24

Ford fiel eine eigenartige Stille im Dschungel auf, als sie sich dem Rand des Tals näherten. Die Randzone des Einschlags war von allem Leben verlassen. Ein leichter Rauchschleier trieb zwischen den Bäumen und trug den Geruch von Diesel, Dynamit und verwesenden menschlichen Überresten heran. Es wurde immer heißer, während sie sich der Lichtung näherten, und Ford konnte den Betrieb vor ihnen hören, aber noch nicht sehen: das Klirren von Eisen auf Stein, die lauten Rufe von Soldaten, hin und wieder einen Schuss und einen Aufschrei.

Die Baumstämme rückten auseinander, und dahinter wurde der Himmel hell. Sie hatten die Lichtung erreicht. Vor ihnen lagen Hunderte von Bäumen auf dem Boden, von der Explosion umgeknickt, zerfetzt und zerschmettert und ihrer Blätter beraubt. Die unmittelbare Umgebung der Mine selbst bot sich als Szene aus dem geschäftigsten, untersten Zirkel der Hölle dar … der reinste Bienenstock an ungeheuerlichem Fleiß.

Ford wandte sich Khon zu und überprüfte dessen Erscheinung ein letztes Mal. Der Kambodschaner sah aus wie einer der Minenarbeiter – schmutziges Gesicht, zerlumpte Kleidung, und die Grinde und Geschwüre auf seinen Armen hatten sie mit Hilfe von Matsch und der roten Farbe einer bestimmten Baumrinde erzeugt. Khon war immer noch dick, aber jetzt wirkte das eher wie die Folge einer Krankheit.

»Du siehst gut aus«, erklärte Ford leichthin.

Khons grimmige Miene wurde weicher. Ford streckte die Hand aus und drückte Khons. »Pass auf dich auf. Und … danke.«

»Ich habe die Roten Khmer schon einmal überlebt«, entgegnete Khon fröhlich. »Das schaffe ich auch ein zweites Mal.«

Der kleine, rundliche Mann suchte sich seinen Weg durch die umgestürzten Baumstämme zu dem freigeräumten Bereich und humpelte auf die Schlange der Minenarbeiter zu. Ein Soldat brüllte ihn an, gestikulierte mit seiner Waffe und stieß ihn in die Reihe. Khon stolperte vorwärts wie betäubt und verschwand in der schlurfenden Masse.

Ford sah auf seine Armbanduhr: In sechs Stunden würde er in Aktion treten.

Während der nächsten Stunden umkreiste Ford das Lager und spähte die Abläufe aus. Als der Mittag näher rückte, bewegte er sich vorsichtig ans hohe Ende des Tals, wobei er die Patrouillen umging, und beobachtete von einem kleinen Hügel aus das weiße Haus, wo Bruder Nummer Sechs Hof hielt. Der Mann hatte den ganzen Vormittag in einem Schaukelstuhl auf der Veranda verbracht, Pfeife geraucht und die Szene unten im Tal mit zufriedenem Lächeln beobachtet wie ein Großvater, der seinen Enkeln beim Spielen im Garten zusieht. Diverse Soldaten kamen und gingen, brachten Berichte, nahmen Befehle entgegen und wechselten sich als Wachen ab. Ford wurde auf einen mageren, trübsinnig wirkenden Mann mit Tränensäcken, krummem Rücken und unterwürfiger Miene aufmerksam, der anscheinend nie von Nummer Sechs’ Seite wich. Er schien eine Art Sekretär zu sein, denn er beugte sich oft vor und sprach dem Mann ins Ohr, hörte ihm zu und machte sich Notizen.

Zur Mittagszeit kam ein Diener in Weiß aus dem Haus und reichte Drinks. Ford beobachtete die beiden Männer, Nummer Sechs und seinen Berater, die nippten und plauderten wie Gäste auf einer Gartenparty. Die Zeit verging sehr langsam. In der Mine war nun Mittagspause, und die zerlumpten Reihen der Arbeiter sammelten sich um die Kochfeuer. Jeder erhielt eine Kugel Reis in einem Bananenblatt. Sie hatten fünf Minuten Pause, dann ging es wieder an die Arbeit.

