19
Abbey sicherte den eingeholten Anker mit der Kettenbremse und kam achtern. Sie hüpfte in die Steuerkabine hinunter. »Ab geht’s«, sagte sie, packte das Steuerrad, gab Gas und lenkte den Bug weg von der Insel, die sie gerade abgesucht hatten – Marsh Island.
»Das war wohl nichts«, entgegnete Jackie säuerlich.
»Zwei geschafft, noch drei liegen vor uns«, sagte Abbey und bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. »Keine Sorge – wir finden ihn schon.«
»Wehe, wenn nicht. In diesem Gebüsch da oben wäre ich beinahe verreckt. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem Sack voll Wildkatzen gefangen gewesen. Sieh dir mal die vielen Kratzer an!« Sie hielt Abbey einen Arm vors Gesicht.
»Kriegsverletzungen. Mit denen kannst du vor deinen Enkeln angeben.« Sie steuerte die Marea um die Nordwestspitze von Marsh Island herum. Die sinkende Sonne leuchtete blutorangenrot über dem fernen Festland, ein leichter Dunst hing in der Luft. Sie sah auf den Kartenplotter und ließ sich den Kurs zur nächsten Insel auf ihrer Liste anzeigen: Ripp. Sie konnte sie schon am Horizont sehen, mehrere Meilen jenseits der alten Bodenstation auf Crow. Die Anlage wirkte immer so fehl am Platze, eine riesige weiße Blase, die von der felsigen Insel aufragte wie ein gigantischer Bovist. Ein kleiner Schwarm Lichter trieb über das Wasser: die Crow Island Ferry auf dem Weg nach Tenants Harbor.
»Erinnerst du dich an unseren Schulausflug da raus?«, fragte Jackie, die ihrem Blick folgte. »An die drei Spinner, die auf der Insel wohnen und sich rund um die Uhr um die Satellitenstation kümmern?«
»Das war früher, als sie die Anlage noch benutzt haben, um Signale zur Saturnsonde zu schicken.«
»Man muss sich doch fragen, was für ein Irrer so einen Job annehmen würde, auf einer Insel mitten im Nirgendwo. Erinnerst du dich an den Kerl mit den vorstehenden Zähnen, der uns angeglotzt hat? Was glaubst du, was die da den ganzen Tag lang machen?«
»Vielleicht telefonieren sie mit E.T.«
»He, E.T., hast du noch was von dem Mars-Gras?«, rief Jackie.
Abbey lachte. »Da wir gerade von bewusstseinsverändernden Substanzen sprechen, fällt mir auf, dass die Sonne unter die Rah gesunken ist.« Sie hielt eine Flasche Jim Beam hoch.
»Verstanden.«
Abbey nahm einen Schluck und reichte die Flasche weiter. Jackie trank auch daraus. Die Sonne tauchte hinter den Horizont ab, und langsam breitete sich die Dämmerung über die glasklare Bucht.
»O-oh«, sagte Abbey, die wieder nach vorn schaute. Sie nahm das Fernglas vom Armaturenbrett und spähte zur Insel vor ihnen. »In dem Haus auf Ripp brennt Licht. Sieht so aus, als wäre der Admiral dieses Jahr schon früher aus Jersey gekommen.«
»Scheiße.«
Als sie sich der Insel näherten, kam eine mit Schindeln gedeckte Villa mit zahlreichen Türmchen und Erkern in Sicht, von außen angeleuchtet.
»Dieser Admiral ist ein verdammter Irrer«, bemerkte Jackie. »Es heißt, er sei im Koreakrieg gewesen und hätte da einen Haufen Frauen und Kinder umgebracht.«
»Moderner Mythos.«
»Was ich damit sagen will: Vielleicht sollten wir Ripp lieber vergessen.«
»Jackie, die Linie verläuft mitten über die Insel. Wir suchen eben nachts – heute Nacht.«
Jackie stöhnte. »Wenn der Meteorit auf Ripp Island gelandet ist, hätte der Admiral ihn sicher schon gefunden.«
»Er war nicht da, als er niedergegangen ist. Und die Insel ist groß.«
»Es heißt, er hätte Wachleute.«
»Na klar, zwei Hot-Dog-Fresser, die auf ihren fetten Hintern in der Küche sitzen und American Idol glotzen.«
Abbey betrachtete Hafen und Haus durchs Fernglas. Das Boot des Admirals, ein Crownline mit Außenbordmotor, war am Schwimmsteg vertäut, und in der Bucht lag eine große Motoryacht vor Anker. Sie konnte in den erleuchteten Fenstern des Hauses Bewegung erkennen.
