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Mark Corso betrat sein bescheidenes Apartment und schloss die Tür. Er blieb noch einen Moment lang stehen, als sähe er seine Wohnung zum ersten Mal. Babygeschrei drang durch die Wände, und ein schwerer Geruch nach gebratenem Speck hing in der abgestandenen Luft. Die Klimaanlage, die ein Drittel des Fensters einnahm, klopfte und wackelte und blies einen schwachen Luftstrom aus. Von draußen drang leise Sirenengeheul herein. Das Panoramafenster vor ihm bot einen Ausblick auf eine vielbefahrene Kreuzung mit einer Autowaschstraße, dem Drive-In einer Burger-Kette und dem großen Parkplatz eines Gebrauchtwagenhändlers.
Zum ersten Mal empfand Corso eine grimmige Befriedigung über die schäbige Wohnung, die papierdünnen Wände, die Flecken auf dem Teppichboden, den verdorrten Ficus in der Ecke und die deprimierende Aussicht. Vor einem Jahr hatte er das Apartment unbesehen aus der Ferne gemietet, weil er auf die glühende Beschreibung und die aus kunstvollen Winkeln aufgenommenen Fotos in einer Internet-Anzeige hereingefallen war. Von Greenpoint, Brooklyn, aus hatte es ausgesehen wie der wahr gewordene Traum von Kalifornien, ein großes Ein-Zimmer-Apartment, »lichtdurchflutet«, mit privatem Garten, Swimmingpool, Palmen und (das Allerbeste) einem Parkplatz in der Tiefgarage.
Jetzt konnte er sich endlich von dieser Bruchbude verabschieden.
In den letzten paar Monaten war in der National Propulsion Facility die Hölle los gewesen, weil sein alter Professor und Mentor Jason Freeman gefeuert und dann auch noch tragischerweise im eigenen Haus ermordet worden war. Seit dem Tod seines Vaters hatte Corso nichts so sehr erschüttert. Mit Freeman war es schon eine ganze Weile bergab gegangen, er war zu spät zur Arbeit gekommen, hatte wichtige Besprechungen abgesagt und sich mit Kollegen gestritten. Corso hatte Gerüchte über Frauen und zu viel Alkohol gehört. Das bekümmerte ihn sehr, denn Freeman, der damals am MIT seine Diplomarbeit betreut hatte, war derjenige gewesen, der ihn zur Marsmission an der NPF geholt hatte.
Heute Vormittag hatte Corso erfahren, dass er auf Freemans Posten befördert werden sollte. Das war ein gewaltiger Karrieresprung mit einem neuen akademischen Titel, mehr Geld und Prestige. Er war noch nicht einmal dreißig, jünger als die meisten seiner Kollegen, ein aufgehender Stern. Doch dass sein Glück auf dem Unglück und Versagen seines geliebten Lehrers fußte, löste widerstreitende Gefühle in ihm aus.
Er wandte sich vom Fenster ab und schob die Gewissensbisse beiseite. Freemans Schicksal war tragisch, aber willkürlich, etwa so, wie vom Blitz erschlagen zu werden, und Corso hatte sein Möglichstes für ihn getan. Er hatte Freeman unter Kollegen immer verteidigt und versucht, ihn davor zu warnen, was mit ihm geschah. Freeman schien von irgendeiner übermenschlichen Macht besessen gewesen zu sein, die ihn in den Abgrund gezogen hatte, trotz Corsos Bemühungen.
Diese Beförderung bedeutete, dass er endlich genug Geld haben würde, ohne Einhaltung der Kündigungsfrist hier auszuziehen. Dadurch würde er zwar die Kaution verlieren, aber er konnte sich etwas Besseres suchen. Das war hier kein Problem – Pasadena war nicht Brooklyn, es gab Tausende andere Apartments zu mieten. Nachdem er nun ein Jahr lang hier gewohnt hatte, kannte er die Stadt gut genug, um zu wissen, wo er suchen und welche Gegenden er besser meiden sollte.
