Verdammt.

»Abbey, was ist in der Kiste?«

Ihr Vater stand in der Küchentür, noch in den orangefarbenen Gummistiefeln, und sein kariertes Hemd war fleckig von Dieselöl und Hummerköder. Seine von Wind und Sonne verbrannte Stirn runzelte sich argwöhnisch.

»Ein Teleskop.«

»Ein Teleskop? Was hat es gekostet?«

»Ich habe es von meinem eigenen Geld gekauft.«

»Schön«, sagte er, und seine rauhe Stimme klang gereizt, »wenn du das College nie wiedersehen und für den Rest deines Lebens Kellnerin bleiben willst, gib dein ganzes Geld für Teleskope aus.«

»Vielleicht will ich ja Astronomin werden.«

»Weißt du, wie viel ich für dein Studium bezahlt habe?«

Sie wandte sich ab und ging weiter die Treppe hinauf. »Du erwähnst es ja nur fünfmal am Tag.«

»Wann nimmst du endlich Vernunft an?«

Sie knallte die Tür zu und blieb einen Moment lang keuchend in ihrem kleinen Zimmer stehen. Mit einem Arm schob sie die Stofftiere von der Tagesdecke und legte den Karton aufs Bett. Dann ließ sie sich daneben fallen. Warum war sie ausgerechnet von weißen Leuten in Maine adoptiert worden, dem weißesten Staat in ganz Amerika, und in einem Ort, wo jeder weiß war? Hatte denn nicht irgendwo ein schwarzer Hedgefonds-Manager ein Adoptivkind gesucht? »Und wo kommst du her?«, fragten die Leute immer, als wäre sie erst kürzlich aus Harlem angereist – oder aus Kenia.

Sie drehte sich auf dem Bett herum und betrachtete den Karton. Dann fischte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte. »Jackie?«, flüsterte sie. »Wir treffen uns um neun am Kai. Ich habe eine Überraschung.«

Eine Viertelstunde später öffnete Abbey, das Teleskop an sich gepresst, die Schlafzimmertür einen Spalt weit und lauschte. Ihr Vater rumorte immer noch in der Küche herum und erledigte den Abwasch, den sie heute Morgen hätte machen sollen. Das Spiel lief noch, und die nervtötende Stimme des Sportreporters Dave Goucher plärrte aus dem billigen Radio. Da sie ihren Vater ein paarmal fluchen hörte, nahm sie an, dass die Sox wohl gegen die Yankees spielten. Gut, das würde ihn ablenken. Sie schlich die Treppe hinunter, trat vorsichtig auf, damit die alten Stufen aus Kiefernholz nicht knarzten, huschte an der offenen Küchentür vorbei und war auch schon aus dem Haus und auf der Straße.

Sie legte sich das Stativ über die Schulter und sauste am Anchor Inn vorbei zum Kai. Der Hafen war so still wie ein Mühlteich, eine riesige schwarze Wasserfläche, die sich bis zum vagen Umriss von Louds Island hinzog. Die Boote lagen da wie weiße Gespenster. Die Boje, die den Kanal an der Ausfahrt des schmalen Hafens markierte, blinkte vor sich hin. Am Himmel darüber waberte das schwache Licht der natürlichen Phosphoreszenz.

Sie lief schräg über den Parkplatz, an der Fischereigenossenschaft vorbei und weiter zum Kai. Der starke Geruch von Heringsköder und Tang in der feuchten Nachtluft kam von einem Stapel alter Hummerfallen am Ende des Kais. Die Hummerbude war nur in der Sommersaison geöffnet, und ihre Picknicktische waren noch aufgestapelt und am Geländer festgekettet. Hinter sich auf dem Hügel konnte sie die Lichter des Ortes sehen und den Kirchturm der Methodisten-Kirche, eine schwarze Nadel vor der Milchstraße.

»Hi.« Jackie trat aus dem Schatten, und die glimmende Spitze ihres Joints hüpfte in der Dunkelheit. »Was ist das?«

»Ein Teleskop.« Abbey nahm den Joint entgegen und tat einen kräftigen Zug, begleitet vom Knistern brennenden Tabaks. Sie atmete aus und gab ihn zurück.

»Ein Teleskop?«, wiederholte Jackie. »Wofür?«

»Was kann man hier schon machen, außer sich die Sterne anschauen?«

Jackie brummte zustimmend. »Was hat es gekostet?«

»Siebenhundert Dollar. Hab’s bei eBay gefunden, ein Celestron Acht-Zoll-Cassegrain mit automatischer Nachführung, Kamera und allem Drum und Dran.«

Ein leiser Pfiff. »Du musst im Landing ja tolle Trinkgelder bekommen.«

»Die lieben mich da. Ich könnte nicht mehr Trinkgeld kriegen, wenn ich den Gästen einen blasen würde.«

Jackie prustete vor Lachen, verschluckte sich am Rauch und hustete. Sie gab den Joint zurück, und Abbey zog noch einmal lange.

»Randy ist aus dem Maine State Prison raus«, bemerkte Jackie mit gesenkter Stimme.

»O Gott. Randy kann sich von mir aus auf eine Hummerboje setzen und im Kreis herumpaddeln.«

Jackie unterdrückte ein Lachen.