»Wir ankern auf der anderen Seite.«
»Pass auf die Kabbelung an der Westseite auf«, warnte Jackie. »Die ist ziemlich bösartig. Am besten nähert man sich von Südsüdwest mit zwanzig Grad.«
»Ist gut.« Abbey drehte das Steuer herum und änderte den Kurs so, dass sie sich der Insel von der anderen Seite näherten. Sie ankerten etwa fünfzig Meter vor der Küste. Die Sterne begannen zu leuchten. Abbey löschte die Ankerlaternen und schaltete alle Anzeigen aus, so dass das Boot im Dunkeln lag, während Jackie einen kleinen Rucksack mit dem Nötigsten packte: ein Flachmann mit Jim Beam, Tauchermesser, Fernglas, Feldflasche, Streichhölzer, Taschenlampen, Batterien und eine Dose Pfefferspray.
Sie stiegen ins Beiboot. Das Wasser lag glänzend und dunkel da, die Insel vor ihnen hatte die Finsternis verschluckt. Abbey ruderte aufs Ufer zu, wobei sie das Blatt abdrehte, damit die Ruder nicht so laut ins Wasser platschten. Das Boot knirschte auf dem Sand, und sie hüpften von Bord. Durch die Bäume hindurch konnte Abbey gerade noch den Lichtschein vom Haus her sehen.
»Und jetzt?«, flüsterte Jackie.
»Mir nach.« Abbey orientierte sich mit ihrem Kompass, überquerte den Strand, schlug sich durch ein Dickicht aus Kartoffel-Rosen und brach schließlich in den Wald durch. Sie konnte Jackie hinter sich keuchen hören. Unter den Bäumen war es so pechschwarz wie in einer Höhle. Sie schaltete ihre Taschenlampe ein, schirmte sie mit der Hand ab und schwenkte den Strahl hin und her, während sie durch den moosigen Wald stapften und nach dem Krater suchten. Ab und zu blieb Abbey stehen, um die Richtung mit dem Kompass zu überprüfen.
Zehn Minuten vergingen, und sie hatten noch nichts gefunden. Schon fast am anderen Ende der Insel wateten sie durch einen Sumpf und mussten dann durch einen trägen Fluss, dessen Wasser ihnen bis zur Brust reichte, so dass Abbey den Rucksack über ihren Kopf hielt. Das Sumpfland wich einer offenen Wiese. Unter den letzten Bäumen kauerten sie sich hin, und Abbey suchte mit dem Fernglas die Wiese ab, während Jackie ihre Schuhe auszog und schlammiges Wasser auskippte.
»Mir ist eiskalt.«
Die Wiese zog sich einen Hügel hinauf zu einem gepflegten Rasen und einem Tennisplatz, hinter dem das riesige Haus aufragte. Abbey sah Bewegung in einem Fenster – einen Schemen.
»Wir müssen über diese Wiese«, flüsterte Abbey. »Da könnte der Krater sein.«
»Vielleicht gehen wir lieber außen herum.«
»Auf keinen Fall. Wir machen das richtig.«
Keine von beiden bewegte sich.
Abbey stupste sie an. »Hast du Angst?«
»Ja. Und mir ist kalt.«
Abbey holte den Flachmann aus dem Rucksack und reichte ihn ihrer Freundin. Jackie genehmigte sich einen Schluck, und Abbey tat es ihr gleich.
»Fühlst du dich jetzt gewappnet?«
»Nein.«
»Bringen wir’s hinter uns.« Abbey spürte, wie die Wärme durch ihren Bauch rieselte, als sie sich auf die Wiese schob. Der Lichtschein vom Haus her reichte ihnen, also steckte sie ihre Taschenlampe in den Rucksack. Auf Händen und Knien, tief geduckt, krochen sie über das tote, verfilzte Gras.
Etwa nach der halben Strecke hörten sie von fern einen Hund bellen. Instinktiv legten sich beide flach aufs Gras. Schwach drangen Frank-Sinatra-Klänge aus dem Haus herüber und verstummten wieder – jemand hatte eine Tür geöffnet und wieder geschlossen.
Ein weiteres fernes Kläffen. Abbey spürte, wie ihr eiskaltes Wasser den Rücken hinabrann, und sie zitterte.
