41

Wyman Ford war bis über die Wiscasset Bridge gekommen, ehe er rechts ranfuhr und vor einem Antiquitätenladen hielt. Er schaltete auf Parken, blieb einfach sitzen und dachte nach. Er konnte nicht genau sagen, was, aber irgendetwas stimmte da nicht. Es hatte etwas mit dem seltsamen Verhalten des Mädchens im Restaurant und mit dieser verrückten Geschichte in der Lokalzeitung zu tun. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Beifahrersitz lag. Das Mädchen in dem Restaurant war eindeutig das Mädchen aus dem Zeitungsbericht, das nach einem Piratenschatz gesucht hatte. Als er sie nach dem Meteoriten gefragt hatte, war sie plötzlich nervös geworden. Warum? Und wie viele Kleinstadt-Kellnerinnen kannten den Unterschied zwischen den Begriffen Meteor und Meteorit?

Er wendete und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Zehn Minuten später betrat er erneut das Restaurant. Die Kellnerin war noch da und eilte geschäftig hin und her, und er beobachtete sie vom Pult des Oberkellners an der Tür. Sie war ganz sicher die junge Frau aus dem Zeitungsbericht – sie war sogar die einzige Afroamerikanerin, die er während seiner gesamten Reise durch Maine gesehen hatte. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das sich um ihr Gesicht ringelte, blitzende schwarze Augen, und sie war schlank und groß mit sportlicher Figur. Sie lief mit einem sardonischen, oft ironischen Ausdruck auf dem Gesicht herum und trug überhaupt kein Make-up. Eine umwerfend schöne junge Frau. Einundzwanzig, schätzte er.

Sobald er weiter in den Raum hineinging, sah sie ihn, und ein leicht abweisender Ausdruck trat in ihr Gesicht. Er nickte ihr lächelnd zu.

»Haben Sie etwas vergessen?«, fragte sie.

»Nein.«

Ihr Gesicht erstarrte. »Was wollen Sie?«

»Entschuldigung, ich will nicht aufdringlich sein, aber sind Sie nicht die junge Frau, die in diesen Überfall verwickelt war, von dem ich in der Zeitung gelesen habe?«

Jetzt wurde ihre Miene geradezu frostig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn Sie nicht aufdringlich sein wollen, dann lassen Sie es doch.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie. Nur einen Augenblick. Es ist wichtig.«

Sie wartete.

»Sie haben mich korrigiert, weil ich Meteor statt Meteorit gesagt habe.«

»Und?«

»Und warum kennen Sie den Unterschied?«

Sie zuckte mit den Schultern, verschränkte erneut die Arme und schaute zu ihrem Servicebereich hinüber.

Ford wusste nicht einmal genau, worauf er hier hinauswollte, was er zu erfahren hoffte. »Es muss doch aufregend gewesen sein, als dieser Meteorit über Sie weggeflogen ist.«

»Hören Sie, ich muss wieder an die Arbeit.«

Ford sah ihr fest ins Gesicht. Sie war eigenartig nervös. »Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht gesehen haben? Nicht einmal den Schweif? Er stand über eine halbe Stunde lang am Himmel.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich gar nichts davon gesehen habe.«

Ihr Blick wirkte sehr angespannt. Warum sollte sie lügen? Er machte weiter, obwohl er immer noch unsicher war, wo das hinführen sollte. Offensichtlich war sie keine geübte Lügnerin, denn ihre Miene verriet Verwirrung und Schrecken. »Wo waren Sie denn, als er runtergegangen ist?«

»Ich habe geschlafen.«

»Um Viertel vor zehn, eine junge Frau wie Sie?«

Sie sah ihm nun ins Gesicht und verschränkte energisch die Arme vor der Brust. »Sie interessieren sich wirklich sehr für diesen Meteoriten, nicht wahr?«

»Das könnte man so sagen.«

Sie musterte ihn mit schmalen Augen. »Sie suchen danach?«

»Ja, so ist es.«

Sie schien darüber nachzudenken, dann lächelte sie. »Sie wollen ihn wirklich finden?«

»Daran wäre ich sehr interessiert, ja.«

Sie trat dicht an ihn heran und sagte leise: »In einer halben Stunde habe ich Feierabend. Wir treffen uns im Café in der Buchhandlung ein paar Häuser weiter.«

Eine halbe Stunde später kam die junge Frau. Sie hatte ihre Kellnerinnenkluft gegen eine Jeans und eine Karobluse getauscht.

