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Als Abbey sich und ihr Boot identifiziert hatte und den Sendeknopf losließ, meldete sich sofort eine heisere Stimme. »Abbey? Da bist du ja!«
Das war die Stimme des Killers. Er hatte es zurück auf sein Boot geschafft und offenbar den Notrufkanal abgehört.
»Sie Drecksack, Sie sind geliefert«, begann sie.
»Na, na! Bitte nicht solche Ausdrücke auf einer offiziellen, behördlichen Frequenz, noch dazu, wenn dein Vater dich hören kann.«
»Mein … was?«
»Dein Vater. Er ist hier bei mir auf dem Boot, und wir amüsieren uns prächtig miteinander.«
Abbey war einen Moment lang sprachlos.
Der Wind rüttelte an der Steuerkabine, und ein plötzlicher, harter Regenschauer prasselte gegen die Fenster. Ein Blitz zerriss die Luft über ihnen, gefolgt von einem Donnerknall.
»Ich wiederhole: Dein Vater, Mr. George Straw, ist hier bei mir an Bord«, sagte er unbeeindruckt. »Schalte auf Kanal zweiundsiebzig um, dann unterhalten wir uns in Ruhe.« Kanal 72, das wusste Abbey, war eine gewöhnliche, zivile Frequenz, die kein Mensch je benutzte.
Ehe sie reagieren konnte, fauchte das Funkgerät. »Hier Küstenwache Rockland, rufe die –«
Abbey schnitt die Stimme des Funkers ab und stellte auf 72 um.
»Das ist doch viel besser«, sagte die Stimme. »Willst du deinem Dad hallo sagen?«
Abbey war schlecht. Das musste eine Lüge sein. Sie hörte ein gedämpftes Geräusch, einen Fluch, einen dumpfen Schlag. »Du sollst mit ihr reden.« Ein weiterer Schlag.
»Aufhören!«, kreischte Abbey.
»Abbey«, vernahm sie die verzerrte Stimme ihres Vaters. »Bleib weg. Lauf den nächsten Hafen an und geh direkt zur Polizei …«
Wieder ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Stöhnen.
»Hör auf, du Scheißkerl!«
Die Stimme des Killers meldete sich wieder. »Stell wieder Kanal sechzehn ein und pfeif die Küstenwache zurück. Sofort. Sonst ist er Fischfutter.«
Schluchzend wählte Abbey Kanal 16 und erzählte der Küstenwache, es sei falscher Alarm gewesen. Der Funker riet ihr, sofort den nächsten Hafen anzulaufen, es käme ein schwerer Sturm. Sie meldete sich ab und stellte wieder Kanal 72 ein. Sie warf Jackie einen Blick zu, doch die starrte nur entsetzt zurück. Das Boot fuhr bebend durch einen Brecher, das Steuer wurde herumgerissen, und die Marea II gierte.
Jackie packte unvermittelt das Steuerrad, gab etwas mehr Gas, das Boot gierte zurück und begegnete der nächsten Welle gerade noch mit dem Steuerbordheck voraus. »Ich übernehme das Ruder. Kümmer du dich um ihn.«
Abbey nickte stumm. Der Wind wurde von Sekunde zu Sekunde heftiger und peitschte die schwellende Meeresoberfläche zu weißem Schaum auf.
Auf Kanal 72 lachte der Mörder leise und sagte dann: »Hallo? Jemand zu Hause?«
»Bitte tun Sie ihm …«
Ein Klatschen, ein Stöhnen. »Deine Position?«
»Penobscot Bay.«
»Hör gut zu, jetzt kommt der Plan. Gib mir deine GPS-Koordinaten. Ich komme zu dir und gebe dir deinen Vater zurück.«
»Was wollen Sie?«
»Nur das Versprechen, dass ihr all das vergessen werdet. Okay?«
»Abbey!«, hörte sie einen schwachen Ruf. »Hör nicht auf –«
Ein dumpfer Schlag.
»Nein, bitte! Tun Sie ihm nichts!«
»Abbey«, sagte die ruhige Stimme des Killers. »Denk daran, dass wir auf einem offenen Kanal sprechen. Verstanden? Ich komme zu euch. Es wird keinerlei Schwierigkeiten geben, wenn du meine Anweisungen befolgst.«
Abbey versuchte zu atmen, doch ihre Kehle verkrampfte sich. Gleich darauf sagte sie: »Verstehe.«
»Gut. Also, deine GPS-Koordinaten?«
Jackie streckte die Hand nach dem Mikrofon aus und löste »Senden«, so dass er sie nicht belauschen konnte. »Abbey, du weißt doch, dass er lügt. Er wird uns umbringen.«
»Das weiß ich«, erwiderte Abbey heftig. »Lass mich nachdenken.«
Noch während sie mit dem Mann gesprochen hatte, war der Seegang höher geworden. Die Marea II wurde trotz voller Motorkraft von jeder Welle zur Seite gedrückt.
