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Chaudry starrte Ford mit kalten Augen an. »Ich wollte lediglich diese ungeheuer wichtige, geheime Information in Sicherheit bringen, die Sie so leichtsinnig in Ihrem Jackett haben herumliegen lassen.«
Die anderen beobachteten sie verblüfft.
»Tatsächlich?«, entgegnete Ford ruhig. »Warum haben Sie mich dann nicht direkt darauf angesprochen? Warum haben Sie gewartet, bis alle anderen den Raum verlassen hatten, und das Blatt dann gestohlen? Ich bedaure, Dr. Chaudry: Das Stück Papier war der Köder, und Sie sind der Fisch, der angebissen hat.«
»Ach, kommen Sie«, sagte Chaudry, der plötzlich ganz locker wurde. »Wir stehen alle unter starker Anspannung. Was um alles in der Welt sollte ich denn mit dem Passwort anfangen wollen? Ich bin der Missionsdirektor – ich habe Zugang zu sämtlichen geheimen Daten.«
»Aber nicht zu den Koordinaten, die sich auf dieser Festplatte befinden. Darauf hatten Ihre Kunden es von Anfang an abgesehen – den genauen Standort.« Ford warf der Gruppe einen Blick zu, die noch immer nicht reagiert hatte. Er sah die Skepsis in ihren Blicken. »Das alles hat bei Freeman angefangen. Er wurde von einem Profikiller ermordet, einzig und allein wegen dieser Festplatte.«
»Absurd«, sagte Chaudry. »Der Mord wurde doch gründlich untersucht. Es war ein Obdachloser.«
»Wer war denn für die Ermittlungen zuständig? Das FBI – mit starker Unterstützung durch die NPF-Sicherheitsabteilung und Sie persönlich.«
»Das ist eine abscheuliche Verleumdung!«, erwiderte Chaudry zornig.
»Man kann spekulieren, wie das Ganze ablief«, fuhr Ford fort. »Sie haben das nicht des Geldes wegen getan. Die Sache war zu groß für bloßes Geld. Sie haben schon vor langer Zeit erkannt, dass Freeman eine außerirdische Maschine auf dem Mars entdeckt hatte, obwohl Freeman selbst mit seinen Schlussfolgerungen noch nicht ganz so weit gekommen war. Also haben Sie ihn gefeuert, um das Wissen für sich zu behalten. Und dann haben Sie erfahren, dass er eine als geheim eingestufte Festplatte gestohlen hatte. Irgendwie hatte er sie geknackt, kopiert und hinausgeschmuggelt. Etwas, das nicht einmal Sie geschafft haben. Was für eine großartige Gelegenheit für Ihre Kunden, an alle wichtigen Informationen zu gelangen. Und dann haben Sie festgestellt, dass Corso Freemans Arbeit fortgeführt hat. Nicht nur das, er hat darauf aufgebaut. Er hat den genauen Standort der Maschine entdeckt. Und er befand sich auf dieser Festplatte. Das haben Sie Ihren Herrchen erzählt, und die wollten sie sich holen und haben Corso und seine Mutter ermordet. Aber die Festplatte haben sie trotzdem nicht bekommen – weil ich sie zuerst gefunden habe.«
Chaudry wandte sich der verblüfften Gruppe zu. »Dieser Mann hat keine Beweise, nur eine verrückte Verschwörungstheorie ohne irgendwelche Anhaltspunkte. Kommen Sie, wir haben zu tun.«
Ford ließ den Blick über die anderen schweifen und sah Skepsis, ja Feindseligkeit in ihren Blicken.