Ford stand auf und bedeutete ihr, sich zu setzen.

»Kaffee?«

»Dreifacher Espresso, zweimal Sahne und vier Zucker.«

Ford bestellte und kam mit Kaffee für sie beide zum Tisch zurück. Sie sah ihn direkt an, und ihre braunen Augen wirkten beunruhigend wach. »Sie fangen an. Sagen Sie mir, wer Sie sind und warum Sie nach dem Meteoriten suchen.«

»Ich bin Astrogeologe und –«

Sie schnaubte sarkastisch. »Lassen Sie den Scheiß.«

»Warum glauben Sie mir nicht?«

»Ein Astrogeologe hätte die Begriffe Meteor und Meteorit niemals durcheinandergebracht. Ein echter Astrogeologe hätte außerdem den korrekten wissenschaftlichen Begriff gebraucht, nämlich Meteoroid

Ford starrte sie an. Er war völlig verblüfft darüber, so leicht durchschaut worden zu sein – und das von einer Kellnerin aus einem Fischerdorf. Rasch überspielte er seine Verwirrung mit einem Lächeln. »Sie sind ein kluges Mädchen.«

Sie sah ihm weiterhin fest in die Augen, die Arme vor sich auf dem Tisch verschränkt.

Ford streckte die Hand aus. »Fangen wir mit einer ordentlichen Vorstellung an. Ich bin Wyman Ford.«

»Abbey Straw.« Die kühle Hand glitt in seine, und er schüttelte sie leicht.

»Ich bin so etwas wie ein Privatdetektiv. Dieser Meteoroid interessiert mich. Ich versuche, ihn aufzuspüren.«

»Warum?«

Er dachte daran, erneut zu lügen, entschied sich dann aber für eine Halbwahrheit. »Ich arbeite für die Regierung.«

»Tatsächlich?« Sie beugte sich vor. »Und warum interessiert sich die Regierung dafür?«

»Es gab gewisse … Anomalien bei diesem Einschlag, die ihn interessant machen. Ich muss dazusagen, dass ich nicht in offizieller Funktion hier bin – man könnte mich eher als freien Mitarbeiter bezeichnen.«

Abbey blickte nachdenklich drein, und dann sagte sie langsam: »Ich weiß eine Menge über diesen Meteoroiden. Wie viel ist Ihnen das wert?«

»Wie bitte?« Ford war perplex. »Sie wollen, dass ich für die Information bezahle?«

Abbey errötete. »Ich brauche Geld.«

»Was für Informationen haben Sie denn?«

»Ich weiß, wo er gelandet ist. Ich habe den Krater gesehen.«

Ford wollte seinen Ohren kaum trauen. Log sie vielleicht? »Möchten Sie mir mehr darüber erzählen?«

»Wie gesagt, ich brauche Geld.«

»Wie viel?«

Kurzes Zögern. »Einhunderttausend Dollar.«

Ford starrte sie an, dann brach er in Lachen aus. »Sind Sie verrückt?«

Sie machte ein langes Gesicht. »Ich verlange das nur, weil … na ja … so viel hat es mich gekostet, den Krater zu finden.«

»Für hunderttausend Dollar könnte ich diesen Krater fünfmal finden.«

»Glauben Sie mir, Mr. Ford, Sie könnten diese Bucht hundert Jahre lang absuchen, ohne ihn zu finden – wenn Sie nicht genau wissen, wo Sie suchen müssen. Er ist klein und aus der Luft nicht zu erkennen.«