»Abbey? Bist du noch da?«
Abbey übernahm wieder das Mikrofon. »Ich hab’s gleich!« Sie wandte sich Jackie zu. »Was tun wir jetzt?«
»Ich … ich weiß auch nicht.«
»Hallo? Vielleicht braucht dein Vater noch ein paar Schläge, damit du schneller nachsiehst?«
»Ich bin südwestlich von Devil’s Limb«, sagte Abbey.
»Devil’s Limb? Was willst du denn so weit draußen?«
»Wir wollen nach Rockland«, sagte sie, wobei sie immer noch hektisch überlegte.
»Blödsinn! Wenn du wirklich da draußen bist, nenn mir die Koordinaten!«
Abbey drückte hastig die Tasten des Kartenplotters, setzte einen Wegpunkt neben Devil’s Limb und las ihm die falschen Koordinaten vor.
»Himmel«, sagte der Killer gleich darauf. »Da fahre ich nicht raus. Komm du hierher zurück.«
Abbey schluchzte. »Wir können nicht kommen! Wir haben fast keinen Treibstoff mehr!«
»Verlogenes Miststück! Komm sofort hierher, oder dein Dad füttert die Fische!«
»Nein, bitte«, schluchzte Abbey. »Sie haben mit Ihrer Schießerei eine Dieselleitung getroffen. Wir haben kaum noch Treibstoff!«
»Das glaube ich dir nicht!«
»Wir haben das Leck eben erst abgeklemmt. Ich sage die Wahrheit!«
Klatsch. »Hast du das gehört? Das war dafür, dass du schon wieder gelogen hast!«
Abbey schluckte. Sie musste das Risiko eingehen. »Bitte glauben Sie mir doch!«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Was denken Sie, warum ich die Küstenwache rufen wollte?«
»Scheiße, ich fahre bei diesem Seegang nicht aufs offene Meer raus.«
Ein Windstoß mit einer Ladung Regen klatschte gegen das Boot, Wasser spritzte durch die kaputtgeschossenen Fenster herein. Die nächste mächtige Welle schubste das Boot seitwärts, und Abbey musste sich an den Deckengriffen festhalten, um nicht hinzufallen.
»Er wird uns umbringen!«, zischte Jackie. »Was zum Teufel machst du denn?«
»Ich … tue so, als wollte ich mich ergeben.«
»Und dann?«
»Weiß ich nicht.«
»Hörst du mich?«, rief die Stimme. »Sieh zu, dass du hierher zurückkommst, oder ich verfüttere ihn.«
Sie drückte auf Senden. »Hören Sie, bitte, ich weiß nicht, wie ich Sie dazu bringen könnte, mir zu glauben, aber ich schwöre Ihnen, ich sage die Wahrheit. Sie haben dieses Boot halb in Stücke geschossen, und eine Kugel hat eine Treibstoffleitung leckgeschlagen. Ich habe kaum genug übrig, um zu manövrieren. Bringen Sie mir nur meinen Vater, und ich tue, was immer Sie wollen. Sie haben gewonnen. Wir ergeben uns. Bitte glauben Sie mir.«
»Ich fahre da nicht raus!«, brüllte der Mann.
»Sie müssen hier durch, um nach Rockland Harbor zu kommen.«
»Warum zum Teufel sollte ich nach Rockland wollen?«
»In diesem Sturm schaffen Sie es doch nirgendwo anders hin! Wenn Sie glauben, Sie könnten nach Owls Head fahren, werden Sie auf dem Nubble zerschellen.«
Sie hörte ihn ausdauernd fluchen. »Du sagst besser wirklich die Wahrheit, denn dein Vater ist mit Handschellen an die Reling gefesselt. Wenn mein Boot sinkt, geht er mit unter.«
»Ich verspreche Ihnen, ich lüge nicht, aber bitte kommen Sie her, und bringen Sie mir meinen Vater.«
»Halte Kanal zweiundsiebzig offen und warte auf meine Anweisungen, over.« Mit lautem Rauschen brach die Funkverbindung ab.
»Was machen wir nur?«, schrie Jackie. »Hast du einen Plan, was wir tun sollen, nachdem wir uns ergeben haben, oder was?«
»Bring uns nach Devil’s Limb.«
»In so einem Sturm? Das ist scheißweit draußen!«
»Genau.«
»Hast du also einen Plan?«
»Bis wir da sind, habe ich einen.«
Jackie schüttelte den Kopf, gab Gas und ließ das Boot über die aufgewühlte See schaukeln, mit Kurs auf Devil’s Limb. »Dann überleg lieber schnell.«