»Freeman wurde mit einer Garotte aus Klavierdraht ermordet«, sagte Ford. »Kein obdachloser Drogensüchtiger würde auf diese Weise töten. Nein, der Mörder wollte Informationen – die Festplatte. Deshalb die Garotte. Wenn man so etwas jemandem um den Hals legt, redet er. Nur Freeman nicht.«
»Was für ein Märchen«, sagte Chaudry mit lockerem Lachen. »Warum hören Sie ihm überhaupt noch zu?«
Plötzlich sprach Marjory Leung. »Ich glaube ihm. Ich glaube, dass Dr. Chaudry schuldig ist.«
»Marjory, hast du den Verstand verloren?«
Sie wandte sich ihm zu. »Ich werde nie vergessen, was du über Pakistan, Indien und China gesagt hast. Damals, an dem Abend?« Sie errötete. »Dem Abend, den wir zusammen verbracht haben? Du hast gesagt, es sei Pakistans Bestimmung, zu einer technologischen Weltmacht aufzusteigen. Dass die USA am Ende seien, verdorben durch Reichtum, Materialismus und Bequemlichkeit, dass wir hier unser Arbeitsethos verloren hätten und unser Bildungssystem kurz vor dem Zusammenbruch stünde. Und ich werde nie vergessen, dass du gesagt hast, China und Indien seien zu korrupt und würden Pakistan am Ende unterliegen.«
»Pakistan?«, fragte Lockwood. »Aber ich dachte, Dr. Chaudry stammt aus Indien.«
Leung drehte sich um. »Er stammt aus Kaschmir. Bedeutender Unterschied.«
Chaudry verharrte in grimmigem Schweigen.
»Ich weiß, wie das läuft«, fuhr Leung fort. »Ich habe das selbst schon erlebt. Einige meiner chinesischen Kollegen lassen hier eine Andeutung und da eine Bemerkung fallen. Sie glauben, weil ich chinesischer Abstimmung bin, sollte ich ganz selbstverständlich Informationen weiterleiten, die ihrem Weltraumprogramm nützen könnten. Das macht mich rasend. Weil ich Amerikanerin bin. So etwas würde ich nie tun. Aber du – ich weiß noch genau, was du in jener Nacht gesagt hast. Ich weiß, wie du denkst. Darum geht es in Wirklichkeit: Du hast Informationen an Pakistan weitergegeben.«
»Es ging ihm nicht um Geld«, sagte Ford. »Sondern um etwas viel Größeres. Patriotismus vielleicht, oder Religion. Dies ist die bedeutendste Entdeckung aller Zeiten. Eine gewaltige Versuchung, sie in die Hände zu bekommen, sie zu besitzen. Wer weiß, welchen technologischen Vorsprung einem so eine außerirdische Maschine verschaffen könnte – und eine Waffe obendrein. Und als dann eine Festplatte mit sämtlichen Daten dazu auf wundersame Weise aus der NPF verschwand, haben Sie Ihre Chance gewittert.«
»Was für ein Unsinn«, sagte Chaudry.
»Ich wusste, dass unser Maulwurf höchstwahrscheinlich in diesem Konferenzraum saß. Also habe ich eine kleine Falle aufgestellt, mit Hilfe des Passworts. Und sehen Sie mal, wen wir gefangen haben.«
»Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Chaudry kühl.
Ford blickte in die Runde und sah sich einer Menge skeptischer Mienen gegenüber.