Ford lehnte sich zurück und nippte an seinem Kaffee. »Vielleicht erzählen Sie mir wenigstens, wie Sie ihn entdeckt haben und warum Sie das hunderttausend Dollar gekostet hat.«

Das Mädchen trank einen großen Schluck Kaffee. »Sicher. Am vierzehnten April hatte ich mir gerade ein Teleskop gekauft, und ich habe damit eine Langzeitaufnahme des Orion gemacht. Weitwinkel. Der Meteorit ist durchgeflogen, und ich hatte den Schweif auf dem Film. Oder vielmehr auf dem Digitalbild.«

»Sie haben ihn fotografiert?« Ford konnte sein Glück kaum fassen.

»Dann hatte ich eine Idee – ich habe mir die Daten der GoMOOS-Wetterboje im Internet angesehen. Keine Wellen. Also dachte ich mir, dass er auf einer Insel eingeschlagen sein muss, nicht im Wasser. Vom Winkel des Schweifs auf dem Foto konnte ich eine Linie ableiten, auf der er aufgetroffen sein musste. Ich habe mir das Hummerboot meines Vaters geborgt und mich zusammen mit einer Freundin auf die Suche danach gemacht.«

»Warum interessieren Sie sich so für Meteoriten?«

»Meteoriten sind eine Menge Geld wert.«

»Sie haben wirklich Unternehmergeist.«

»Zur Tarnung haben wir die Geschichte in die Welt gesetzt, wir würden nach einem Piratenschatz suchen.«

»Allmählich erkenne ich die wahre Geschichte«, sagte Ford.

»Ja. Der Methsüchtige, der uns verfolgt hat, war so hirnverbrannt, dass er die Geschichte geglaubt hat. Er hat uns angegriffen und das Hummerboot meines Vaters versenkt. Die Versicherung wollte nicht dafür aufkommen.«

»Das tut mir leid.«

»Mein Vater muss ein Boot abzahlen, das es gar nicht mehr gibt. Wir verlieren vielleicht unser Haus. Dafür brauche ich Geld, verstehen Sie – um ihm ein neues Boot zu kaufen.«

Tränen traten ihr in die Augen. Ford tat so, als merkte er es nicht. »Sie haben also den Krater gefunden«, sagte er locker. »Wie sah der Meteorit denn aus?«

»Habe ich gesagt, ich hätte einen Meteoriten gefunden?«

Fords Herzschlag beschleunigte sich. Er wusste instinktiv, dass das Mädchen die Wahrheit sagte. »Sie haben in dem Krater keinen Meteoriten gefunden?«

»Das gehört zu den Informationen, die Sie etwas kosten werden.«

Ford sah ihr lange fest in die Augen. Schließlich sagte er: »Darf ich fragen, was eine junge Frau mit Ihrem Verstand als Kellnerin in Damariscotta, Maine, zu suchen hat?«

»Ich habe das Studium geschmissen.«

»Welche Uni?«

»Princeton.«

»Princeton? Ist das nicht irgendwo in Jersey?«

»Sehr witzig.«

»Was war Ihr Hauptfach?«

»Offiziell habe ich Medizin studiert, aber ich habe eine Menge Physik- und Astronomiekurse belegt. Zu viele. Ich bin in organischer Chemie durchgefallen und habe mein Teilstipendium verloren.«

Ford dachte nach. Ach, zum Teufel damit. »Glücklicherweise sind mir kürzlich hunderttausend Dollar in den Schoß gefallen, die ich eigentlich gar nicht brauche. Sie gehören Ihnen – für ein neues Boot. Aber ich habe Bedingungen. Sie arbeiten ab jetzt für mich. Sie werden absolutes Stillschweigen wahren, Sie erzählen niemandem irgendetwas, nicht einmal Ihrer Freundin. Und das Erste, was wir mit diesem neuen Boot machen werden, ist, dem Krater einen Besuch abzustatten. Einverstanden?«

Die junge Frau überraschte Ford mit der schieren Wattzahl ihres Lächelns. Sie streckte ihm die Hand hin. »Einverstanden.«

Der Krater
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