Während Ford das Lager beobachtete, erkannte er, dass eine Gruppe von Elitesoldaten in gebügelten Uniformen die restlichen Soldaten mit zu bewachen schien. Etwa zwei Dutzend von ihnen patrouillierten am äußersten Rand des Lagers, schwer bewaffnet mit chinesischen AK-47-Nachbauten, Panzerfäusten, M16-Gewehren und leichten 60-mm-Granatwerfern, die noch aus der Zeit des Vietnamkriegs stammten. Wachen, die Wachen bewachten. Vielleicht dachte Ford, würde es so laufen wie im Zauberer von Oz: Man brauchte nur ein paar zu töten – oder auch nur einen –, und alle anderen würden sich unterordnen.

Um genau ein Uhr erhob sich Ford aus seinem Versteck und ging auf einem offenen Pfad auf das Tal zu, wobei er möglichst viel Lärm machte und vor sich hin pfiff. Als er noch ein paar hundert Meter von dem weißen Haus entfernt war, zerfetzte Maschinengewehrfeuer die Blätter über seinem Kopf, und er warf sich zu Boden. Gleich darauf war er von drei Soldaten umringt, die ihn in unverständlichem Dialekt anbrüllten. Einer hielt ihm eine Waffe an den Kopf, während die beiden anderen grob seine Kleidung durchsuchten. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass er unbewaffnet war, zerrten sie ihn auf die Füße, fesselten ihm die Hände im Rücken und schubsten ihn vorwärts, den Pfad entlang. Ein paar Minuten später stand er auf der Veranda vor Bruder Nummer Sechs.

Falls Nummer Sechs von seinem Erscheinen überrascht war, ließ er sich nichts anmerken. Er erhob sich aus seinem Schaukelstuhl, schlenderte näher heran und musterte Ford wie eine interessante Skulptur. Sein vogelartiger Kopf nickte unentwegt auf und ab. Ford seinerseits musterte den Mann, dessen Gefangener er nun war. Nummer Sechs war gekleidet wie ein französischer Kolonialoffizier: ein besticktes weißes Seidenhemd, Khaki-Shorts, schwarze Kniestrümpfe und Budapester. Er rauchte Latakia in einer teuren englischen Comoy-Pfeife und stieß duftende blaue Rauchwolken aus. Seine Gesichtszüge waren zart, beinahe feminin, und er hatte eine runzlige Narbe über der linken Augenbraue. Während er Ford umkreiste, schmatzte er mit den roten, mädchenhaften Lippen. Sein weißes Haar war mit Gel glatt zurückgekämmt.

Als die Inspektion beendet war, trat Nummer Sechs zu einem Verandapfosten, klopfte die Tabakreste aus seiner Pfeife, putzte sie, lehnte sich dann an den Pfosten, stopfte sie neu und zündete sie an. Dieser Prozess dauerte lange fünf Minuten.

»Tu parles français?«, fragte er schließlich mit unerwartet glatter, butterweicher Stimme in elegant klingendem Französisch.

»Oui, mais je préfère Englisch.«

Ein Lächeln. »Sie trage keine Ausweis.« Sein Englisch war wesentlich ungeschliffener, und er sprach mit einem nasalen Khmer-Akzent.

Ford sagte nichts. In der Tür des Hauses erschien die gebeugte Gestalt, der Berater, der Ford schon zuvor aufgefallen war. Er trug eine weite Khakihose, das dünne graue Haar hing ihm schlaff über die Stirn, er hatte dunkle Ringe unter den Augen und war etwa fünfzig Jahre alt.

Nummer Sechs sprach den Mann in normalem Khmer an. »Wir haben einen Amerikaner gefunden, Tuk.«

Tuk starrte Ford mit seinen schwermütigen, schläfrig wirkenden Augen an.