Diese Gedanken wurden von einem schüchternen Klopfen an der Wohnungstür unterbrochen. Corso wandte sich vom Fenster ab, spähte durch den Türspion und sah den Hausmeister davorstehen, mit irgendetwas in der Hand. Er öffnete die Tür, und der rundliche kleine Mann streckte einen haarigen Arm mit einem kleinen Pappkarton aus. »Päckchen.«
Corso nahm es, bedankte sich und schloss die Tür. Anscheinend ein Paket von Amazon … doch als er näher hinsah, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Der Karton war ein zweites Mal benutzt worden – der Absender war Jason J. Freeman.
Einen verrückten Augenblick lang dachte Corso, Freeman sei vielleicht doch nicht tot, sondern hätte sich voller Gram über seinen tiefen Fall nach Mexiko abgesetzt. Doch dann fiel ihm der Poststempel auf, der zehn Tage alt war, und der »Media Mail«-Stempel auf dem Karton. Zehn Tage … Freeman hatte das Päckchen zwei Tage vor seinem Tod aufgegeben, und da er den langsamsten, aber günstigsten Versand gewählt hatte, war es seither unterwegs gewesen.
Mit hämmerndem Herzen nahm Corso ein Obstmesser aus der Küche und schlitzte das Päckchen auf. Er holte zusammengeknülltes Zeitungspapier heraus und brachte einen Brief zum Vorschein, und darunter eine Festplatte mit extremer Datendichte und dem Logo der Mars-Mission darauf. Als er sie herausholte, erkannte er mit einem flauen Gefühl im Magen, dass sie als geheim eingestuft war.
#785A56H6T 160TB
GEHEIM: DUPLIZIEREN VERBOTEN
Eigentum der NPF
California Institute of Technology
National Aeronautics and Space Administration
Mit zitternder Hand legte Corso die Festplatte auf den Couchtisch und schlitzte den Briefumschlag mit dem Fingernagel auf. Darin lag ein handgeschriebener Brief.
Lieber Mark,
ich bedauere, Dich hiermit belasten zu müssen, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich habe nicht viel Zeit zum Schreiben, also komme ich gleich zur Sache. Chaudry und Derkweiler sind himmelschreiende Idioten, politische Taktierer durch und durch und unfähig, die Bedeutung meiner Entdeckung zu begreifen. Diese Sache ist gigantisch, unglaublich. Ich werde sie nicht diesen Dreckskerlen überlassen, schon gar nicht, nachdem sie mich so mies behandelt haben. Die NPF ist die reinste Schlangengrube, und das verdanken wir nur diesen wichtigtuerischen, schleimigen, mit Scheiße verkrusteten Arschlöchern. Alles dreht sich um Politik und Karriere, nichts mehr um die Wissenschaft. Ich habe das einfach nicht mehr ertragen. Man kann dort unmöglich arbeiten.
Um es kurz zu machen, ich habe Lunte gerochen und diese Festplatte herausgeschmuggelt, ehe ich gefeuert wurde.
Irgendwann werde ich Dir bei ein paar Martinis davon erzählen, aber jetzt bitte ich Dich aus einem anderen Grund um Deine Hilfe. In meiner letzten Woche bei der NPF habe ich etwas sehr Dummes, ausgesprochen Kompromittierendes getan, und deshalb muss ich diese Festplatte jetzt Dir anvertrauen. Bewahre sie eine Weile für mich auf, nur vorsichtshalber, bis sich die Wogen geglättet haben. Tu es für mich, Mark, ich bitte Dich. Du bist der Einzige, dem ich vertrauen kann.
Nimm keinen Kontakt zu mir auf, ruf mich nicht an, verhalte Dich ganz ruhig. Du wirst bald von mir hören. Und dann wüsste ich gern, was Du von den Daten zur Gammastrahlung hältst, falls Du dazu kommst, einen Blick hier hineinzuwerfen.
Jason
Und dann, ganz unten hingekritzelt wie ein nachträglicher Einfall, stand das Passwort für die Festplatte.
Einen Augenblick lang konnte Corso keinen klaren Gedanken fassen. Er starrte nur auf den Brief, bis er bemerkte, dass der in seiner zitternden Hand flatterte.