»Was für eine Nacht«, sagte Abbey, die zur riesigen Himmelskuppel voller Sterne hochschaute. »Wir machen ein paar Bilder.«

»Im Dunkeln?«

Abbey prüfte mit einem Blick zu Jackie, ob das ein Scherz sein sollte, doch auf deren Lippen lag kein ironisches Lächeln. Zuneigung zu ihrer dümmlichen, liebenswerten Freundin wallte in Abbey auf. »Ob du es glaubst oder nicht«, sagte sie, »Teleskope funktionieren im Dunkeln sogar besser.«

»Klar. Wie dämlich.« Jackie schlug sich an die Stirn. »Hallo?«

Sie gingen zum Ende des Piers. Abbey baute das Stativ auf und vergewisserte sich, dass es sicher auf den Holzplanken stand. Sie konnte Orion tief am Himmel hängen sehen und richtete das Teleskop dorthin aus. Es verfügte über einen computergesteuerten Sucher, und sie brauchte nur eine voreingestellte Position auszuwählen. Mit leisem Surren des Schneckengetriebes richtete sich das Teleskop von selbst so aus, dass es auf eine Stelle an der Schwertspitze des Orion deutete.

»Was schauen wir uns denn an?«

»Den Andromedanebel.«

Abbey blickte durch das Okular, und die Galaxie sprang förmlich auf sie zu, ein strahlender Wirbel aus fünfhundert Milliarden Sternen. Der Gedanke, wie gewaltig diese Galaxie war und wie winzig sie selbst, schnürte ihr die Kehle zu.

»Lass mal sehen«, sagte Jackie und strich sich das lange, widerborstige Haar zurück.

Abbey trat zurück und bot ihr mit einer Geste das Okular an. Jackie drückte das Auge daran. »Wie weit ist es weg?«

»Zweieinviertel Millionen Lichtjahre.«

Jackie starrte eine Weile schweigend durch das Teleskop und richtete sich dann auf. »Glaubst du, dass es da draußen Leben gibt?«

»Natürlich.«

Abbey justierte das Teleskop neu, zoomte zurück und vergrößerte das Sichtfeld, bis fast das ganze Schwert des Orion zu sehen war. Andromeda war zu einem kleinen Watteknäuel geschrumpft. Sie drückte den Fernauslöser am Kabel und hörte das leise Klicken, mit dem sich der Blendenverschluss öffnete. Die Belichtungszeit war auf zwanzig Minuten eingestellt.

Eine leichte Brise wehte vom Meer herein und ließ die Takelage eines Segelboots klirren, und alle Boote im Hafen schwangen einhellig herum. Der Windhauch fühlte sich an wie der Vorbote eines Sturms, trotz des vollkommen stillen Wassers. Ein einsamer Seetaucher rief draußen auf dem Wasser, und ein zweiter, noch weiter weg, antwortete ihm.

»Zeit für die nächste Tüte.« Jackie begann einen Joint zu drehen, leckte über das Papier und steckte ihn zwischen die Lippen. Ein Klicken, und die Flamme des Feuerzeugs erhellte ihr Gesicht, die blasse, sommersprossige Haut, die grünen, irisch wirkenden Augen und das schwarze Haar.

Abbey sah den plötzlichen Lichtschein, ehe sie das Ding selbst sah. Es kam hinter der Kirche hervor, und der Hafen war augenblicklich taghell erleuchtet. Lautlos wie ein Geist raste es über den Himmel, und dann erschütterte ein gewaltiger Überschallknall den Kai, gefolgt von einem Brüllen wie aus einem Hochofen. Das Ding schoss mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Ozean hinweg und verschwand hinter Louds Island. Einem letzten Aufblitzen folgte lautes Donnergrollen, das über das weite Meer hinwegrollte, bis es verklang.

Hinter ihr, oben im Ort, begannen Hunde hysterisch zu bellen.

»Was …?«, sagte Jackie.

Abbey konnte sehen, dass das ganze Dorf aus den Häusern gestürzt kam und auf der Straße zusammenlief. »Weg mit dem Gras«, zischte sie.

Die Straße zum Hafen herunter füllte sich mit Menschen, deren aufgeregte, erschrockene Stimmen durcheinanderschwatzten. Die Leute strömten zum Kai, mit blinkenden Taschenlampen und zum Himmel zeigenden Fingern. Abbey war klar: Dies war das größte Ereignis, das Round Pond, Maine, gesehen hatte, seit eine verirrte Kanonenkugel im Britisch-Amerikanischen Krieg 1812 das Dach der Kongregationalistenkirche durchschlagen hatte.

Plötzlich fiel Abbey ihr Teleskop wieder ein. Die Blende war offen, die Aufnahme lief. Mit zitternder Hand fasste sie nach dem Auslöser und beendete sie. Gleich darauf erschien das Bild auf dem kleinen LCD-Bildschirm des Teleskops.

»O Gott, sieh mal.« Das Ding war mitten durch das Bild gerast, ein strahlend weißer Streifen zwischen ein paar verstreuten Sternen.

»Es hat dein Bild verdorben«, sagte Jackie, die ihr über die Schulter spähte.

»Machst du Witze? Es ist das Bild!«

Der Krater
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