»Ihr Name?«, fragte Nummer Sechs.

»Wyman Ford.«

»Was tu Sie hier, Wyman Ford?«

»Ich suche nach Ihnen.«

»Warum?«

»Um mit Ihnen zu sprechen.«

Nummer Sechs zog ein Messer aus der Tasche und sagte seelenruhig: »Ich schneide Ihnen ein Ei ab. Dann spreche wir.«

Tuk hob die Hand, um ihn zurückzuhalten, und wandte sich Ford zu. Er sprach viel fließender Englisch, mit britischem Akzent. »Sie kommen woher genau in Amerika?« Die schweren Lider schlossen sich, blieben einen Moment lang so und öffneten sich wieder.

»Washington, D. C.«

Nummer Sechs gestikulierte mit dem Messer in Tuks Richtung und sagte auf Khmer: »Du verschwendest nur Zeit. Lass mich mit dem Messer an die Arbeit gehen.«

Tuk ignorierte ihn und wandte sich Ford zu. »Sie sind also von der Regierung?«

»Sehr gut geraten.«

»Mit wem möchten Sie hier sprechen?«

»Mit ihm. Bruder Nummer Sechs.«

Plötzlich herrschte eisige Stille. Gleich darauf fuchtelte Nummer Sechs ihm mit dem Messer vor dem Gesicht herum. »Warum wolle mich treffen?«

»Um Ihre Kapitulation entgegenzunehmen.«

»Kapitulation?« Nummer Sechs schob das Gesicht dicht vor seines. »Vor wen?«

Ford blickte zum Himmel auf. »Vor denen.«

Die beiden Männer blickten in den leeren Himmel.

»Sie haben …« Ford lächelte und sah auf seine Armbanduhr. »… noch etwa hundertzwanzig Minuten Zeit, ehe die Predator-Drohnen und Cruise Missiles hier ankommen.«

Nummer Sechs starrte ihn an.

»Möchten Sie die Bedingungen hören?«, fragte Ford.

Nummer Sechs presste die flache Messerklinge an Fords Hals und drehte sie ein wenig. Ford spürte ein leichtes Ritzen. »Ich schneide Ihnen Hals!«

Tuk legte Nummer Sechs die Hand auf den Arm. »Ja«, sagte er gelassen. »Wir möchten die Bedingungen hören.«

Die Messerklinge ließ von seinem Hals ab, und Nummer Sechs trat zurück.

»Sie haben zwei Möglichkeiten. Erstens: Sie ergeben sich nicht. In zwei Stunden wird Ihre Mine von Marschflugkörpern und mit Raketen bestückten Predator-Drohnen dem Erdboden gleichgemacht. Dann kommt die CIA, um hier sauber zu machen – um Sie wegzuwischen. Vielleicht sterben Sie, vielleicht entkommen Sie. In letzterem Fall wird die CIA Sie bis ans Ende Ihres Lebens verfolgen. Sie werden auf Ihre alten Tage keine Ruhe haben.«

Eine Pause.

»Zweite Möglichkeit: Sie ergeben sich mir, verlassen die Mine und gehen als freier Mann. In zwei Stunden wird die Mine von amerikanischen Bomben zerstört. Die CIA bezahlt Ihnen für Ihre Kooperation eine Million Dollar. Sie verbringen den Rest Ihres Lebens in Frieden, als Freund der CIA. Sie genießen Ihr Alter in Ruhe und Frieden und finanzieller Sicherheit.«

»Warum wolle CIA diese Mine nicht?«, fragte Nummer Sechs. »Alle legal hier.«

»Sie wissen nicht, wer Ihre Schmucksteine kauft?«

»Ich verkaufe Steine nach Thailand, alle legal.«

Tuk nickte langsam, als wollte er zustimmen, die Augen wieder halb geschlossen.

»Natürlich. Alles legal. Sie verkaufen Honeys an Großhändler wie Piyamanee Limited.«

»Alle legal!«, beharrte Nummer Sechs.