Das war eine Katastrophe. Eine Katastrophe von ungeheurem Ausmaß. Eine Sicherheitslücke, die alle Beteiligten ruinieren konnte. Das hier würde alles in den Dreck ziehen. Es war nicht nur in höchstem Maße illegal, dass diese als geheim eingestufte Festplatte sich außerhalb des Institutsgebäudes befand – die Tatsache, dass Freeman es geschafft hatte, sie herauszuschmuggeln, würde für einen gewaltigen Aufruhr sorgen. Die Sicherheitsvorschriften für den Umgang mit geheimen Informationen waren ihnen vom ersten Tag an eingebleut worden. Da gab es absolut null Toleranz. Er erinnerte sich an den Skandal in Los Alamos in den neunziger Jahren, als eine einzige klassifizierte Festplatte verschwunden war. Die Nachricht erschien auf dem Titel der New York Times, der Direktor wurde praktisch zum Rücktritt gezwungen, Dutzende Wissenschaftler wurden gefeuert. Das war ein Blutbad gewesen.
Er setzte sich, begrub den Kopf in den Händen und raufte sich die Haare. Wie hatte Freeman das Ding rausgeschafft? Diese Datenträger mussten jeden Abend versiegelt, in einem Kontrollbuch eingetragen und in einem Safe eingeschlossen werden. Sie waren so gut verschlüsselt, wie man überhaupt etwas verschlüsseln konnte, und außerdem mit einer physischen Sicherung versehen. Jeder Gebrauch wurde aufgezeichnet und in der Security-Akte des Nutzers festgehalten. Wenn man sie weiter als eine festgelegte Distanz von ihrem genehmigten Server entfernte, wurde Alarm ausgelöst.
Freeman hatte all das irgendwie umgangen.
Corso rieb sich mit den Handflächen die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn er das der NPF meldete, würde es einen Skandal geben, der einen schwarzen Schatten über die gesamte Mars-Mission warf und den Ruf aller Kollegen schädigte – vor allem aber seinen. Freeman und er kannten sich schon sehr lange. Freeman hatte ihn an Bord geholt und ihn als Mentor unterstützt; Corso war als Freemans Protegé bekannt. Während Freemans Absturz in den vergangenen Monaten hatte Corso versucht, ihm zu helfen, und keinen Hehl daraus gemacht.
Aber natürlich musste er das einzig Richtige tun und diese Verletzung der Datensicherheit melden. Ihm blieb gar keine andere Wahl.
Oder doch? War es besser, richtig zu handeln oder klug?
Allmählich verstand er, warum Freeman ihm das Ding als gewöhnliches Päckchen auf dem Landweg geschickt hatte statt per Express oder Paketdienst. Keinerlei Aufzeichnungen. Der Empfänger brauchte nichts zu unterschreiben, und es gab keine Nummer, mit der man die Sendung nachverfolgen könnte.
Wenn Corso die Festplatte zerstörte und so tat, als hätte er sie nie bekommen, würde niemand davon erfahren. Irgendwann würden sie wohl feststellen, dass der Datenträger fehlte und Freeman ihn hatte mitgehen lassen, doch Freeman war tot, und damit war die Sache beendet. Es gab keine Spur, die zu Corso führte.
Er fühlte sich schon etwas ruhiger. Das Problem war durchaus zu handhaben. Er würde es auf die einzig vernünftige Weise lösen – die Festplatte zerstören und so tun, als hätte er sie nie bekommen. Morgen würde er in die Berge fahren, eine kleine Wanderung machen, sie in Stücke schlagen, verbrennen und die Reste vergraben.
Er war augenblicklich erleichtert. Natürlich, das war die einzig richtige Art, dieses Problem anzupacken.
Er stand auf, ging in die Küche, holte sich ein Bier, trank einen eiskalten Schluck und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er starrte die Festplatte an, die da auf seinem Couchtisch lag. Freeman war leicht erregbar, ein bisschen verrückt, aber auch brillant. Was war das für eine große Sache, diese Geschichte mit der Gammastrahlung? Corsos Neugier war geweckt.
Ehe er die Festplatte vernichtete, würde er nur einen kurzen Blick auf die Daten werfen – nur mal sehen, was zum Teufel Freeman gemeint hatte.