»Abbey, bitte. Hauen wir ab.«
»Psst.«
Als Abbey gerade aufstehen wollte, sah sie zwei flinke Schatten um die Ecke der Villa schießen und oben über den Rasen flitzen, hin und her, die Nasen tief am Boden.
»Hunde«, sagte sie.
»O Gott, nein.«
»Wir müssen hier weg. Auf drei rennen wir zurück zum Fluss.«
Jackie wimmerte.
»Eins, zwei, drei.« Abbey sprang auf und rannte über die Wiese, Jackie ihr dicht auf den Fersen. Wütendes Gebell erschallte hinter ihnen. Sie sprangen in den Fluss, und die träge, aber starke Strömung zog sie mit sich und wirbelte sie langsam auf den Wald zu. Abbey tauchte so tief ins Wasser, dass nur noch ihr Gesicht herausschaute, und versuchte, mit geschürzten Lippen zu atmen. Das Gebell kam näher, und jetzt sah sie die Strahlen von Taschenlampen auf dem Hügel herumhüpfen. Zwei Männer liefen über die Wiese in ihre Richtung.
Jetzt kam das Bellen von stromaufwärts, wo sie ins Wasser gestiegen waren. Einer der Männer rief etwas, ein Schuss krachte.
Die dunklen Bäume schlossen sich um sie, als die Strömung sie in den Wald schob. Sie versuchte, nach Jackie Ausschau zu halten, aber es war zu dunkel. Die Strömung wurde immer stärker, denn das Wasser floss jetzt zwischen glattgeschmirgelten Felsen und mächtigen Fichtenwurzeln hindurch. Sie hörte Lärm – tosendes Wasser –, und die Strömung riss sie immer schneller mit sich.
Wasserfall. Sie schwamm zum Ufer und versuchte, sich an einem Felsen festzuhalten, aber er war glitschig vor Algen, und sie wurde weitergetragen. Das Brüllen wurde immer lauter. Sie schaute flussabwärts und sah eine dünne helle Linie in der Dunkelheit. Verzweifelt hangelte sie sich am nächsten Felsen empor, schaffte es einen Moment, sich festzuhalten, doch die Strömung drehte ihren Körper herum, und auch von diesem Halt wurde sie weggerissen.
»Jackie!«, prustete sie, dann spürte sie einen starken Sog, plötzliche Leichtigkeit, weißes Tosen war überall um sie herum, und dann wurde sie abrupt in eine kalte, wirbelnde Dunkelheit geworfen. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo oben war, und sie schwamm verzweifelt los, trat mit den Beinen um sich, um das Gleichgewicht zu gewinnen – und dann brach ihr Kopf durch die Wasseroberfläche. Japsend schlug sie mit den Armen um sich und versuchte, den Kopf über dem brausenden Wasser zu halten. Sie sah sich um, schwamm ein Stück von dem turbulenten Wasser weg und fand sich gleich darauf in einem ruhigen, kaum bewegten Teich wieder. Der Nachthimmel, das Meer – sie war schon fast an der Küste. Die sachte Strömung trug sie zwischen Kiesbänken hindurch, und sie schwamm darauf zu, bis ihre Füße die losen Steine am Boden streiften. Sie hievte sich auf die Kiesbank, hustete und spuckte Wasser. Sie sah sich um, aber alles war still. Von den Männern und den Hunden war nichts mehr zu sehen.
»Jackie?«, zischte sie.
Gleich darauf schleppte Jackie sich aus dem Wasser und blieb spuckend auf den Knien hocken.
»Jackie? Alles okay?«
Gleich darauf flüsterte eine heisere Stimme: »Scheiße, ja.«
Sie hielten sich am Waldrand und folgten der Inselküste bis zu ihrem Beiboot, schleppten es zum Wasser, stiegen hinein und legten ab. Kurz darauf waren sie wieder an Bord der Marea. Nach kurzem Schweigen bogen sich beide vor heiserem Lachen.
»Also gut«, sagte Abbey, sobald sie wieder zu Atem gekommen war. »Lichten wir den Anker und sehen zu, dass wir hier wegkommen, ehe sie sich mit ihrer tollen Yacht auf die Suche nach uns machen.«
Beide zogen die nassen Sachen aus und hängten sie über das Treppengeländer. Splitternackt fuhren sie mit dem Boot auf den nächtlichen Ozean hinaus und wechselten sich dabei an einer Flasche Jim Beam ab.