»Wissen Sie, an wen die Großhändler in Bangkok sie verkaufen?«

»Was interessiere mich? Ich breche nicht Gesetz.«

»Dass Sie das Gesetz nicht brechen, bedeutet noch lange nicht, dass Sie uns nicht wütend machen.«

Nummer Sechs schwieg.

»Ich möchte Ihnen etwas erklären«, sprach Ford weiter. »Die Großhändler in Bangkok verkaufen an Edelsteinhändler in allen möglichen Ländern im Nahen Osten, auch an Strohmänner eines saudi-arabischen Händlers, der große Mengen an Aufkäufer in Quetta, Pakistan, absetzt, die wiederum die Steine mit Maultieren zu al-Qaida im Süden von Waziristan transportieren. Wissen Sie, was al-Qaida mit den Edelsteinen macht?«

Nummer Sechs starrte ihn an. Dieser Gedankengang war ihm offensichtlich neu.

»Al-Qaida zermahlt die Steine, konzentriert die Radioaktivität daraus und benutzt sie, um schmutzige Bomben herzustellen.«

»Ich wisse nichts. Nichts!«, kreischte Nummer Sechs zornig.

Ford lächelte. »Ja, Sie und Feldwebel Schultz.«

»Wer Feldwebel Schultz?«

Ford wartete und ließ das Schweigen sich hinziehen. »Also: Möglichkeit eins oder zwei?«

»Sie sind nur Mann komme her mit dumme Geschichte, nicht mehr.« Nummer Sechs spie aus.

»Fragen Sie sich, Bruder Nummer Sechs: Würde ich ohne jede Rückendeckung hier hereinspazieren?«

»Sie bringe keine Beweis, gar keine, nicht einmal Ausweis!«

»Sie wollen einen Beweis?«

Nummer Sechs machte schmale Augen.

Ford wies mit einem Nicken auf die Hügel. »Ich gebe Ihnen Ihren Beweis. Ich werde einer Predator-Drohne den Befehl geben, eine Rakete auf die Hügel da drüben abzuschießen. Reicht Ihnen das als Beweis?«

Nummer Sechs schluckte, dass sein großer, hässlicher Adamsapfel hüpfte. Er sagte nichts. Tuks Augen blieben verhangen.

»Nehmen Sie mir die Fesseln ab«, verlangte Ford.

Nummer Sechs murmelte einen Befehl, und Fords Hände waren frei.

»Stecken Sie das Messer weg.«

Der Kambodschaner schob das Messer zurück in die Scheide.

Ford zeigte nach Westen. »Sehen Sie den Hügel dort hinten mit der doppelten Kuppe? Den werden wir mit einer kleinen Rakete beschießen.«

»Wie gebe Sie Befehl?«

Ford lächelte nur. Er wusste, dass die meisten Kambodschaner ein beinahe übernatürliches Grauen vor der CIA hegten, und hoffte, diese Angst ausnutzen zu können. »Wir haben unsere Mittel und Wege.«

Nummer Sechs schwitzte jetzt.

»Binnen einer halben Stunde haben Sie Ihren Beweis. Bis dahin möchte ich als geehrter Gast behandelt werden, nicht wie ein Verbrecher.« Er wies auf die Männer mit den Gewehren.

Nummer Sechs sagte etwas, und die Gewehre wurden gesenkt.

»Über Ihren Köpfen befindet sich eine Menge Technik, die Sie nicht sehen können. Wenn Sie mir etwas antun, regnen Tod und Zerstörung so schnell auf Sie herab, dass Ihnen keine Zeit mehr bleiben wird, sich in die Hose zu pinkeln.«

Nummer Sechs wahrte eine undurchdringliche Miene. Er beugte sich vor und spuckte auf die Veranda. »Sie habe halbe Stunde. Dann Sie sterbe.« Er schlurfte zurück zu seinem Schaukelstuhl, setzte sich und begann zu schaukeln.

Der Krater
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