»Eine tolle Geschichte, das muss man schon sagen«, höhnte Chaudry. »Es gibt da nur ein kleines Problem: Sie beruht allein auf Annahmen. Es stimmt, dass ich mal etwas mit Marjory hatte, wie so ziemlich jeder bei der NPF. War wohl ein Fehler. Aber ich bin kein Spion.«
»Ach nein?«, erwiderte Leung. »Warum hat Freeman mir dann kurz vor seiner Entlassung gesagt, dass du seine gesamte Analyse der Gammastrahlungsdaten haben wolltest? Und als du sie dann hattest, hast du ihm am nächsten Tag damit gedroht, ihn zu feuern, falls er weiter daran arbeiten sollte. Warum hast du dir solche Mühe gemacht, um zu verhindern, dass sonst irgendjemand bei der NPF sich die Gammastrahlungsdaten allzu genau ansieht? Du hast Derkweiler sogar dazu gebracht, Corso zu feuern – weil er sich plötzlich für Gammastrahlen interessiert hat.«
Ein Ausdruck plötzlichen Begreifens breitete sich auf Derkweilers Gesicht aus. »Das stimmt. Und dann wollten Sie von mir Corsos gesamte Analyse der Gammastrahlungsdaten haben. Ich hatte mich schon gewundert, warum Sie sich auf einmal so dafür interessiert haben.«
Chaudry sagte: »Was für ein Unsinn. Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«
»Das ist erst eine Woche her.«
»Ich lasse mir diese lächerlichen Anschuldigungen nicht gefallen.«
Ford hielt das Stück Papier mit dem Passwort hoch. »Sie hätten mich einfach darum bitten können. Aber das haben Sie nicht. Sie haben es gestohlen. Warum?«
»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich es aus Sicherheitsgründen an mich genommen habe. Sie haben es einfach in Ihrem Jackett herumliegen lassen.«
Leung sagte: »Du hast mich an diesem Abend mehrmals gefragt: Was hat Freeman dir über die Gammastrahlung erzählt?« Sie hielt inne und zeigte dann mit dem zitternden Finger auf ihn. »Du … bist ein Mörder.«
»Pakistan?«, meldete Lockwood sich endlich zu Wort. »Aber das ist ein rückständiges Land. Warum sollten die solche Informationen haben wollen? Die haben kein Raumfahrtprogramm, keine Wissenschaft, gar nichts.«
»Da bin ich anderer Ansicht«, sagte Chaudry mit eisiger Stimme. »Wir sind das Land von Abdalkadir Chan, einem der größten Wissenschaftler aller Zeiten. Wir haben die Bombe gebaut, wir haben Langstreckenraketen, Urananreicherung. Aber vor allem haben wir Gott auf unserer Seite. Alles, was geschieht, ist Schicksal, und Vorsehung ist nur ein anderes Wort für den Plan Gottes. Die Würfel sind vor langer Zeit gefallen. Jene, die glauben, sie könnten den wahren Lauf der Dinge verändern, geben sich einem Wahn hin. Einstein hat es Blockzeit genannt. Wir nennen es Schicksal. Wer, frage ich Sie, ist mächtiger als Allah?«
Ford wandte sich einem der Offiziere vom Dienst zu, der stumm im Flur herumstand. »Ich denke, Sie sollten diesen Mann festnehmen.«
Niemand rührte sich. Der Offizier stand da wie erstarrt. Der einzige Laut im Raum war Chaudrys keuchender Atem.
Mickelson zog seine Waffe und richtete sie auf Chaudry. »Sie haben den Mann gehört. Handschellen anlegen.«
Chaudry streckte die Arme aus, an den Handgelenken gekreuzt. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln. »Bitte.«
Als die Handschellen klickten, sagte Chaudry leise: »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ihr Land ist am Ende, und das wissen Sie auch. Wir sind rein, uns gehört die Gunst Gottes. Über kurz oder lang werden wir siegen. Merken Sie sich meine Worte: Die Zukunft gehört Pakistan. Wir werden Indien besiegen, so Gott will, und eine Ära der pakistanischen Wissenschaft einläuten, von der die ganze Welt geblendet sein wird.«
Mickelson steckte seine Pistole wieder in die zerknitterte Uniform und sagte scharf zu dem Offizier: »Schaffen Sie ihn weg.« Dann wandte er sich der Gruppe zu. »Wir haben noch neunzig Minuten, bis wir dem Präsidenten eine Empfehlung geben müssen, also reißen Sie sich zusammen.«
Ford sagte: »Nun, da der Maulwurf enttarnt ist, kann ich Ihnen den genauen Standort der Maschine verraten. Sie steht nämlich gar nicht auf dem Mars.«
Die aufgewühlte Gruppe verstummte.
»Sie ist auf Deimos.«